Briefwechsel Günther Wagner – Rudolf Steiner November/ Dezember 1903

Günther Wagner schrieb am 14. Nov. 1903 in einem Brief an Steiner:

»... Es war mir sehr erfreulich, Sie bei der Jahresversammlung haben kennenlernen zu können, und ich hoffe, daß wir noch lange am gemeinsamen Werke tätig sein und uns gegenseitig unterstützen werden.

Lieb wäre es mir, wenn Sie mir eine spezielle Auskunft geben möchten: Die Andeutung über ein Rätsel, das jede [Wurzel-]Rasse zu lösen habe, war mir vollständig neu; in der ›Secret Doctrine‹ habe ich nichts darüber gefunden.

Würden Sie mir die vier Rätsel nennen können, die die vier ersten [Wurzel-]Rassen (anscheinend doch) gelöst haben? Auch H.P.B.'s Andeutung darüber würde ich gern lesen, vielleicht geben Sie mir die genaue Stelle an.«

Steiner antwortete am 24. Dezember 1903:

»Seite 73 der (deutschen Ausgabe) ›Geheimlehre‹ steht mit Bezug auf Strophe I, 6 (Dzyan): ›Von den sieben Wahrheiten oder Offenbarungen sind uns bloß vier ausgehändigt, da wir noch in der vierten Runde sind.‹ – Ich habe nun – als Sie in Berlin waren – im Sinne einer gewissen okkulten Tradition darauf hingedeutet, daß die vierte der oben gemeinten sieben Wahrheiten zurückgeht auf sieben esoterische Wurzelwahrheiten, und daß von diesen sieben Teilwahrheiten (die vierte als das Ganze betrachtet) jeder [Wurzel-]Rasse eine – in der Regel – ausgeliefert wird. Die fünfte wird ganz offenbar werden, wenn die fünfte [d.h. die nachatlantische Wurzel-]Rasse ihr Entwickelungsziel erreicht haben wird. Nun möchte ich Ihrer Frage entsprechen, so gut ich es kann. Gegenwärtig liegt die Sache so, daß die vier ersten Teilwahrheiten Meditationssätze für die Aspiranten der Mysterien bilden und daß nichts weiter gegeben werden kann als diese (symbolischen) Meditationssätze. Aus ihnen geht dann für den Meditierenden auf okkultem Wege manches Höhere hervor. Ich setze also die vier Meditationssätze – in deutsche Sprache aus der symbolischen Zeichensprache übertragen – hierher:

I. Sinne nach: wie der Punkt zur Sphäre wird und doch er selbst bleibt. Hast du erfaßt, wie die unendliche Sphäre doch nur Punkt ist, dann komme wieder, denn dann wird dir Unendliches in Endliches scheinen.

II. Sinne nach: wie das Samenkorn zur Ähre wird, und dann komme wieder, denn dann hast du erfaßt, wie das Lebendige in der Zahl lebt.

III. Sinne nach: wie das Licht sich nach der Dunkelheit, die Hitze nach der Kälte, wie das Männliche nach dem Weiblichen sich sehnt, dann komme wieder, denn dann hast du erfaßt, welches Antlitz dir der große Drache an der Schwelle weisen wird.

IV. Sinne nach: wie man in fremdem Hause die Gastfreundschaft genießt, dann komme wieder, denn dann hast du erfaßt, was dem bevorsteht, der die Sonne um Mitternacht sieht.

Nun ergibt sich, wenn die Meditation fruchtbar war, aus den vier Geheimnissen das fünfte. Lassen Sie mich vorläufig nur so viel sagen, daß die Theosophie – die Teil-Theosophie, die etwa in der ›Geheimlehre‹ und ihrer Esoterik liegt – eine Summe von Teilwahrheiten des fünften ist. Eine Andeutung, wie man darüber hinauskommt, finden Sie in dem von Sinnett angeführten Briefe des Meisters K.H., [Kuthumi], der mit folgenden Worten beginnt: ›Ich habe jedes Wort zu lesen ...‹. In der ersten (deutschen) Ausgabe der ›Okkulten Welt‹ steht er auf Seite 126 und 127).

Ich kann Ihnen nur die Versicherung geben, in dem Satze K.H.'s (Seite 127) ›Wenn die Wissenschaft gelernt haben wird, wie Eindrücke von Blättern ursprünglich auf Steinen zu Stande kommen ...‹, in diesem Satze liegt fast das ganze fünfte Geheimnis auf okkulte Weise verborgen.*

Das ist alles, was ich zunächst über Ihre Fragen zu sagen vermag.

Weiteres vielleicht auf weitere Fragen.

Die vier obigen Sätze sind das, was man lebendige Sätze nennt, d.h. sie keimen während der Meditation und es wachsen aus ihnen Sprossen der Erkenntnis ...«

GA 264, S. 46-49.

* In der deutschen Übersetzung der »Mahatma-Briefe« wird dieser Satz wie folgt wiedergegeben: »Wenn die Wissenschaft mehr über das Geheimnis des litophil (oder Lithobiblion) gelernt haben wird und darüber, wie der Abdruck von Blättern auf Steinen ursprünglich zustande kam, werde ich ihnen den Vorgang besser verständlich machen können.« Die Mahatma-Briefe, Band I, S. 116-117, Adyar-Verlag Graz 1977.