Bruderschaft und Daseinskampf | November 1905

Rudolf Steiner, öffentlicher Vortrag, Berlin, 23. November 1905. Lückenhafte Nachschrift, vom Vortragenden nicht durchgesehen (GA 54).

Es ist heute unsere Aufgabe, über zwei Seeleninhalte zu sprechen, von denen der eine ein großes, die Menschheit, seit sie wirklich fühlt, durchdringendes Ideal darstellt, Bruderschaft, und der andere etwas, was uns insbesondere heute im Leben auf Schritt und Tritt begegnet, der Daseinskampf: Bruderschaft und Daseinskampf. Diejenigen von Ihnen, welche sich nur ein wenig mit den Zielen der geisteswissenschaftlichen Bewegung befasst haben, kennen ja unseren ersten Grundsatz, den Kern einer auf allgemeiner Menschenliebe gegründeten Bruderschaft zu bilden, ohne Unterschied von Rasse, Geschlecht, Beruf, Bekenntnis und so weiter. Damit hat die Theosophische Gesellschaft selbst dieses Prinzip einer allgemeinen Bruderschaft an die Spitze ihrer Bewegung gestellt und zum wichtigsten ihrer Ideale gemacht. Angezeigt hat sie dadurch, dass sie von denjenigen Kulturbestrebungen, die uns heute vor allen andern Dingen not tun, diesen großen ethischen Zug nach der Bruderschaft hin als innig zusammenhängend ansieht mit dem, was überhaupt das Ziel der Menschheitsentwickelung ist.

Der geisteswissenschaftlich Strebende ist überzeugt, und nicht nur überzeugt, sondern sich ganz klar darüber, dass die tiefe Erkenntnis, die Erkenntnis der geistigen Welt, wenn sie wahrhaft und wirklich den Menschen ergreift, zur Bruderschaft führen muss, dass die edelste Frucht tiefer, innerster Erkenntnis eben diese Bruderschaft ist. Damit allerdings scheint die geisteswissenschaftliche Weltanschauung manchem zu widersprechen, was in den letzten Zeiten an die Menschheit herangetreten ist. Es wird gerade in gewissen Kreisen immer wieder und wieder auf die fortschrittlich wirkende Kraft des Kampfes hingewiesen, und wie oft können wir es heute noch hören, dass des Menschen Kräfte wachsen am Widerstand, dass der Mensch stark wird an Willen und intellektueller Initiative dadurch, dass er seine Kräfte an dem Gegner messen muss. Eine Weltanschauung, die aus geistvollen Grundlagen hervorgegangen ist, die Weltanschauung Friedrich Nietzsches, hat unter manchen andern kampfbegeisterten Sätzen auch diesen: Ich liebe den Kritiker, ich liebe den großen Kritiker mehr als den kleinen. - Das können wir in den verschiedensten Abänderungen gerade bei Nietzsche als etwas, was ganz in seine Lebensanschauungen hineingehört, immer wieder und wieder finden. Mit gewissen wirtschaftlichen Anschauungen, die seit langem herrschen, hängt es zusammen, dass man in dem Kampfe aller gegen alle in der allgemeinen Konkurrenz einen mächtigen Hebel des Fortschritts sieht. Wie oft wurde gesagt, dass dadurch die Menschheit am besten vorwärtsschreiten könne, dass der einzelne sich selbst, so gut es geht, nützt und sich zur Geltung bringt. Das Wort Individualismus ist geradezu zu einem Schlagwort geworden, freilich mehr auf dem Gebiete des äußeren materiellen Lebens, aber auch nicht ohne Gültigkeit auf dem Gebiete inneren geistigen Lebens.

Dass der Mensch seinen Mitmenschen am meisten nütze, wenn er so viel wie möglich wirtschaftlich aus dem Leben herausschlägt, denn dadurch, dass er wirtschaftlich stark wird, kann er auch der Allgemeinheit mehr nützen: das ist das Glaubensbekenntnis vieler Nationalökonomen und Soziologen. Auf der andern Seite hören wir, wie immer wieder betont wird, dass der Mensch nicht aufgehen soll in einer Schablone, dass er die in ihm liegenden Kräfte allseitig entwickeln, dass er sich rückhaltlos ausleben soll, dass er zur Entfaltung bringen soll, was in seinem Inneren liegt und dass er dadurch den Mitmenschen am meisten nützen könne. Es gibt viele unter unseren Volksgenossen, die geradezu ängstlich sind in der Verfolgung dieses Prinzips, die nicht genug darin tun können, sich auszuleben. Die geisteswissenschaftliche Weltanschauung verkennt nicht die Notwendigkeit des Kampfes ums Dasein, gerade in unserer Zeit, aber gleichzeitig ist sich diese Weltanschauung auch klar darüber, dass heute, wo dieser Kampf ums Dasein die mächtigsten Wogen schlägt, das Prinzip der Bruderschaft in seiner tiefen Bedeutung dem Verständnis wieder nähergebracht werden muss.

Die wichtigste Frage wird diese sein: Ist es denn richtig, was von so vielen geglaubt wird, dass des Menschen Kräfte vorzüglich am Widerstand wachsen, dass es vor allen Dingen der Kampf ist, den der Mensch zu führen hat, welcher ihn groß und stark gemacht hat? Ich habe in dem Vortrage über die Friedensidee, den ich vor Ihnen halten durfte, bereits darauf hingewiesen, dass dieses Prinzip des Kampfes ums Dasein im Menschenleben heute eine starke Nahrung dadurch erhält, dass die Naturwissenschaft es zu einem allgemeinen natürlichen Weltprinzip gemacht hat, dass sie, namentlich im Westen, eine Zeitlang geglaubt hat, diejenigen Wesen in der Welt seien am zweckdienlichsten gestaltet, welche ihren Gegner aus dem Felde geschlagen haben und in diesem Daseinskampfe übriggeblieben sind.

Der Naturforscher Huxley sagt: Wenn wir das Leben draußen ansehen, erscheint es uns wie ein Gladiatorenkampf, der Stärkste bleibt Sieger, die andern gehen zugrunde. - Wenn man den Naturforschern glauben würde, müsste man annehmen, dass alle die Wesen, welche heute die Welt bevölkern, in der Lage gewesen sind, die andern, die noch früher da waren, aus dem Felde zu schlagen. Es gibt auch eine Soziologenschule, welche aus diesem Prinzip des Kampfes ums Dasein heraus geradezu eine Entwicklungslehre für die Menschheit hat machen wollen. In einem Buche, betitelt «Von Darwin bis Nietzsche», hat der Dekan Alexander Tille zu zeigen versucht, dass das Glück der Menschheit für die Zukunft davon abhängt, dass man rückhaltlos diesen Kampf ums Dasein auf die Fahne der Entwickelung der Menschheit schreibe, dass man dafür sorge, dass das Unfähige zugrunde gehe, dass man dagegen das Starke und Kräftige im Daseinskampfe züchten und fördern müsse. Der Schwache solle zugrunde gehen. Wir brauchten eine solche Gesellschaftsordnung, die den Schwachen unterdrücke, weil er schädlich sei. - Ich frage Sie: Wer ist der Starke, derjenige der eine ideale Geisteskraft, aber einen schwächlichen Körper hat, oder der andere, welcher eine weniger hohe Geisteskraft mit einem robusten Körper besitzt? - Mit allgemeinen Regeln ist hier wenig getan, wie Sie sehen. Schwer ist es, zu entscheiden, wer eigentlich übrigbleiben sollte im Daseinskampfe. Wenn es sich um praktische Maßnahmen handeln würde, so müsste zuerst diese Frage entschieden werden. Wir fragen uns nun, was zeigt sich uns, wenn wir das menschliche Leben betrachten? Hat in der Entwicklung der Menschheit das Prinzip der Bruderschaft oder das Prinzip des Daseinskampfes Großes geleistet, oder haben sie beide etwas zu der Entwickelung der Menschheit beigetragen?

Nur mit flüchtigen Worten möchte ich nochmals darauf aufmerksam machen, was ich schon in dem Vortrag über die Friedensidee gesagt habe, dass selbst die Naturwissenschaft von heute nicht mehr auf dem Boden steht, auf dem sie noch vor einem Jahrzehnt gestanden hat. Ich habe schon auf den grundlegenden Vortrag des russischen Forschers Keßler vom Jahre 1880 hingewiesen, in dem gezeigt worden ist, dass die entwicklungsfähigen und eigentlich fortschreitenden Tierarten nicht diejenigen sind, welche den größten Kampf führen, sondern welche sich gegenseitig beistehen, einander Hilfe leisten. Damit sollte nicht behauptet werden, dass Kampf und Krieg in der Tierwelt nicht bestehen. Gewiss sind sie vorhanden, aber eine andere Frage ist es, was die Entwickelung mehr fördert, der Krieg oder die gegenseitige Hilfeleistung? Es wurde ferner die Frage aufgeworfen: Überleben diejenigen Arten, deren Individuen fortwährend miteinander kämpfen, oder diejenigen, welche sich gegenseitig Hilfe leisten? Hier ist durch die angedeutete Forschung schon nachgewiesen, dass nicht der Kampf, sondern die Hilfeleistung das eigentlich Fortschrittfördernde ist. Ich habe schon auf das Buch des Fürsten Kropotkin «Gegenseitige Hilfe im Tierreich und Menschenleben» hingewiesen. Zu dem, was heute ausgeführt wird zu den Fragen, die uns hier beschäftigen, finden Sie in dem Buche manchen schönen Beitrag.

Was hat also Bruderschaft in der Menschheitsentwickelung geleistet? Wir brauchen uns nur die eigenen Vorfahren auf demselben Boden, auf dem wir heute leben, einmal anzuschauen. Man kann leicht die Vorstellung bekommen, als ob Jagd und Krieg das eigentlich Fördernde gewesen wäre und hauptsächlich den Charakter jener Menschen bedingt habe. Wer aber tiefer auf die Geschichte eingeht, wird finden, dass dies nicht richtig ist, dass gerade diejenigen, auch unter den germanischen Stämmen, am besten gediehen sind, welche das Prinzip der Bruderschaft in außerordentlicher Weise ausgebildet hatten. Wir finden dieses Prinzip der Bruderschaft vor allen Dingen in der Art und Weise ausgebildet, wie in den Zeiten vor und nach der Völkerwanderung der Besitz geregelt war. In ausgedehntestem Maße gab es da einen Gemeinbesitz an Grund und Boden. Die Dorfmark, in welcher die Menschen beisammen wohnten, hatte einen gemeinsamen Grundbesitz, und mit Ausnahme des wenigen, was unmittelbar zum Hausgebrauch gehört, mit Ausnahme der Werkzeuge, vielleicht auch eines Gartens, war alles, was Besitz war, gemeinschaftlich. Von Zeit zu Zeit wurde der Grund und Boden von neuem wieder unter den Menschen aufgeteilt, und es zeigte sich, dass diese Stämme dadurch stark geworden waren, dass sie die Bruderschaft in bezug auf materielle Güter bis zu einer außerordentlichen Höhe getrieben hatten.

Wenn wir einige Jahrhunderte weitergehen, finden wir, dass dieses Prinzip uns in außerordentlich fruchtbringender Weise entgegentritt. Das Prinzip der Bruderschaft, wie es ausgeprägt ist in der alten Dorfmark, in den alten Zuständen, wo die Menschen ihre Freiheit im brüderlichen Zusammenleben fanden, drückte sich besonders charakteristisch darin aus, dass man so weit ging, das, was der einzelne besaß, bei seinem Tode auf seinem Grunde zu verbrennen, weil man nichts, was einem einzelnen als Einzelbesitz gehörte, nach dem Tode desselben besitzen wollte. Als mit diesem Prinzip gebrochen worden war infolge verschiedener Verhältnisse, namentlich weil einzelne sich Großgrundbesitz angeeignet hatten und die Menschen in der umliegenden Gegend dadurch zur Leibeigenschaft und zu Frondiensten gezwungen waren, da machte sich das Prinzip der Bruderschaft in einer andern, leuchtenden Weise geltend. Die, welche bedrückt waren von den Herren, den Besitzenden, wollten sich von ihrem Druck freimachen. So sehen wir in der Mitte des Mittelalters eine große, gewaltige Freiheitsbewegung durch ganz Europa gehen. Diese Freiheitsbewegung stand im Zeichen der allgemeinen Bruderschaft, aus der eine allgemeine Kultur hervorblühte. Wir sind in der sogenannten Städtekultur in der Mitte des Mittelalters. Diejenigen Menschen, welche es nicht aushalten konnten unter der Fronarbeit auf den Gütern, entflohen ihren Herren und suchten ihre Freiheit in den erweiterten Städten. Da kamen die Menschen von oben herunter, von Schottland, Frankreich und Rußland, von allen Seiten her kamen sie und brachten die freien Städte zusammen. Dadurch entwickelte sich das Prinzip der Bruderschaft, und in der Art, wie es sich betätigte, wurde es im höchsten Maße kulturfördernd. Diejenigen, welche gemeinschaftliche, gleichartige Beschäftigungen hatten, schlössen sich zu Vereinigungen zusammen, die man Schwurbruderschaften nannte und die später zu den Gilden auswuchsen. Diese Schwurbruderschaften waren weit mehr als bloße Vereinigungen der gewerblichen oder handeltreibenden Menschen. Sie entwickelten sich aus dem praktischen Leben heraus zu einer moralischen Höhe. Das gegenseitige Sich-Beistehen, die gegenseitige Hilfeleistung war in hohem Maße bei diesen Bruderschaften ausgebildet, und viele Dinge, um die sich heute fast niemand mehr kümmert, waren Gegenstand solchen Beistandes. So leisteten sich zum Beispiel die Angehörigen einer solchen Bruderschaft in der Weise Hilfe, dass sie sich in Krankheitsfällen unterstützten. Es wurden von Tag zu Tag zwei Brüder bestimmt, die am Bette eines kranken Bruders Wache halten mussten. Es wurden die Kranken mit Nahrungsmitteln unterstützt, ja es wurde selbst über den Tod hinaus brüderlich gedacht, indem es als ganz besonders ehrenvoll galt, den zur Bruderschaft Gehörigen in entsprechender Weise zu begraben. Endlich gehörte es auch zur Ehre der Schwurbruderschaft, die Witwen und Waisen zu versorgen. Daraus sehen Sie, wie ein Verständnis für die Moral im Gemeinschaftsleben erwuchs, wie sich diese Moral auf dem Grunde eines Bewusstseins bildete, von dem sich der heutige Mensch schwer eine Vorstellung machen kann. Glauben Sie nicht, dass hier in irgendeiner Weise die gegenwärtigen Verhältnisse getadelt werden sollen. Sie sind notwendig geworden, so wie es auch nötig gewesen ist, dass die mittelalterlichen Verhältnisse in ihrer Art zum Ausdrucke gekommen sind. Verstehen müssen wir nur, dass es auch andere Phasen der Entwickelung gab als die heutige.

In den freien Städten des Mittelalters sprach man überall von einem «Gerichtspreis», von einem «Gerichtsmarkt». Was war damit gemeint? Ich will es an einem konkreten Beispiele anschaulich machen. Wenn von den umliegenden Ländereien Produkte in eine Stadt gebracht wurden, so war es streng verboten, dass sie in den ersten Tagen anders als im Kleinverkauf abgesetzt wurden. Niemand durfte im großen kaufen und Zwischenhändler werden. Niemals war damals daran gedacht worden, dass der Preis durch Angebot und Nachfrage geregelt werden sollte. Man verstand damals beides zu regulieren. Die Gruppen in den Städten oder die Gilden mussten den Mitgliedern, welche nach Darlegung dessen, was erforderlich war, um Waren herzustellen, um Produzent zu werden, aufgenommen worden waren, den Preis für diese Produkte feststellen. Niemand durfte den Preis überschreiten. Wenn wir selbst über die Arbeitsverhältnisse ein wenig Umschau halten, dann sehen wir, wie ein gründliches Verständnis vorhanden war für das, was ein Mensch nötig hatte. Wenn wir die Arbeitslöhne der damaligen Zeit unter Berücksichtigung der ganz andern Verhältnisse betrachten, so müssen wir uns sagen, wie damals ein Arbeiter entlohnt war, das hält keinen Vergleich aus mit der Entlohnung von heute. Oftmals ist diese Tatsache von den Forschern ganz falsch gedeutet worden.

Nach praktischen Gesichtspunkten waren diese Bruderschaften gestaltet und daher bildeten sie sich auch allmählich nach solchen praktischen Gesichtspunkten aus. Sie griffen dann von einer Stadt zur andern über, denn es war natürlich, dass diejenigen, welche in den verschiedenen Städten ein gemeinsames Handwerk und gemeinsame Interessen hatten, sich miteinander verbanden und sich gegenseitig unterstützten. So dehnten sich die Verbände von Stadt zu Stadt aus.

Die Menschheit war damals noch nicht unter Polizeimaßregeln vereinigt, sondern unter praktischen Gesichtspunkten. Wer sich die Mühe nimmt, die Verhältnisse zu studieren, welche damals gleichmäßig in den Städten Europas sichtbar waren, der merkt sehr bald, dass wir es hier mit einer ganz bestimmten Phase der Vertiefung des Bruderschaftsprinzips zu tun haben. Das zeigt sich besonders, wenn wir sehen, welche Frucht sich daraus entwickelt hat. Wir könnten zunächst auf die höchsten Gipfel hinweisen, auf die gewaltigen Kunstleistungen des 12. und 13.Jahrhunderts. Sie wären nicht möglich gewesen ohne diese Vertiefung des Bruderschaftsprinzips. Dantes gewaltiges Werk, «Die Göttliche Komödie», verstehen wir kulturhistorisch nur dann, wenn wir die Ausprägung des Bruderschaftsprinzips verstehen. Sehen Sie sich ferner an, was in den Städten unter den Einflüssen dieses Prinzips entstanden ist, zum Beispiel wie Buchdruckerkunst, Kupferdruck, Papierbereitung, Uhrmacherkunst und die später erscheinenden Erfindungen sich unter dem freien Prinzip der Bruderschaft vorbereiteten. Was wir das Bürgertum zu nennen gewohnt sind, geht aus der Pflege des Bruderschaftsprinzips in den mittelalterlichen Städten hervor. Vieles, was durch die wissenschaftliche und künstlerische Vertiefung hervorgebracht worden ist, wäre nicht möglich gewesen ohne die Pflege dieses Bruderschaftsprinzips. Wenn ein Dom gebaut werden sollte, nehmen wir den Kölner Dom oder irgendeinen andern, dann sehen wir, dass sich zunächst eine Vereinigung bildete, eine sogenannte Baugilde, wodurch ein entschiedenes Zusammenwirken der Mitglieder einer solchen Gilde entstand. Man kann, wenn man einen intuitiven Blick dafür hat, sogar in dem Baustil dieses Bruderschaftsprinzip zum Ausdruck gebracht sehen, man kann es zum Ausdruck gebracht sehen fast in jeder mittelalterlichen Stadt, und Sie finden es überall, ob Sie nach dem Norden von Schottland oder nach Venedig gehen, ob Sie sich russische oder polnische Städte ansehen.

Das eine müssen wir betonen, dass das Bruderschaftsprinzip unter dem Einflüsse einer entschieden in die materielle Kultur hineingehenden Zeitströmung herausgekommen ist, und deshalb sehen wir sowohl in dem, was als höhere Kultur hervorgeht, wie in dem, was als Frucht jener Zeit uns bleibt, überall das Materielle, das Physische. Es musste einmal gepflegt werden, und um es richtig zu pflegen, es auszugestalten, war dieses Bruderschaftsprinzip dazumal nötig. Aus einer Abstraktion heraus ist dieses Bruderschaftsprinzip seinerzeit hervorgegangen und durch diese Abstraktion, durch dieses verstandesmäßige Denken ist unser Leben gespalten worden, so dass man heute nicht mehr recht weiß, nicht mehr recht begreift, wie Daseinskampf und Bruderschaftsprinzip in ihrer gegenseitigen Beziehung zusammenwirken. Auf der einen Seite wurde das Geistesleben immer abstrakter und abstrakter. Moral und Gerechtigkeit, Anschauungen in bezug auf das Staatswesen und die andern gesellschaftlichen Verhältnisse wurden unter immer abstraktere Grundsätze gebracht, und der Daseinskampf wurde immer mehr und mehr durch eine Kluft von dem getrennt, was der Mensch eigentlich als sein Ideal fühlt. Dazumal, in der Mitte des Mittelalters, bestand eine Harmonie zwischen dem, was man als sein Ideal fühlte und dem, was man wirklich tat, und wenn je einmal gezeigt worden ist, dass man Idealist und Praktiker zugleich sein kann, so ist das im Mittelalter der Fall gewesen. Auch das Verhältnis des römischen Rechtes zum Leben war noch ein harmonisches. Schauen Sie sich dagegen heute die Sache an, dann finden Sie, wie unsere Rechtsverhältnisse über dem moralischen Leben schweben. Viele sagen: Wir wissen, was gut, recht und billig ist, aber praktisch ist es nicht. - Das kommt davon her, dass das Denken über die höchsten Prinzipien vom Leben abgetrennt ist.

Vom 16. Jahrhundert ab sehen wir das geistige Leben mehr unter den Grundsätzen des Verstandes sich entwickeln. Derjenige, der aus seiner Gilde heraus, mit den andern zwölf Schöffen zusammen zu Gericht saß über irgendein Vergehen, das ein Mitglied der Gilde begangen hatte, er war der Bruder dessen, der gerichtet werden sollte. Leben verband sich mit Leben. Jeder wusste, was der andere arbeitete, und jeder versuchte zu begreifen, warum er einmal abweichen konnte von dem richtigen Wege. Man sah gleichsam in den Bruder hinein und wollte in ihn hineinsehen.

Jetzt hat sich eine Jurisprudenz herausgebildet der Art, dass den Richter und den Anwalt nur das Gesetzbuch interessiert, dass beide nur einen «Fall» sehen, auf den sie das Gesetz anzuwenden haben. Betrachten Sie nur, wie alles, was moralisch gedacht ist, von der Rechtswissenschaft losgelöst ist. Diesen Zustand haben wir immer mehr im letzten Jahrhundert sich entwickeln sehen, während im Mittelalter unter dem Prinzip der Bruderschaft sich etwas herausgebildet hatte, was notwendig und wichtig ist für jeden gedeihlichen Fortschritt: Sachverständigkeit und Vertrauen, die heute als Prinzip immer mehr in Fortfall kommen. Das Urteil des Sachverständigen ist heute fast ganz zurückgetreten gegenüber der abstrakten Jurisprudenz, gegenüber dem abstrakten Parlamentarismus. Der Allerweltsverstand, die Majorität soll heute das Maßgebende sein, nicht das Sachverständnis. Die Bevorzugung der Majorität musste kommen. Aber ebensowenig wie man in der Mathematik abstimmen kann, um ein richtiges Resultat herauszubringen - denn 3 mal 3 ist immer 9 und 3 mal 9 ist immer 27 -, so ist es auch da. Unmöglich wäre es, das Prinzip des Sachverständigen durchzuführen ohne das Prinzip der Bruderschaft, der Bruderliebe.

Der Daseinskampf hat seine Berechtigung im Leben. Dadurch, dass der Mensch ein Sonderwesen ist, dass er als einzelner seinen Weg durch das Leben gehen muss, ist er auf diesen Daseinskampf angewiesen. In gewisser Beziehung gilt auch hier das Wort Rückerts: Wenn die Rose selbst sich schmückt, schmückt sie auch den Garten. - Machen wir uns nicht fähig, unseren Mitmenschen zu helfen, so werden wir ihnen auch schlecht helfen können. Sehen wir nicht zu, dass alle unsere Anlagen ausgebildet werden, so werden wir auch nur geringen Erfolg haben, unseren Brüdern zu helfen. Um diese Anlagen zur Entwicklung zu bringen, muss ein gewisser Egoismus vorhanden sein, denn Initiative hängt mit Egoismus zusammen. Wer es versteht, sich nicht führen zu lassen, wer es versteht, nicht jedes Bild aus der Umgebung auf sich wirken zu lassen, sondern hinabzusteigen in sein Inneres, wo die Quellen der Kräfte sind, der wird sich zu einem kräftigen und fähigen Menschen ausbilden und bei ihm wird die Möglichkeit, andern Dienste zu leisten, viel mehr vorhanden sein als bei dem, welcher sich allen möglichen Einflüssen seiner Umgebung fügt. Es liegt nahe, dass dieses Prinzip, das für den Menschen notwendig ist, ins Radikale ausgearbeitet werden kann. Nur dann wird aber dieses Prinzip die richtigen Früchte tragen, wenn es gepaart ist mit dem Prinzip der Bruderliebe.

Ich habe gerade aus diesem Grunde die freien Städtegilden des Mittelalters als praktisches Beispiel angeführt, um zu zeigen, wie das Praktische gerade unter dem Prinzip der gegenseitigen persönlichen, individuellen Hilfeleistung so stark geworden ist. Woraus haben sie die Stärke gesogen? Daraus, dass sie mit ihren Mitmenschen in Bruderschaft gelebt haben. Recht ist es, sich so stark wie möglich zu machen. Aber die Frage ist, ob wir überhaupt stark werden können ohne die Bruderliebe. Diese Frage muss derjenige, der sich zu einer wirklichen Seelenkenntnis aufschwingt, mit einem entschiedenen Nein beantworten.

Wir sehen in der ganzen Natur Vorbilder des Zusammenwirkens von Einzelwesen in einem Ganzen. Nehmen Sie bloß den menschlichen Körper. Er besteht aus selbständigen Wesen, aus Millionen und Abermillionen von einzelnen selbständigen Lebewesen oder Zellen. Wenn Sie einen Teil dieses menschlichen Körpers unter dem Mikroskop betrachten, so rinden Sie, dass er geradezu aus solchen selbständigen Wesen zusammengesetzt ist. Wie wirken sie aber zusammen? Wie ist dasjenige selbstlos geworden, das in der Natur ein Ganzes bilden soll? Keine unserer Zellen macht ihre Sonderheit in egoistischer Weise geltend. Das Wunderwerkzeug des Gedankens, das Gehirn, ist ebenfalls aus Millionen feiner Zellen gebildet, aber jede wirkt an ihrem Platze in harmonischer Weise mit den andern. Was bewirkt das Zusammenwirken dieser kleinen Zellen, was bewirkt es, dass ein höheres Wesen innerhalb dieser kleinen Lebewesen zum Ausdrucke kommt? Des Menschen Seele ist es, die diese Wirkung hervorbringt. Aber niemals könnte die menschliche Seele hier auf Erden wirken, wenn nicht diese Millionen kleiner Wesen ihre Selbstheit aufgeben und sich in den Dienst des großen, gemeinsamen Wesens stellen würden, das wir als die Seele bezeichnen. Die Seele sieht mit den Zellen des Auges, denkt mit den Zellen des Gehirns, lebt mit den Zellen des Blutes. Da sehen wir, was Vereinigung bedeutet. Vereinigung bedeutet die Möglichkeit, dass ein höheres Wesen durch die vereinigten Glieder sich ausdrückt. Das ist ein allgemeines Prinzip in allem Leben. Fünf Menschen, die zusammen sind, harmonisch miteinander denken und fühlen, sind mehr als i + i + i + i + x, sie sind nicht bloß die Summe aus den fünf, ebensowenig wie unser Körper die Summe aus den fünf Sinnen ist, sondern das Zusammenleben, das Ineinanderleben der Menschen bedeutet etwas ganz Ähnliches, wie das Ineinanderleben der Zellen des menschlichen Körpers. Eine neue, höhere Wesenheit ist mitten unter den fünfen, ja schon unter zweien oder dreien. «Wo zwei oder drei in meinem Namen vereinigt sind, da bin ich mitten unter ihnen.» Es ist nicht der eine und der andere und der dritte, sondern etwas ganz Neues, was durch die Vereinigung entsteht. Aber es entsteht nur, wenn der einzelne in dem andern lebt, wenn der einzelne seine Kraft nicht bloß aus sich selbst, sondern auch aus den andern schöpft. Das kann aber nur geschehen, wenn er selbstlos in dem andern lebt. So sind die menschlichen Vereinigungen die geheimnisvollen Stätten, in welche sich höhere geistige Wesenheiten herniedersenken, um durch die einzelnen Menschen zu wirken, wie die Seele durch die Glieder des Körpers wirkt.

In unserem materialistischen Zeitalter wird man das nicht leicht glauben, aber in der geisteswissenschaftlichen Weltanschauung ist es nicht bloß etwas Bildliches, sondern im höchsten Grade Wirkliches. Daher spricht der Geisteswissenschafter nicht bloß von abstrakten Dingen, wenn er von dem Volksgeist oder von der Volksseele oder von dem Familiengeist oder von dem Geiste einer andern Gemeinschaft spricht. Sehen kann man diesen Geist nicht, der in einer Vereinigung wirkt, aber da ist er, und er ist da durch die Bruderliebe der in dieser Vereinigung wirkenden Persönlichkeiten. Wie der Körper eine Seele hat, so hat eine Gilde, eine Bruderschaft auch eine Seele, und ich wiederhole noch einmal, es ist das nicht bloß bildlich gesprochen, sondern als volle Wirklichkeit zu nehmen.

Zauberer sind die Menschen, die in der Bruderschaft zusammen wirken, weil sie höhere Wesen in ihren Kreis ziehen. Man braucht sich nicht mehr auf die Machinationen des Spiritismus zu berufen, wenn man mit Bruderliebe in einer Gemeinschaft zusammenwirkt. Höhere Wesen manifestieren sich da. Geben wir uns in der Bruderschaft auf, so ist dieses Aufgeben, dieses Aufgehen in der Gesamtheit eine Stählung, eine Kräftigung unserer Organe. Wenn wir dann als Mitglied einer solchen Gemeinschaft handeln oder reden, so handelt oder redet in uns nicht die einzelne Seele, sondern der Geist der Gemeinschaft. Das ist das Geheimnis des Fortschritts der zukünftigen Menschheit, aus Gemeinschaften heraus zu wirken. Wie eine Epoche die andere ablöst und jede ihre eigene Aufgabe hat, so ist es auch mit der mittelalterlichen Epoche im Verhältnis zu der unsrigen, mit unserer Epoche im Verhältnis zu der zukünftigen. Im unmittelbaren praktischen Leben, bei der Grundlegung der nützlichen Künste, haben die mittelalterlichen Bruderschaften gewirkt. Ein materialistisches Leben haben sie erst gezeigt, nachdem sie ihre Früchte erhalten hatten, ihre Bewusstseinsgrundlage, nämlich die Brüderlichkeit, aber mehr oder weniger geschwunden war, nachdem das abstrakte Staatsprinzip, das abstrakte, geistige Leben anstelle wirklichen Ineinanderfühlens getreten war. Der Zukunft obliegt es, wieder Bruderschaften zu begründen, und zwar aus dem Geistigen, aus den höchsten Idealen der Seele heraus. Das Leben der Menschen hat bisher die mannigfaltigsten Vereinigungen gezeitigt, es hat einen furchtbaren Daseinskampf hervorgerufen, der heute geradezu an seinem Gipfelpunkte angekommen ist. Die geisteswissenschaftliche Weltanschauung will die höchsten Güter der Menschheit im Sinne des Bruderschaftsprinzips ausbilden, und so sehen Sie dann, dass die geisteswissenschaftliche Weltbewegung auf allen Gebieten dieses Bruderschaftsprinzip an die Stelle des Daseinskampfes setzt. Ein Gemeinschaftsleben müssen wir führen lernen. Wir dürfen nicht glauben, dass der eine oder der andere imstande sei, dieses oder jenes durchzuführen.

Es möchte wohl ein jeder gerne wissen, wie man Daseinskampf und Bruderliebe miteinander vereinigt. Das ist sehr einfach. Wir müssen lernen, den Kampf durch positive Arbeit zu ersetzen, den Kampf, den Krieg zu ersetzen durch das Ideal. Man versteht heute nur noch zu wenig, was das heißt. Man weiß nicht, von welchem Kampf man spricht, denn man spricht im Leben überhaupt nur noch von Kämpfen. Da haben wir den sozialen Kampf, den Kampf um den Frieden, den Kampf um die Emanzipation der Frau, den Kampf um Grund und Boden und so weiter, überall, wohin wir blicken, sehen wir Kampf.

Die geisteswissenschaftliche Weltanschauung strebt nun dahin, an die Stelle dieses Kampfes die positive Arbeit zu setzen. Derjenige, der sich eingelebt hat in diese Weltanschauung, der weiß, dass das Kämpfen auf keinem Gebiete des Lebens zu einem wirklichen Resultate führt. Suchen Sie das, was sich in Ihrer Erfahrung und vor Ihrer Erkenntnis als das Richtige erweist, in das Leben einzuführen, es geltend zu machen, ohne den Gegner zu bekämpfen. Es kann natürlich nur ein Ideal sein, aber es muss ein solches Ideal vorhanden sein, das heute als geisteswissenschaftlicher Grundsatz in das Leben einzuführen ist. Menschen, die sich an Menschen schließen und die ihre Kraft für alle einsetzen, das sind diejenigen, welche die Grundlage abgeben für eine gedeihliche Entwicklung in die Zukunft hinein. Die Theosophische Gesellschaft will selbst in dieser Beziehung mustergültig sein, sie ist deshalb nicht eine Propagandagesellschaft wie andere, sondern eine Brudergesellschaft. In ihr wirkt man durch die Arbeit eines jeden einzelnen der Mitglieder. Man muss das nur einmal richtig verstehen. Derjenige wirkt am besten, der nicht seine Meinung durchsetzen will, sondern das, was er seinen Mitbrüdern an den Augen ansieht; der in den Gedanken und Gefühlen der Mitmenschen forscht und sich zu deren Diener macht. Der wirkt am besten innerhalb dieses Kreises, der im praktischen Leben durchführen kann, die eigene Meinung nicht zu schonen. Wenn wir in dieser Weise zu verstehen suchen, dass unsere besten Kräfte aus der Vereinigung entspringen und dass die Vereinigung nicht bloß als abstrakter Grundsatz festzuhalten, sondern vor allen Dingen in theosophischer Weise bei jedem Handgriffe, in jedem Augenblicke des Lebens zu betätigen ist, dann werden wir vorwärtskommen. Wir dürfen nur keine Ungeduld haben in diesem Vorwärtskommen.

Was zeigt uns also die Geisteswissenschaft? Sie zeigt uns eine höhere Wirklichkeit, und dieses Bewusstsein einer höheren Wirklichkeit ist es, was uns in der Betätigung des Bruderschaftsprinzips vorwärtsbringt.

Man nennt heute noch die Theosophen unpraktische Idealisten. Es wird nicht lange dauern, so werden sie sich als die Praktischsten erweisen, weil sie mit den Kräften des Lebens rechnen. Niemand wird daran zweifeln, dass man einen Menschen verletzt, wenn man ihm einen Stein an den Kopf wirft. Dass es aber viel schlimmer ist, dem Menschen ein Hassgefühl zuzusenden, das die Seele des Menschen viel mehr verletzt als der Stein den Körper, das wird nicht bedacht. Es kommt ganz darauf an, in welcher Gesinnung wir den Mitmenschen gegenüberstehen. Es hängt aber auch gerade davon unsere Kraft für ein gedeihliches Wirken in der Zukunft ab. Wenn wir uns bemühen, so in Bruderschaft zu leben, dann führen wir das Prinzip der Bruderschaft praktisch aus.

Tolerant sein, heißt in geisteswissenschaftlichem Sinne noch etwas anderes, als was man gewöhnlich darunter versteht. Es heißt, auch die Freiheit des Gedankens der andern zu achten. Einen andern von seinem Platze wegzuschieben, ist eine Rüpelhaftigkeit, wenn man aber in Gedanken dasselbe tut, so fällt niemandem ein, dass dies ein Unrecht ist. Wir sprechen zwar viel von der Schätzung der fremden Meinung, sind aber nicht geneigt, dies für uns selbst gelten zu lassen.

Ein Wort hat für uns fast noch keine Bedeutung, man hört es und hat es doch nicht gehört. Wir müssen aber lernen, mit der Seele zuzuhören, wir müssen verstehen, die intimsten Dinge mit der Seele zu erfassen. Immer ist erst im Geiste vorhanden, was später im physischen Leben wird. Unterdrücken müssen wir also unsere Meinung, um den andern ganz zu hören, nicht bloß das Wort, sondern sogar das Gefühl, auch dann, wenn sich in uns das Gefühl regen sollte, dass es falsch ist, was der andere sagt. Es ist viel kraftvoller, zuhören zu können, solange der andere spricht, als ihm in die Rede zu fallen. Das gibt ein ganz anderes gegenseitiges Verständnis. Sie fühlen dann, wie wenn die Seele des andern Sie durchwärmte, durchleuchtete, wenn Sie ihr in dieser Weise mit absoluter Toleranz entgegentreten. Nicht bloß Freiheit der Person sollen wir gewähren, sondern völlige Freiheit, ja sogar die Freiheit der fremden Meinung sollen wir schätzen. Das ist nur ein Beispiel für vieles. Derjenige, der dem andern ins Wort fällt, der tut von einer geistigen Weltanschauung aus betrachtet etwas Ähnliches wie der, welcher dem andern physisch einen Fußtritt gibt. Bringt man es dazu, zu begreifen, dass es eine viel stärkere Beeinflussung ist, einem andern ins Wort zu fallen, als ihm einen Fußtritt zu geben, dann erst kommt man dazu, die Bruderschaft bis in die Seele hinein zu verstehen, dann wird sie eine Tatsache. Das ist das Große der geisteswissenschaftlichen Bewegung, dass sie uns einen neuen Glauben, eine neue Überzeugung von den geistigen Kräften, die von Mensch zu Mensch strömen, bringt. Das ist das höhere, geistige Bruderschaftsprinzip. Jeder mag sich ausmalen, wie weit die Menschheit von solchem geistigem Bruderschaftsprinzip entfernt ist. Jeder mag sich darin ausbilden, wenn er Zeit dazu findet, seinen Lieben Gedanken der Liebe und Freundschaft zuzusenden. Der Mensch hält das gewöhnlich für etwas Bedeutungsloses. Aber wenn Sie einmal dahin gelangen, einzusehen, dass der Gedanke ebensogut eine Kraft ist wie die elektrische Welle, die von einem Apparat ausgeht und zum Empfangsapparat überströmt, dann werden Sie auch das Bruderschaftsprinzip besser verstehen, dann wird allmählich das gemeinschaftliche Bewusstsein deutlicher, dann wird es praktisch.

Von diesem Gesichtspunkt aus können wir uns klar darüber werden, wie die geisteswissenschaftliche Weltanschauung den Daseinskampf und das Bruderschaftsverhältnis auffasst. Wir wissen ganz genau, dass mancher, der an diesen oder jenen Platz im Leben gestellt ist, einfach unterginge, wenn er nicht mit den Wölfen heulen würde, wenn er diesen Daseinskampf nicht ebenso grausam führen würde wie viele andere. Für denjenigen, der materialistisch denkt, gibt es fast kein Entrinnen aus diesem Daseinskampf. Wir sollen zwar an dem Platze unsere Pflicht tun, an den uns das Karma hingestellt hat. Wir tun aber das Richtige, wenn wir uns klar sind, dass wir viel mehr leisten würden, wenn wir darauf verzichteten, in der unmittelbaren Gegenwart die Erfolge zu sehen, die wir erreichen wollen. Bringen Sie es übers Herz, wenn Sie vielleicht mit blutender Seele im Daseinskampfe stehen, demjenigen, dem Sie wehe getan haben im Daseinskampfe, in liebevoller Gesinnung von Seele zu Seele Ihre Gedanken zuströmen zu lassen, dann werden Sie als Materialist vielleicht denken, Sie haben nichts getan. Nach diesen Auseinandersetzungen aber werden Sie einsehen, dass dies später seine Wirkung haben muss, denn nichts, das wissen wir, ist verloren, was im Geistigen vorgeht.

So können wir manchmal mit zagender Seele, mit Wehmut im Herzen den Daseinskampf aufnehmen und durch unsere Mitarbeit denselben umwandeln. So in diesem Daseinskampfe arbeiten, heißt in praktischer Beziehung den Daseinskampf ändern. Nicht von heute auf morgen ist das möglich, aber dass wir es können, ist außer allem Zweifel. Wenn wir an der eigenen Seele im Sinne der Bruderliebe arbeiten, dann nützen wir dadurch, dass wir uns nützen, am meisten der Menschheit, denn wahr ist es, dass unsere Fähigkeiten entwurzelt sind wie eine aus dem Boden gerissene Pflanze, wenn wir im selbstischen Sondersein verharren. Sowenig ein Auge noch ein Auge ist, wenn es aus dem Kopfe gerissen wird, sowenig ist eine menschliche Seele noch eine Menschenseele, wenn sie sich von der menschlichen Gemeinschaft trennt. Und Sie werden sehen, dass wir unsere Talente dann am besten ausbilden, wenn wir in brüderlicher Gemeinschaft leben, dass wir am intensivsten leben, wenn wir im Ganzen wurzeln. Freilich müssen wir abwarten, bis das, was Wurzel schlägt im Ganzen, durch stille Einkehr in sich selbst zur Frucht reift.

Wir dürfen uns weder in der Außenwelt noch in uns selbst verlieren, denn wahr ist es im höchsten geistigen Sinne, was der Dichter gesagt hat, dass man stille bei sich selbst sein muss, wenn unsere Talente heraustreten sollen. Aber diese Talente wurzeln doch in der Welt. Sie stärken und uns dem Charakter nach bessern können wir nur dann, wenn wir in der Gemeinschaft leben. Deshalb ist es wahr im Sinne des echten wahren Bruderschaftsprinzips, dass die Brüderlichkeit den Menschen gerade im Daseinskampfe am allerstärksten macht, und er wird am meisten von seinen Kräften in der Stille seines Herzens finden, wenn er seine ganze Persönlichkeit, seine ganze Individualität mit den andern Menschenbrüdern zusammen ausbildet. Wahr ist es: Es bildet ein Talent sich in der Stille –, wahr ist es aber auch: Es bildet ein Charakter und damit der ganze Mensch und die ganze Menschheit sich im Strome der Welt.