Der Sonnenlogos und die zehn Avatare | 1903

Rudolf Steiner: Der Sonnenlogos und die zehn Avatare nach der Rosenkreuzer-Chronik

Private Lehrstunde, Berlin, Sommer 1903. GA 88, S.149-154. Textgrundlage: stichwortartige Notizen Marie von Sivers.

Die äußeren Gestalten der Erscheinungswelt haben neben ihrer äußeren noch eine innere Bedeutung, sie sind gleichsam Symbole einer früheren Entwicklungsphase. »Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis«, dem, der tiefer schaut. Dem Psychographen, der mit astralem Vermögen in das innere Werden, in die Seele der Welt schaut, entschleiern die Dinge der Erscheinungswelt ihre innere Geschichte. Das Auge des Dangma sieht in einer Entwicklungsreihe die Verwandlungen des Logos. Die heiligen Bücher der Veden und die Rosenkreuzer-Chronik sprechen von zehn solchen Avataras oder Metamorphosen unseres gegenwärtigen Sonnenlogos. Für das Hellseherorgan ist das heutige Lanzettfischchen (Amphioxus lanceolatus) das Erinnerungszeichen einer Inkarnation des Sonnenlogos und ein Gleichnis für den Vorahn der Wirbeltiere. Man kann sich das vorstellen, wenn man an die Zeichen Sichel, Skorpion, Fisch und so weiter im Kalender denkt, die Symbole für Vorgänge in der Gestirnwelt bedeuten. Die Wirbelknochen, aus denen sich nacheinander die Fische, Amphibien, Vögel und Säugetiere entwickelt haben, waren im Vorahn nur in der ersten Anlage vorhanden, wie in dem heutigen Lanzettfischchen das Fühlorgan durch einen einzigen Nervenstrang angedeutet ist, aus dem sich in späteren Entwicklungen das Gehirn der Wassertiere, der Fische, herausorganisierte.

Die erste Metamorphose des Sonnenlogos drückt die Rosenkreuzer-Chronik mit folgenden Worten aus:

Die einige Muttersubstanz des Geisteslichtes dämmerte in sich selbst.
Und der dämmernden Stoff-Dichte entwand sich geistige Sonderheit,
sich einfühlend in die Stoff-Dämmerung.
Der Weltengeist lebt in diesem Fühlen als die Seele, deren Leib die Wasser sind.

Indisch: Matsya = Fisch Erster Avatar.

Der Sonnenlogos inkarniert sich als Vorbild und Führer inmitten einer neuen Entwicklungsphase. Ursprünglich dämmerte der Geist in sich selbst, Geist und Materie sind noch undifferenziert ineinander. So zeigen heute die Mollusken und Würmer noch kein gesondertes Nervenleben, die Empfindung durchdringt ihren ganzen einheitlichen Stoff, aus dem sie bestehen. Bei dem ersten Avatar trennte sich der Geist von der eiförmigen astralen, feinen Stoffhülle und bildete einen leuchtenden Punkt in ihr, mit seinen Strahlen sie durchdringend. Alle Entwicklung ist polarisch.

Und das Geistlicht erzeugt in sich noch eine höhere Geistigkeit, es bringt aus sich eine noch feinere mentale Materie hervor — darin sich später das Gehirn hineinbaut —, die fühlende, astrale Materie [wird] zurückgedrängt, umhüllt sich schützend an ihrem äußersten Pol mit einer noch festeren Materie, aus der sich die physische später entwickelt. Das wäre der zweite Avatar, die zweite Metamorphose der Gottheit, die die Rosenkreuzer-Chronik mit folgenden Worten ausdrückt:

Und dem Wasserleibe entwand sich das Fühlen,
an sich ziehend Festigkeit, die in den Wassern schlummert.
Zum Kleide des Fühlens wurde die stoffliche Festigkeit.
Bebend ward das Kleid dem Leben der Weltenseele angepasst,
Harmonie schuf die Seele in dem bebenden Kleide.

Das Erinnerungszeichen an den zweiten Avatar ist Kurma, die Schildkröte (Amphibien). Darum hat Paracelsus in den Amphibien Tiere gesehen, die der Gottheit in ihrer Natur noch näherstehen. Zweites Drittel der zweiten Runde.

In der dritten Metamorphose des Logos zieht sich die Geistigkeit noch mehr in sich zurück, die astrale Materie dehnt sich aus, wird stärker und fester und der sich entwickelnde Mensch lebt ganz in seiner gewaltigen Kraft und Stärke, während der Geist sich in einem Schlummerzustand befindet. Der astrale Stoff musste erst in voller Selbstheit sich widerstandstüchtig machen, um später wieder überwunden zu werden.

Das Erinnerungszeichen für den dritten Avatar, im Beginn der dritten Runde, nennt man Varaha, der Eber. Die Rosenkreuzer-Chronik sagt:

Dem Kleide soll sein Festigkeit gegen des Stoffes Stürme:
es soll eine starke Hülle sein seines geistigen Herrn,
und in Selbstheit leben muss daher die Hülle.
Also kleidete sich die Weltenseele in das Gewand der starken Tierheit.

Im vierten Avatar (erstes Drittel der vierten Runde) wurde dieser Tiermensch Herrscher. Riese in seiner Stoffkraft, zog er die Geistigkeit ganz in sich hinein und machte sich zum Herrn derselben, sie schützend mit seiner gewaltigen Kraft. Ein kleiner Teil blieb als Warner zurück, und verbunden mit der Allseele wurde die Seele - als Zwerg symbolisiert - des Narasimha, des Menschenlöwen Kraft.

Und zum Selbst wurde die starke Tierheit,
Selbst-Kraft strömend durch des Stoffes Lenden,
abwehrend die Feindes-Kraft von dem zarten Geistselbst,
das als Warner schlummert in der starken Tierheit des Menschenlöwen.

Doch der Zwerg des Geistes, Vamana, strömt seine belebende Kraft durch die Glieder des Riesen, lenkt ihn und macht sich zum Beherrscher des Menschenlöwen, wie der Riese Goliath vom Zwerg David beherrscht wurde. Und auch der Warner wird nun ganz in den Stoff hineingezogen und verliert den letzten Zusammenhang mit der Allseele. Der Mensch ist jetzt ganz auf sich selbst gestellt und hat den äußersten Grad der Absonderung erreicht. Zunächst kämpft nun dieser im Stoff abgesonderte Geist in Selbstsucht und Willkür gegen die anderen abgesonderten Geister; er wird schrankenlos, weil der Warner fehlt und die Führung.

Es ist der physische Mensch, und der fünfte Avatar lautet:

Und der Warner wurde zum Herrscher der starken Tierheit des Menschenlöwen.
Der Zwerg besiegte des Riesen gewaltige Kraft:
und Geistleben erweckte er in der Tierheit wuchtigen Gliedern.

Jetzt tritt der sechste Avatar auf als erster Gesetzgeber und streng straft das Gesetz nun den Missbrauch der Kraft des Kriegers. Es ist die Epoche des Parashu-Rama (Vater des Rama). Er führt die Krieger und beugt sie unter das harte, aber gute Gesetz. Sechster Avatar:

Nicht ohne des Geistlebens Richtkraft dürften fortan des Körpers Lenden sich strecken.
Denn böse würde solches geistfremde Strecken.
Das Geistleben trat in die Mitte der lendenbegabten Krieger,
und das gute Gesetz wollte strafen die geistfremden Kräfte.

Jetzt als siebente Metamorphose des Logos erschien Rama, der Sohn des Parashu-Rama, und er milderte in Liebe die Härte und Strenge der Gebote und die Krieger liebten das Gesetz in willigem Gehorsam. Es war der erste noch sagenhafte Idealkönig der Inder und aller anderen Völker. Siebenter Avatar:

Ernst und streng war der Zwang des Geistwesens.
Da gebar es in sich die Milde. In Liebe löste sich hartes Gesetzesgebot.

Jetzt trat Krishna auf als achte Inkarnation des Gottes, er lehrte die Menschen die Liebe als Seligkeit empfinden und lebte als Vorbild ihnen in Seligkeit:

Und der Liebessame erblühte und trieb Liebesfrucht, die da heißet die Seligkeit.
Und die Seligkeit war selbst Mensch.

Bis hier war des Menschen Leben ein Aufstieg bis zur Budhihöhe der Seligkeit, aber jetzt musste der Weg wieder abwärts des Bogens zurückgelegt werden, um Weisheit zu lernen und Manas durch das Werk, durch Karma hindurch wieder freizumachen und mit Budhi zu verbinden. Und so erschien Buddha als Führer und Urbild, der Menschheitsentwicklung so weit voraus, um ihnen den Weg zu weisen. So heißt der neunte Avatar: Buddha.

Und die Seligkeit sandte ihren Sohn zur Erde:
der da heißet die verkörperte Weisheit.
Und sie wohnte in dem sterblichen Leibe des Königsohnes.
– Buddha.

Der zehnte Avatar: Das ist der, der da kommen wird; Kalki, sagt das Indische. Die Rosenkreuzer-Chronik lautet:

Wenn aber die Zeiten erfüllt sind, das Auge öffnet sich,
und Menschenschicksal wird leuchtend im Innern,
die leuchtende Gestalt wähle zum Führer:
dann wird dir Schicksal selbst Gesetz und liebesvolles Wollen.
Wes Auge sich öffnet, der sieht lebende Rosen dem Kreuze erwachsen.

Christus war für die Rosenkreuzer dieser Kommende, Christus als die sich immer fortentwickelnde Kristallisation zum leuchtenden Vorbild der sich hinaufentwickelnden Menschheit, der als Jesus menschliches Karma auf sich nahm und durch immer neue Inkarnation mit dem Karma der Christenheit verbunden bleibt, sie führend und leitend bis ans Ende dieser Rasse.

Alle Lebenslegenden der Nirmanakayas, der Lehrer der Menschheit, glichen sich, sie sind nach einem bestimmten Schema: Leben, Versuchung, Opfertod und Verklärung, zu dem gemeinsamen Zweck bei dem Niederstieg in die Materie ausgewählt: Zarathustra, Hermes, die Druidenlehrer, Buddha, Christus. Bis zur Verklärung ist das Leben Jesu und Buddhas gleich, von hier [ab] tritt eine Änderung ein, und Christus steigt am tiefsten in die Materie hinab, denn ihm ist eine besondere Aufgabe gegeben. Als die Individualität des Mahaguru sich als Buddha inkarnierte, hatten die Lehren desselben zu Missverständnissen und Spaltungen geführt, er hatte zuviel gegeben.

Noch einmal musste Buddha als Shankaracharya sich inkarnieren und von ihm sind dann die tibetanischen Lehrer, die Mahatmas, ausgebildet worden, welche die Lehre der Theosophie zum Teil der Öffentlichkeit übergeben haben, um durch sie den verschiedenen Religionen den esoterischen Inhalt, der allen gleich zugrundeliegt, wiederzugeben und um das gesunkene geistige Niveau der Menschheit zu heben. Als sich die Individualität des Mahaguru in Christo inkarnierte, wählte er nicht wie sonst eine jungfräuliche embryonale Materie, die rein und frei von Karma war, sondern stieg tiefer hinab, um so karmabeladen in voller Brüderlichkeit mit der Menschheit als Fleisch von ihrem Fleische auch die dichteste Materie zu geistiger Verklärung zu bringen.

So kam das Mysterium Christo zustande: Dass der Mahaguru von dem Leib eines niederen Mahatmas, eines Chelas der dritten Initiation, des dreißigjährigen Jesu Besitz ergriff, dessen Körper schon durch das Leben hindurchgegangen war und Karma gebildet hatte. Als Christus trat von nun an der große Lehrer der Menschheit auf. Bis zur Verklärung gleicht das Leben Jesu dem Buddhas, von hier aber beginnt die Tragödie des Christus. Er hatte die Bestimmung, Kreuzestod und Wiederauferstehung, die sonst nur sinnbildlich in der Verborgenheit vollzogen wurden, nun vorbildlich und öffentlich am eigenen Körper zu erleben, um durch dieses Opfer auch die große Masse der Menschheit emporzuheben und sie der Erlösung aus der niederen Materie entgegenzuführen. So steht Buddha einerseits auf einer höheren Stufe, weil er erhabener, von der niederen Materie unberührt blieb und nur lehrte, und andererseits steht Christus höher, weil er das größere Opfer vollzogen und durch seinen Abstieg in die dichteste physische Materie sie vergeistigt wieder zurückbrachte.

Christus hat keine Aufzeichnungen hinterlassen wie andere große Lehrer der Menschheit. Seine Aufgabe war es, diese Lehren, die schon vorhanden waren, zu leben, vorbildlich für die Menschheit zu leben und so die Mysterienlehre freizumachen, um eine möglichst große Menschheitsmasse zur schnelleren geistigen Evolution zu bringen. So brachte er der Menschheit das größte Opfer: Sein lichter Geist stieg in die dunkelste Materie hinab.