Die menschliche Wesenheit | Oktober 1904

Rudolf Steiner, öffentlicher Vortrag, Berlin, 13. Oktober 1904. Lückenhafte Nachschrift, vom Vortragenden nicht durchgesehen (GA 53).

Die Vorträge über die Grundbegriffe der Theosophie sollen in aller Kürze einen Abriss der Weltanschauung und Lebensgestaltung geben, die man gewöhnlich als Theosophie bezeichnet. Ich muss aber, um Missverständnissen vorzubeugen, einiges über diese Theosophie vorausschicken. Es könnte der Glaube entstehen, dass die Theosophische Gesellschaft oder die theosophische Bewegung die Auffassung, die ich geben werde, als solche propagiere, dass also innerhalb der theosophischen Bewegung diese Anschauung wie eine Dogmatik vorgetragen würde. Das ist nicht der Fall.

Dasjenige, was in der Theosophischen Gesellschaft von einzelnen vorgetragen wird, ist - um mich eines gebräuchlichen Ausdrucks zu bedienen - eine persönliche Anschauung, und die Theosophische Gesellschaft soll nichts weiter sein als eine Vereinigung, welche eine Pflegestätte schafft für solche Weltanschauungen, welche in die höheren Gebiete des geistigen Lebens hineinführen; so dass niemand glauben sollte, dass es sich in der Theosophie um die Propagierung irgendwelcher Dogmen handelt. Allerdings, wenn heute von Weltanschauungsvereinen gesprochen wird, wenn von monistischen oder dualistischen Anschauungen gesprochen wird, so versteht man unter solchen Vereinen oder Gesellschaften solche, die sich auf irgendein Dogma, wenn nicht gerade verpflichtet, so doch auf ein Dogma hin vereinigt haben, sei es nun ein berechtigtes oder ein unberechtigtes Dogma. So ist es nicht in der Theosophie.

Doch muss auf der anderen Seite betont werden, dass nur derjenige, welcher in das Wesen der theosophischen Weltanschauung eingedrungen ist, seine persönliche Anschauung davon vorzutragen vermag. Die theosophische Weltanschauung ist nämlich eine solche, dass die einzelnen frei übereinstimmen, ohne dass sie sich äußerlich zu einem Dogma verpflichten. Sie brauchen sich aus dem Grunde nicht so zu verpflichten, weil jeder zu denselben Anschauungen kommen muss, der die Tatsachen kennenlernt. Viel geringer als auf dem Gebiete des sinnlich-wissenschaftlichen Forschens und Erforschens der äußeren Tatsachen ist auf diesem Gebiete die Differenz der einzelnen Forscher, und Sie werden, wenn Sie wirklich in diese Dinge eindringen, nicht hören, dass dieser oder jener Theosoph, welcher wirklich die Methode der theosophischen Weltanschauung beherrscht, mit irgendeinem anderen in wesentlichen Dingen nicht übereinstimmt. Das ist aus dem Grunde so, weil, wenn wir in die höheren Gebiete des Daseins heraufkommen, die Irrtümer nicht mehr möglich sind, die einfach auf dem Gebiete der äußeren sinnlichen Tatsachen vorkommen. Da ist es nicht möglich, dass der eine die, der andere eine andere Weltanschauung produziert. Nur das ist möglich, dass der eine weniger vorgeschritten ist und nur einen Teil der theosophischen Weltanschauung vertreten kann. Ist er dann des Glaubens, dass das, was er erkannt hat, das Ganze der Weltanschauung darstellt, dann kann es kommen, dass er denen, die weiter entwickelt sind, scheinbar widerspricht. Die auf gleicher Stufe stehenden Theosophen werden einander nicht widersprechen.

Ferner möchte ich einleitungsweise betonen, dass es ein arges Missverständnis ist, wenn vielfach angenommen wird, dass die theosophische Weltanschauung irgend etwas zu tun habe mit der Propagierung eines Buddhismus oder Neubuddhismus, wie es manche zu nennen belieben. Davon kann durchaus nicht die Rede sein.

Als Frau Blavatsky, Sinnett und andere die grundlegenden Anschauungen verbreiteten, auf denen die theosophische Weltanschauung fußt, da kam ihre erste Anregung allerdings aus dem Orient, aus Indien. Von dort kamen die ersten großen Lehren in den siebziger Jahren. Das war eine Anregung; aber dasjenige, was der Inhalt der Anschauung ist, die innerhalb der theosophischen Bewegung lebt, das ist ein Gemeingut nicht nur aller Zeiten, sondern auch aller derjenigen, die in diese Dinge eingedrungen sind. Es wäre falsch, zu glauben, dass, um Theosophie kennenzulernen, man nach Indien pilgern oder sich in indische Schriften vertiefen müsse. Das ist nicht der Fall.

Sie können in allen Kulturen die gleichen Philosophien und die gleichen theosophischen Lehren finden. Nur in dem, was wir die indische Vedantalehre nennen, ist gleichsam nichts verunreinigt durch die äußere Sinneswissenschaft. Es ist da in gewisser Weise erhalten geblieben derjenige Kern der Weltanschauung, der als Theosophie immer gelebt hat. Also nicht um buddhistische Propaganda handelt es sich, sondern um eine Weltanschauung, die jeder überall kennenlernen kann. Außerdem möchte ich im besonderen betonen, dass es allerdings für den Menschen der Gegenwart etwas Befremdendes hat, wenn er in den zuerst erschienenen Büchern der theosophischen Weltanschauung liest von den Quellen dieser Weltanschauung.

In demjenigen Buche, welches die meiste Verbreitung gefunden hat und das die meisten Menschen, die sich damit befasst haben, angeregt hat, sich weiter mit Theosophie zu beschäftigen, in der »Esoterischen Lehre oder Geheimbuddhismus« von Sinnett, wird in dem ersten Kapitel verwiesen auf die großen Lehrer, von denen die theosophischen Lehren stammen. So etwas ist allerdings der europäischen Kultur etwas unsympathisch. Dennoch ist es für den, der klar und konsequent denkt, nichts, was mit den landläufigen Begriffen nicht übereinstimmte. ... Es war im Grunde genommen nur wie eine Verwunderung, dass sich in unserer Entwickelung wirklich so entwickelte Persönlichkeiten finden, wie sie in Sinnetts Buch beschrieben werden. Solche Persönlichkeiten haben allerdings ein ganz außerordentliches Wissen, eine weltumspannende Weisheit. Es hätte keinen Zweck gehabt, wenn sie vor die Welt hingetreten wären.

Es ist kein absonderlicher Begriff, wenn wir sagen, dass die sogenannten Meister für uns große Anreger sind, weiter nichts, große Anreger auf den geistigen Gebieten. Allerdings geht deren Entwickelung weit über das Maß hinaus, das die landläufige Kultur bietet. Große Anreger sind sie uns; sie fordern aber nicht den Glauben an irgendeine Autorität, nicht den Glauben an irgendein Dogma. Sie appellieren an nichts anderes als an die eigene menschliche Erkenntnis und geben Anleitung, durch bestimmte Methoden die Kräfte und Fähigkeiten, die in jeder Menschenseele liegen, zu entwickeln, um zu den höheren Gebieten des Daseins hinaufzusteigen.

Es ist also am Anfang dieser Vorträge so, dass ich Ihnen scheinbar ein persönliches Bild geben werde, und zwar deshalb, weil ich nichts sagen werde, geflissentlich nichts sagen werde, was ich nicht selbst in der Lage war zu prüfen und wofür ich nicht selbst als Zeuge eintreten könnte. Auf der anderen Seite habe ich mich aber auch überzeugt, dass dasjenige, was ich in dieser Weise selbst zu sagen habe, durchaus übereinstimmend ist mit denjenigen, die die theosophische Weltanschauung zu allen Zeiten vertreten haben und insbesondere mit denjenigen, die sie heute vertreten. Es ist so wie bei den Menschen, die auf verschiedenen Punkten stehen und eine Stadt betrachten. Wenn sie ein Bild der Stadt zeichnen, so werden diese Bilder ein wenig voneinander verschieden sein, je nach der Perspektive, die sich für den betreffenden Gesichtspunkt ergibt. Ebenso sind natürlich auch die Weltbilder verschieden, die nach den eigenen Beobachtungen der theosophischen Forscher geschildert werden. Aber es ist ja doch im Grunde genommen immer dasselbe. So verhält sich das Weltbild, das ich geben werde, zu dem Weltbilde, das andere theosophische Forscher geben. Es stimmt durchaus überein und unterscheidet sich nur durch die Perspektive des Gesichtspunktes.

Ich werde in dem heutigen Vortrage ein Bild geben, zunächst mehr beschreibend, über die Grundbestandteile des Menschen, seiner physischen und geistigen Wesenheit nach. Ich werde dann in dem zweiten Vortrag übergehen zu den zwei wesentlichen Begriffen der theosophischen Weltanschauung, zu Reinkarnation oder Wiederverkörperung und zu Karma oder dem großen Menschenschicksal. Ich werde dann in den folgenden Vorträgen ein Bild geben von den drei Welten, die der Mensch auf seiner großen Pilgerfahrt zu durchlaufen hat, von der physischen Welt, die jeder kennt, von der astralischen Welt, die nicht jeder kennt, die aber jeder kennenlernen kann, wenn er in geduldiger Weise die entsprechenden Methoden anwendet, und von der geistigen Welt, die im wesentlichen das Seelenwesen zu durchlaufen hat. Dann werde ich in einem Vortrage das theosophische Weltbild im großen geben: Entstehung und Entwickelung der Welt und Menschenentwickelung, dasjenige, was man theosophische Menschenkunde und theosophische Astronomie nennen kann. Das ist der Plan.

Vor allen Dingen müssen wir uns klar sein darüber, was für Bestandteile wir in der Menschennatur haben. Durch ein sorgfältiges Studium, das uns die Theosophie an die Hand geben wird, werden wir kennenlernen, dass von diesen Bestandteilen des Menschen für die gewöhnliche Betrachtung nur der erste Hauptbestandteil vorhanden ist: die physische Natur des Menschen im weitesten Sinn des Wortes, dasjenige, was wir Körper nennen. Der Materialist betrachtet diesen Körper des Menschen als das einzige, was überhaupt die menschliche Wesenheit zusammensetzt.

Dazu fügt die theosophische Weltanschauung zwei weitere Bestandteile: das, was man zu allen Zeiten Seele genannt hat, und als höchsten Bestandteil das unvergängliche Wesen des Menschen, das, was keinen Anfang und kein Ende in unserem Sinne des Wortes hat: den Geist. Das sind, grob betrachtet, die Grundbestandteile des Menschen. Wer beobachten lernt auf den höheren Gebieten des Daseins, der lernt Seele und Geist ebenso beobachten, wie das physische Auge das Sinnliche, das Körperliche zu beobachten lernt. Allerdings haben die Menschen seit der Ausbreitung der reinen Sinneswissenschaft im Abendlande das Bewusstsein und auch die Fähigkeit der Beobachtung auf diesem höheren seelischen und geistigen Gebiete zum großen Teil verloren. Es ist nur auf eng begrenzte Kreise beschränkt geblieben.

Der letzte, der noch etwas auf dem Katheder gesprochen hat von diesen höheren Gebieten menschlicher Beobachtung, der noch in einem solchen Sinne gesprochen hat, dass man erkennen kann, dass er etwas wusste von dem, was man wissen kann, das ist Johann Gottlieb Fichte, der große deutsche Philosoph. Er hat, als er in Berlin an der neugegründeten Universität seine Vorträge eröffnete, ganz anders gesprochen als andere Philosophieprofessoren seit dem 17. Jahrhundert. Er hat so gesprochen, dass man erkennt: Er will nicht dasjenige bloß lehren, was man mit dem Verstand begreifen kann, sondern er will hinweisen darauf, dass der Mensch selbst sich entwickeln kann, dass Sinneswahrnehmung ein Untergeordnetes ist und dass der Mensch in sich Fähigkeiten entwickeln kann, die einfach im Alltagsleben nicht vorhanden sind. In der Geschichte der deutschen Geistesentwickelung waren diese Vorlesungen von Johann Gottlieb Fichte etwas Epochemachendes. Heute können sie allerdings für den nur bedeutungsvoll sein, der sie wieder ausgräbt. Denkwürdig ist die Stelle: »Diese Lehre setzt voraus ein ganz neues inneres Sinneswerkzeug, durch welches eine neue Welt gegeben wird, die für den gewöhnlichen Menschen gar nicht vorhanden ist ... Denke man eine Welt von Blindgeborenen, denen darum allein die Dinge und ihre Verhältnisse bekannt sind, die durch den Sinn der Betastung existieren. Tretet unter diese und redet ihnen von Farben und den anderen Verhältnissen, die nur durch das Licht für das Sehen vorhanden sind. Entweder ihr redet ihnen von nichts, und dies ist das Glücklichere, wenn sie es sagen; denn auf diese Weise werdet ihr bald den Fehler merken und, falls ihr ihnen nicht die Augen zu öffnen vermögt, das vergebliche Reden einstellen.«

Das ist es, um was es sich handelt, dass die Menschen hingewiesen werden sollen auf die Beobachtung von Seele und Geist. Die Theosophie ist durchaus nicht in irgendeinem Widerspruche mit der landläufigen Wissenschaft. Nicht einen einzigen der modernen Sätze der Wissenschaft braucht der Theosoph zu leugnen. Das alles gilt. So wie etwa unter einer Summe von Menschen, die blaublind sind, alles dasjenige, was in gelben und roten Farbennuancen vorhanden ist, wahrgenommen werden kann, just aber nichts Blaues, so kann für denjenigen, der geistig blind ist, Seele und Geist nicht wahrgenommen werden. Vollständig einleuchtend wird dies dann, wenn durch die entsprechenden Methoden aus dem Blinden ein Sehender geworden ist. Wenn er sehend wird, leuchtet um ihn herum eine neue Welt auf, die ebensowenig für ihn da war, wie für den Blaublinden die blaue Farbennuance da ist, bevor er durch eine Augenoperation dazu gebracht werden konnte, das Blaue neben dem Roten zu sehen.

Sehen Sie, das wusste Johann Gottlieb Fichte. Das wussten auch die Menschen in jenen Zeiten, in denen die Menschheit noch nicht betäubt war - ich sage das nicht in tadelndem Sinne -, das wussten die Menschen jener Zeit, und bei einigen wenigen hat sich die Tradition auch immer erhalten und wurden die Methoden ausgebildet. Sie wussten, dass, wenn man von der Wesenheit des Menschen spricht, man es nicht nur zu tun hat mit dem, was wir den Leib nennen, sondern dass das, was Seele ist, ebenso wahrgenommen werden kann, ebensolche Gesetze hat und ebenso in eine Welt eingebettet ist wie der Leib. In höherem Sinne ist es ebenso mit dem Geist. Der Menschenleib ist beherrscht von denselben Gesetzen, von denen rings um uns herum die anderen Dinge beherrscht sind. Im Menschenleib haben wir dasselbe, was wir in der physischen Welt haben; dieselben chemischen und physikalischen Gesetze finden wir auch im Menschenleib. Diese physische Welt ist für die physischen Sinne wahrnehmbar. Sie ist nicht nur subjektiv für den Menschen vorhanden, sondern auch objektiv für seine Wahrnehmung da. Subjektiv übt der Mensch die physische Tätigkeit aus. Er verdaut, er atmet, er isst und trinkt, er übt jene innere physische Tätigkeit des Gehirns aus, durch die die innere Gedankentätigkeit vermittelt wird; kurz, die ganze Tätigkeit, die uns die Biologie, die Physik und die anderen physischen Wissenschaften lehren, übt der Mensch aus. Das ist der Mensch, der das ausübt. Und man kann es auch wahrnehmen. Wenn der Mensch seinem Nebenmenschen gegenübertritt, so nimmt er unmittelbar oder durch die Mittel der Wissenschaft das, was er subjektiv ist, auch objektiv wahr.

Nun ist der Mensch aber subjektiv noch etwas Höheres, er ist auch eine Summe von Gefühlen, von Trieben, von Leidenschaften. Ebenso wie Sie verdauen, fühlen Sie, begehren Sie. Das sind auch Sie! Das nimmt ein Mensch unter gewöhnlichen Verhältnissen aber nicht objektiv wahr. Wenn er seinem Mitmenschen gegenübertritt, sieht er nicht äußerlich sein Gefühl, seine Begierde, seine Leidenschaft, seine Triebe. Wäre der Mensch blind, so würde er eine ganze Summe von physischen Tätigkeiten nicht sehen. Nur dadurch, dass er eine physische Sinnestätigkeit ausüben kann, ist das Physisch-Subjektive für ihn auch objektiv wahrnehmbar. Und weil er eine seelische Sinnestätigkeit zunächst nicht ausübt, ist das Seelisch-Subjektive, das Gefühl, sind die Triebe, die Leidenschaften, die Begierden zwar subjektiv in jedem Menschen vorhanden, wenn er aber seinen Mitmenschen gegenübertritt, kann er das nicht wahrnehmen. Nun kann er, ebenso wie er ein Auge ausgebildet hat auf physischem Wege, um die Körpertätigkeit wahrzunehmen, sein seelisches Auge ausbilden und die Welt der Triebe, Begierden, Leidenschaften wahrnehmen, kurz, es dahin bringen, das Seelische auch objektiv als Wahrnehmung vor sich zu haben. Diese Welt, in der der Durchschnittsmensch von heute zwar lebt, ohne dass er sie wahrnimmt, die er aber wahrnehmen kann, wenn er durch die entsprechenden Methoden die geeigneten Kräfte bei sich ausbildet, diese Welt nennen wir mit einem theosophischen Ausdruck die astrale oder mit einem deutschen Wort die seelische Welt. Das, was unsere landläufige Psychologie als Seele beschreibt, ist nicht das, was die Theosophie unter seelischem Leben versteht, sondern nur der äußere Ausdruck davon.

Eine noch höhere Welt als die seelische ist die geistige Welt. Derjenige, der imstande ist, das Seelische wahrzunehmen dadurch, dass seine Organe für das Seelische geöffnet sind, kann aber noch nicht das, was Geist ist, in seiner Umwelt wahrnehmen. Er kann das Seelische wahrnehmen, aber nicht den Gedanken selbst. Der Seelenseher sieht Begierden und Leidenschaften, aber nicht das Denken, nicht den objektiven Gedanken. Daher leugnen die, welche den objektiven Gedanken nicht sehen können, den objektiven Gedanken überhaupt. Man hat Hegel nicht verstanden, als er vom objektiven Vorhandensein der Gedankenwelt sprach. Und die, welche sie nicht wahrnehmen können, haben selbstverständlich von ihrem Standpunkte aus auch Recht, wenn sie sie leugnen. Sie können aber nichts anderes sagen, als dass sie sie nicht sehen, ebenso wie der Blindgeborene behauptet, dass er keine Farbe sieht.

Leib, Seele und Geist sind, roh betrachtet, die drei Grundbestandteile der menschlichen Wesenheit. Jeder Grundbestandteil hat wieder drei Bestandteile oder Stufenfolgen. Dasjenige, was gewöhnlich als Leib bezeichnet wird, ist nicht so einfach wie der materialistische Forscher es sich vorstellt. Es ist ein zusammengesetztes Ding, das aus drei Gliedern oder drei Bestandteilen besteht. Der unterste, gröbste Bestandteil ist in der Regel dasjenige, was der Mensch mit seinen physischen Sinnen sieht, der sogenannte physische Leib. Dieser physische Leib hat in sich dieselben Kräfte und Gesetze wie das Physische um uns herum, wie die ganze physische Welt. Die heutige Naturwissenschaft studiert am Menschen nichts anderes als diesen physischen Leib; denn auch unser kompliziertes Gehirn ist nichts anderes als ein Bestandteil dieses physischen Leibes. Alles, was unmittelbar raumerfüllend ist, was wir mit den bloßen Sinnen oder mit den bewaffneten Sinnen, mit dem bloßen Auge oder mit dem Mikroskop sehen können, kurz, alles dasjenige, was für den Naturforscher noch aus Atomen zusammengesetzt ist, das bezeichnet der Theosoph noch als physische Körperlichkeit. Das ist der unterste Bestandteil der physischen Wesenheit. Nun leugnen aber schon viele Forscher den nächsten Bestandteil der physischen Wesenheit, den Ätherkörper. Der Ausdruck Ätherkörper ist ja nicht glücklich gewählt. Aber nicht auf den Namen kommt es an. Dass man den Ätherkörper leugnet, ist erst das Ergebnis des neueren naturwissenschaftlichen Denkens. Es schließt sich an das Leugnen dieses Ätherkörpers ein schon lange dauernder naturwissenschaftlicher Streit. Ich will vorläufig nur kurz andeuten, was unter diesem Ätherkörper zu verstehen ist.

Wenn Sie ein Mineral betrachten, einen toten, leblosen Körper, und ihn mit der Pflanze vergleichen, dann werden Sie sich sagen - und das haben sich alle Menschen gesagt bis um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert, denn da ging der Streit wegen des Ätherkörpers los -, der Stein ist leblos, die Pflanze aber ist lebenerfüllt. Das, was also dazukommen muss, damit die Pflanze nicht Stein sei, das nennt die Theosophie Ätherkörper. Dieser Ätherkörper wird wohl besser mit der Zeit bloß Lebenskraft genannt werden, denn die Äther- oder Lebenskraft ist etwas, wovon die Naturwissenschaft bis ins 19. Jahrhundert hinein gesprochen hat. Die neuere Naturwissenschaft leugnet so etwas wie die Lebenskraft. Goethe hat bereits gespottet über jene, die nicht anerkennen, dass das Leben zur Erklärung etwas erfordert, was höher ist als das Leblose. Sie alle kennen die Stelle im »Faust«: »Wer will was Lebendigs erkennen und beschreiben, sucht erst den Geist herauszutreiben, dann hat er die Teile in seiner Hand, fehlt leider! nur das geistige Band.« Das Band der Lebenskraft meint Goethe. Ich habe in meinem Buche »Goethes Weltanschauung« diese Sache auseinandergesetzt.

Heute gibt es wieder eine Anzahl Naturforscher, welche glauben, nicht auskommen zu können mit dem Leblosen, die also wenigstens ahnend das annehmen, was die Theosophen den Ätherkörper nennen. Sie nennen sich die Neovitalisten. Ich brauche nur auf Hans Driesch und andere zu verweisen, um zu zeigen, wie der Naturforscher wiederum dazu kommt, diesen Ätherkörper, wenn auch unter anderen Namen, als etwas wirklich Bestehendes zu bezeichnen. Und je weiter die Naturwissenschaft vorrückt, desto mehr wird sie auch erkennen, dass die Pflanze schon einen solchen Ätherkörper hat, denn sonst könnte sie nicht leben. Auch das Tier und der Mensch haben einen solchen Ätherdoppelkörper. Derjenige Mensch, welcher die höheren Körper ausbildet, kann diesen Ätherkörper auch mit den einfachsten, primitivsten Organen seelischer Anschauung wirklich beobachten.

Dazu ist ein ganz einfacher, allerdings nur für den esoterisch ausgebildeten Theosophen, Kunstgriff notwendig. Sie kennen das Wort Suggestion. Die Suggestion besteht darin, dass der Mensch Dinge wahrnehmen kann, die scheinbar nicht da sind. Die Suggestion, bei der dem Menschen etwas eingeredet wird, interessiert uns zunächst nicht. Wichtiger für uns ist, um zu der Anschauung des Ätherkörpers zu kommen, eine andere Suggestion. Derjenige, der sich mit der Theorie der Suggestion befasst hat, weiß, dass der Hypnotiseur imstande ist, dem Menschen Dinge abzusuggerieren, so dass er Dinge, die vorhanden sind, eben nicht sieht. Sagen wir, es würde ein Hypnotiseur einem Menschen absuggerieren, dass hier eine Uhr liegt. Dann sähe der Betreffende nichts an der Stelle im Raum. Es ist dies nichts anderes, als ein Ablenken der Aufmerksamkeit auf einem abnormen Gebiet, ein künstliches Ablenken der Aufmerksamkeit. Diesen Vorgang kann jeder an sich beobachten. Der Mensch ist imstande, sich selbst abzusuggerieren, was vor ihm ist.

Der theosophisch Gebildete muss folgenden Kunstgriff ausführen können, dann gelangt er zur Anschauung des ätherischen Körpers: Er muss sich den physischen Körper eines Tiers oder eines Menschen absuggerieren. Ist dann sein geistiges Auge erweckt, dann sieht er nicht etwa an der Stelle, wo der physische Körper war, nichts, sondern er sieht den Raum ausgefüllt mit ganz bestimmten Farbenbildern. Die Ausführung dieser Anleitung muss natürlich mit der allergrößten Vorsicht geschehen, denn es sind allerlei Illusionen auf diesem Gebiete möglich. Allein, wer wirklich weiß, mit welcher Vorsicht, mit welcher alle wissenschaftliche Genauigkeit übersteigenden Exaktheit gerade die theosophische Forschung gepflegt wird, der weiß Bescheid. Der Raum ist erfüllt mit Lichtbildern. Das ist der Äther- oder Doppelkörper. Dieses Lichtbild erscheint in einer Farbe, die nicht in unserem gewöhnlichen Spektrum vom Ultrarot bis Ultraviolett enthalten ist. Sie ähnelt etwa der Farbe der Pfirsichblüte. Das ist die Farbe, in der der Ätherdoppelkörper erscheint. Einen solchen Ätherdoppelkörper finden Sie bei jeder Pflanze, bei jedem Tier, überhaupt bei jedem Lebewesen. Es ist der äußerliche, sinnliche Ausdruck für das, was der Naturforscher heute wieder ahnt, für das, was man Lebenskraft nennt. Damit haben wir das zweite Glied des physischen Leibes des Menschen.

Der physische Leib hat aber noch einen dritten Bestandteil. Den habe ich den Seelenleib genannt. Eine Vorstellung davon können Sie sich machen, wenn Sie sich denken, dass nicht jeder Körper, der lebt, auch empfinden kann. Ich kann mich nicht auf den Streit einlassen, ob die Pflanze auch empfinden kann, das steht auf einem anderen Blatt. Sie müssen das, was man im groben Sinne Empfinden nennt, ins Auge fassen. Was in dieser Art die Pflanze vom Tier unterscheidet, das wollen wir festhalten. Ebenso wie die Pflanze vom Stein unterschieden ist durch den Ätherdoppelkörper, so ist der Leib des Tieres als empfindender Leib wieder verschieden von dem bloßen Pflanzenkörper. Und dasjenige, was im Tierkörper ebenso hinausragt über das bloße Wachsen und Fortpflanzen, dasjenige, was die Empfindung möglich macht, das bezeichnen wir als den Seelenkörper. In dem physischen Leib, in dem Ätherleib und drittens in dem Seelenleib, dem Träger des Empfindungslebens, haben wir nur die äußerliche Seite des Menschen und des Tieres. Damit haben wir das beobachtet, was im Räume lebt.

Nun kommt dasjenige, was im Inneren lebt, dasjenige, was wir als empfindendes Selbst bezeichnen. Das Auge hat eine Empfindung und führt sie dahin, wo die Seele die Empfindung wahrnehmen kann. Wir gewinnen hier den Übergang vom Körper in die Seele, wenn wir aufsteigen vom Seelenleib in die Seele, in das unterste Glied der Seele, das bezeichnet wird als Empfindungsseele. Empfindungsseele hat auch das Tier, denn es setzt das, was der Körper ihm zubereitet für die Empfindung, das, was die Seele ihm zubereitet, in inneres Leben, in Seelenleben, in Empfindungen um. Nun kann man aber in der Wahrnehmung beim seelischen Schauen den Seelenleib und die Empfindungsseele nicht getrennt wahrnehmen. Diese stecken sozusagen ineinander und bilden ein Ganzes. Grob kann man vergleichen das, was hier ein Ganzes bildet - den Seelenleib als äußere Hülle und die darin steckende Empfindungsseele -, mit dem Schwert, das in der Scheide steckt. Das bildet für die seelische Anschauung ein Ganzes und wird von der Theosophie Kamarupa oder Astralleib genannt. Das höchste Glied des physischen Leibes und das niederste Glied der Seele bilden ein Ganzes und werden in der theosophischen Literatur Astralleib genannt.

Das zweite Glied der Seele ist dasjenige, was das Gedächtnis und den niederen Verstand umfasst. Das höchste Glied ist dasjenige, was im eigentlichen Sinne das Bewusstsein enthält. Aus drei Gliedern besteht sowohl die Seele wie auch der Leib. Wie der Leib aus physischem Körper, Ätherdoppelkörper und Seelenleib oder Astralkörper besteht, so besteht die Seele aus Empfindungsseele, Verstandesseele und Bewusstseinsseele. Den richtigen Begriff davon kann nur derjenige bekommen, der durch die geisteswissenschaftlichen Methoden die Fähigkeiten ausbildet, die zum wirklichen Schauen führen. Was wir empfinden von den Dingen von außen, das haftet an der Empfindungsseele. Und was wir Gefühl nennen, Gefühl der Liebe, Gefühl des Hasses, Gefühl des Verlangens, also Sympathie und Antipathie, das haftet an dem zweiten Glied der Seele, an der Verstandesseele, an Kamamanas. Das dritte Glied, die Bewusstseinsseele, ist dasjenige, was der Mensch nur an einem einzigen Punkte beobachten kann. Das Kind hat in der Regel nur ein Bewusstsein von den zwei ersten Seelengliedern. Es lebt nur in den zwei Gliedern der Seele, die ich genannt habe, in der Empfindungsseele und in der Verstandesseele, aber es lebt noch nicht in der Bewusstseinsseele. In dieser Bewusstseinsseele fängt der Mensch zu leben an im Verlaufe seines Kindheitsalters, und dann wird diese Bewusstseinsseele zur selbstbewussten Seele.

Diejenigen, welche das eigene Leben fein zu beobachten verstehen, betrachten diesen Punkt in ihrem Leben als etwas besonders Wichtiges. Diesen Punkt finden Sie geschildert in Jean Pauls eigener Lebensbeschreibung, da wo er das Bewusstsein des inneren Selbst erlebt. »Nie vergess ich die noch keinem Menschen erzählte Erscheinung in mir, wo ich bei der Geburt meines Selbstbewusstseins stand, von der ich Ort und Zeit anzugeben weiss. An einem Vormittag stand ich als ein sehr junges Kind unter der Haustür und sah links nach der Holzlege, als auf einmal das innere Gesicht: ich bin ein Ich, wie ein Blitzstrahl vom Himmel vor mich fuhr und seitdem leuchtend stehen blieb. Da hatte mein Ich zum ersten Male sich selber gesehen und auf ewig. Täuschungen des Erinnerns sind hier schwerlich denkbar, da kein fremdes Erzählen sich in eine bloß im verhangenen Allerheiligsten des Menschen vorgefallene Begebenheit, deren Neuheit allein so alltäglichen Nebenumständen das Bleiben gegeben, mit Zusätzen mengen konnte.« Damit ist das höchste Gebilde der Seele, so wie der Mensch es lebt, dargestellt.

Bei dem seelisch Erweckten stellen sich in der Tat auch der äußerlichen Anschauung die drei Bestandteile der Seele dar. So wie der Ätherdoppelkörper, so stellen sich auch die drei Stufen, die drei Bestandteile der Seele wirklich für die äußere seelische Anschauung dar. Ich sagte schon, der Empfindungsleib ist nie von dem Seelenleib in der Anschauung trennbar. Nun stellt sich dieser höhere Teil des Menschen, die Seele, dar in dem, was die theosophische Literatur als die sogenannte Aura bezeichnet. Wer durch die Anschauung Kenntnis davon haben will, muss lernen, sie zu sehen.

Die Aura ist dreigliedrig. Die drei Glieder stecken ineinander wie drei ovale Nebelgebilde, die die menschliche Gestalt umhüllen und einhüllen. In dieser Aura stellt sich der Seelenleib des Menschen für unsere Anschauung dar. Sie erglänzt in den mannigfaltigsten Farben, die nur einen äußerlichen Vergleich zulassen mit dem, was wir Farben des Spektrums nennen. In diesen Farben, die auf die höhere Oktave wiederum gehen von Rot und Violett, erglänzt in der mannigfaltigsten Weise das, was wir die Aura nennen. In dieser ist der Mensch eingebettet wie in einer Wolke und in dieser Wolke drückt sich das aus, was als Begierde, Leidenschaft, Triebe in der Menschenseele lebt. Der ganze Gefühlsorganismus des Menschen spricht sich in dem wunderbaren Farbenspiel der Aura aus. Diese dreigliedrige Aura ist die Seele des Menschen. Das ist die Seele, wenn man sie objektiv wahrnimmt. Subjektiv kann sie jeder wahrnehmen: Jeder fühlt und begehrt und hat Leidenschaften. Er lebt sie so, wie er das Verdauen lebt und das Atmen. Aber die äußere gewöhnliche Schule der Psychologie beschreibt in der Regel nur das, was ich den Seelenleib genannt habe, oder sie beschreibt höchstens noch den äußeren Ausdruck des Seelenlebens, nicht aber dasjenige, was die Theosophie unter Seele versteht. Was sie unter der Seele versteht, ist eine objektive Tatsache. Aber man kann in der Regel nur so darauf hindeuten, wie es Fichte getan hat, als er darauf aufmerksam machte, dass in dieser Welt höhere Erlebnisse sind, denen gegenüber aber der nur sinnlich wahrnehmende Mensch wie ein Blindgeborener ist.

Damit haben wir die drei Glieder des menschlichen physischen Körpers und die drei Glieder der menschlichen Seele geschildert. Da aber des Menschen physischer Leib in seinem dritten Teile eine Einheit bildet mit dem menschlichen Seelenglied, so haben wir zuerst zwei Teile plus einen plus weitere zwei, also fünf Teile: physischer Leib, Ätherleib, Seelenleib, Verstandesseele, Bewusstseinsseele, in der das Ich aufleuchtet. Dieses Ich ist ein ganz interessanter Punkt in der Aura. An einer Stelle wird das Ich wahrnehmbar. Da finden Sie innerhalb des äußeren Ovals eine merkwürdige, blau flimmernde oder blau schillernde Stelle, auch ovalförmig. Es ist eigentlich so, wie wenn Sie eine Kerzenflamme sehen; aber mit der Differenz, die die astralen Farben gegenüber den physischen Farben haben, ist es so, wie wenn Sie in der Kerzenflamme in der Mitte das Blau sähen. Das ist das Ich, das da wahrgenommen wird innerhalb der Aura. Und das ist eine sehr interessante Tatsache. Wenn der Mensch auch noch so weit sich entwickelt, wenn er auch noch so weit seine hellseherischen Gaben ausbildet, an dieser Stelle sieht er zunächst diesen blauen Ich-Körper, diesen blauen Lichtkörper. Das ist ein verhangenes Heiligtum, auch für den Hellseher. Niemand kann in das eigentliche Ich des anderen hineinschauen. Das bleibt selbst für denjenigen, der seine seelischen Sinne entwickelt hat, zunächst ein Geheimnis. Nur innerhalb dieser blau flimmernden Stelle glänzt Neues auf. Da ist eine neue Flammenbildung, die im Mittelpunkt der blauen Flamme aufglänzt. Das ist das dritte Glied, der Geist.

Dieser Geist besteht wieder aus drei Gliedern, wie die anderen Bestandteile des Menschen. Die morgenländische Philosophie nennt diese Manas, Buddhi, Atma. Diese drei Bestandteile sind bei den heutigen Menschen so ausgebildet, dass eigentlich nur der unterste Teil, das Geistselbst - das ist die richtige Übersetzung für Manas - in der Anlage bei dem heutigen denkenden Menschen entwickelt ist. Es ist dieses Manas ebenso fest verbunden mit dem höchsten Gliede der Seele wie die Empfindungsseele mit dem Seelenleib, so dass wieder das Höchste der Seele und das Niederste des Geistes ein Ganzes bilden, weil man sie nicht unterscheiden kann. Man sieht eben in der Aura das höchste Glied der Seele in dem Mittelpunkte der blau flimmernden Stelle, wo das Ich sitzt, und man sieht aufleuchten innerhalb des Ich den Geist. Der Geist ist heute bei der Menschheit bis zum Manas entwickelt. Die beiden höheren Teile, Buddhi und Atma - Lebensgeist und Geistesmensch -, sind in der Anlage entwickelt, und wir werden sehen, wie sie sich weiter entwikkeln werden, wenn wir im nächsten Vortrag über Reinkarnation und Karma sprechen.

Das ist es, was verbunden dasteht, das höchste Gebilde der Seele und das niederste Gebilde des Geistes. Was nicht getrennt beobachtet werden kann, das nennt die theosophische Literatur schlechtweg Manas. Die zwei höchsten Gebilde, Buddhi und Atma, sind die tiefste Wesenheit des Menschen, sind der unsterbliche Menschengeist. So haben wir drei mal drei Glieder der menschlichen Wesenheit, von denen das dritte mit dem vierten zu einem Ganzen verbunden ist, und ebenso das sechste mit dem siebenten. Dadurch kommt die berühmte oder berüchtigte Siebenzahl in der menschlichen Zusammensetzung, die Sie so oft lesen können, zustande. In Wahrheit besteht der Mensch aus Leib, Seele und Geist und jedes Glied wieder aus drei Bestandteilen; davon sind zwei mal zwei Glieder je zu einem Ganzen vereinigt, wodurch die Neun zu einer Sieben sich reduziert. In dem zweiten der drei Glieder, dem höheren Teil, lebt der Mensch zunächst. Der Mensch kann sie mit den äußeren Sinnen nicht wahrnehmen.

Ich habe schon erwähnt in dem Einleitungsvortrage, dass die theosophische Literatur nicht nur eine Beschreibung gibt der verschiedenen Lebensgebiete, sondern auch die Mittel und Wege zeigt, durch welche sich der Mensch zu den Methoden erheben kann, die es ihm ermöglichen, selbst dies alles wahrzunehmen. Nur gehört dazu, ebenso wie es für den Naturforscher notwendig ist, das Mikroskopieren zu lernen, um Einblick zu gewinnen in die physische Natur, eine gewisse geistige Entwickelung, um dasjenige, was wir beschrieben haben, in eine echte Anschauung zu bringen. Jeder kann das kennenlernen; es ist nicht das Gut von wenigen Bevorzugten, sondern ein Gesamtgut für alle. Diejenigen, welche sich sehr darauf eingelassen haben, die Anweisungen der Theosophischen Gesellschaft zu befolgen, und die selbst zu Anschauungen gekommen sind, können das, was sie erfahren haben, erzählen. Sie betrachten es nicht anders, als wie wenn ein Afrikaforscher von seinen Erlebnissen erzählt. Diese können nicht nachgeprüft werden, wenn man nicht selbst dahin geht. Die Methoden werden aber gewöhnlich nicht ernst genug genommen. Würde wirklich und ernsthaft durchgeführt, was im letzten Kapitel meines Buches »Theosophie« gegeben ist, dann könnte ein Mensch schon sehr weit kommen in der Beobachtung der höheren Gebiete des menschlichen Geistes.

Wer sich ein theosophisches Weltbild machen kann, der wird manches verstehen, was er vorher im gewöhnlichen Verlauf des Lebens nicht hat verstehen können. Sie können schon ganz bestimmte Gebiete bei Goethe nicht verstehen, wenn Sie nicht eine Ahnung haben von Theosophie. Goethes Ausführungen über die Pflanzenwelt versteht nur derjenige, welcher eine Ahnung davon hat, was Goethe die Lebensvorgänge oder die Metamorphose der Pflanzen nennt. Dass Goethe Theosoph war, geht aus einer »verborgenen« Schrift hervor, die zwar in jeder Ausgabe vorhanden ist, jedoch von den wenigsten gelesen wird: aus dem »Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie«. Das enthält die ganze Theosophie, aber so, wie von jeher die theosophischen Wahrheiten mitgeteilt worden sind. Erst seit der Begründung der Theosophischen Gesellschaft sind sie äußerlich zum Ausdruck gekommen; früher konnten sie nur bildlich dargestellt werden. Das »Märchen« ist ein solcher bildlicher Ausdruck für die theosophische Lehre. In Leipzig hat Goethe Einblick gewonnen in diejenige Welt, von der wir sprechen, und zwar in ziemlich tiefgehender Weise. Manches im »Faust« weist darauf hin, dass Goethe zu den eingeweihten Theosophen gehörte. Manches ist bei Goethe wie das Glaubensbekenntnis eines Theosophen. Ich möchte den heutigen Vortrag beschließen mit Goethes Worten, welche wie ein Motto über diesem Vortrag stehen könnten, weil sie in großen Zügen und in lapidarem Stil verkündigen, dass die Welt nicht physische Natur allein ist, sondern auch seelische und geistige Wesenheit. Und dass die Welt eine geistige Wesenheit ist, drückt eben Goethe aus da, wo er den Erdgeist die Worte sagen lässt, die das Weben des Geisteslebens in der ganzen Welt erkennen lassen:

In Lebensfluten, im Tatensturm

Wall' ich auf und ab,

Webe hin und her!

Geburt und Grab,

Ein ewiges Meer,

Ein wechselnd Weben,

Ein glühend Leben:

So schaff ich am sausenden Webstuhl der Zeit

Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid.