Die Psychologie der Künste | 1921

Rudolf Steiner, GA 271, Die Psychologie der Künste, Vortrag in Dornach, 9. April 1921

Wie man über die Künste reden soll, mit dieser Frage, ich darf es wohl sagen, ringe ich eigentlich mein ganzes Leben hindurch, und ich werde mir gestatten, den Ausgangspunkt von zwei Etappen zu nehmen, innerhalb welcher ich versucht habe, mit diesem Ringen etwas haltzumachen.

Es war zum ersten Mal, als ich Ende der achtziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts vor dem Wiener Goetheverein meinen Vortrag zu halten hatte: »Goethe als Vater einer neuen Ästhetik.« Mit demjenigen, was ich damals sagen wollte über das Wesen der Künste, kam ich mir vor wie ein Mensch, der reden wollte, aber eigentlich stumm ist und durch Gebärden ausdrücken muss, worauf er eigentlich hinzudeuten hat. Denn es war mir damals aus gewissen Lebensvoraussetzungen heraus nahegelegt, durch philosophische Urteile über das Wesen der Künste zu sprechen. Ich hatte mich durchgearbeitet aus dem Kantianismus zu dem Herbartianismus in der Philosophie, und dieser Herbartianismus trat mir in Wien in einer für den Herbartianismus repräsentativen Persönlichkeit, in dem Ästhetiker Robert Zimmermann entgegen. Robert Zimmermann hatte seine große »Geschichte der Ästhetik als philosophische Wissenschaft« vor damals ziemlich langer Zeit vollendet. Er hatte auch schon der Welt vorgelegt seine systematische Schrift über »Ästhetik als Formwissenschaft«, und ich hatte mich treulich durchgearbeitet durch dasjenige, was Robert Zimmermann, der Herbartische Ästhetiker, auf diesem Gebiet der Welt mitzuteilen hatte.

Und dann hatte ich in den Vorlesungen der Wiener Universität diesen repräsentativen Herbartianer Robert Zimmermann vor mir. Als ich Robert Zimmermann persönlich kennen lernte, da war ich ganz erfüllt von der geistvollen, beseelten, ausgezeichneten Persönlichkeit dieses Mannes. Dasjenige, was in dem Menschen Robert Zimmermann lebte, das konnte einem nur außerordentlich und tief sympathisch sein. Ich muss sagen, trotzdem die ganze Gestalt Robert Zimmermanns etwas außerordentlich Steifes an sich trug, gefiel mir in dieser Steifheit sogar manches, weil die Art und Weise, wie diese Persönlichkeit in jener eigentümlichen Färbung, welche die deutsche Sprache bei denjenigen gewinnt, die sie sprechen aus dem Deutschböhmischen, aus dem Prager Deutsch heraus, aus dieser Sprachnuance heraus, ganz besonders sympathisch war. Das Prager Deutsch Robert Zimmermanns machte mir in einer seltenen Art es außerordentlich sympathisch, wenn er mir, der ich mich schon dazumal mit Goethes »Farbenlehre« intensiv beschäftigte, sagte: Ach, Goethe ist als Physiker doch nicht ernst zu nehmen! Ein Mann, der nicht einmal Newton verstehen konnte, der ist als Physiker nicht ernst zu nehmen! – Und ich muss sagen, was der Inhalt dieses Satzes enthält, verschwand mir völlig hinter der kokett-graziösen Art, durch die sich so etwas bei Robert Zimmermann dem andern mitteilte. Ich hatte eine solche Gegnerschaft außerordentlich lieb.

Ich lernte aber dann auch, oder vielleicht vorher schon, Robert Zimmermann kennen, wenn er nun als Herbartianer vom Katheder heruntersprach. Und ich muss sagen, da hörte der liebenswürdige, sympathische Mensch ästhetisch vollständig auf, da wurde aus dem Menschen Robert Zimmermann ganz und gar ein Herbartianer. Ich war mir anfangs nicht ganz klar, was es zu bedeuten hatte, wie dieser Mann hereintrat schon durch die Türe, hinaufstieg auf das Podium, seinen feinen Spazierstock ablegte, merkwürdig seinen Rock auszog, merkwürdig dem Stuhl zuschritt, merkwürdig sich setzte, merkwürdig die Brille abnahm, merkwürdig eine Weile innehielt, merkwürdig mit den seelenvollen Augen, nachdem sie entbrillt waren, den Blick nach links, nach rechts, nach der Tiefe über die sehr geringe Anzahl vorhandener Zuhörer schweifen ließ, und es war zunächst etwas Frappierendes darin gelegen. Da ich aber mich schon seit längerer Zeit in intensiver Weise mit der Lektüre Herbartscher Schriften beschäftigt hatte, so ging mir gleich nach dem ersten Eindruck ein Licht auf und ich sagte mir: Ach ja, da wird hereingetreten zur Türe auf Herbartisch, da wird der feine Spazierstock Herbartisch abgelegt, da wird der Rock Herbartisch ausgezogen, da schweift man Herbartisch über die Zuhörerschaft hin mit den entbrillten Augen. – Und nun fing Robert Zimmermann auch in seiner außerordentlichen sympathischen, vom Prager Dialekt durchfärbten Mundart an zu sprechen über praktische Philosophie, und siehe da, dieses Prager Deutsch kleidete sich in die Form herbartischer Ästhetik.

Das erlebte ich, und dann verstand ich vom subjektiv Zimmer-mannschen Standpunkte aus gut, was es eigentlich bedeutete, dass als Motto der Zimmermannschen Ästhetik auf dem ersten Blatte der Schillersche Ausspruch stand, der ja allerdings bei Robert Zimmermann ins Herbartische umgesetzt war: In der Vertilgung des Stoffes durch die Form liegt das wahre Kunstgeheimnis des Meisters – denn ich hatte gesehen, wie der liebenswürdige, sympathische, durch und durch graziöse Mensch als Inhalt vertilgt erschien und in Herbartischer Form auf dem Katheder wieder auftauchte. Es ward ein für die Psychologie der Künste außerordentlich bedeutungsvoller Eindruck.

Und wenn Sie verstehen, dass man eine solche Charakteristik machen kann auch dann, wenn man liebt, so werden Sie auch den Ausdruck nicht schief nehmen, den ich jetzt gebrauchen will, dass mir Robert Zimmermann, den ich sehr verehrt habe, verzeihen möge, dass ich das Wort »Anthroposophie«, welches er verwendet hat in einem Buche, um eine aus logischen, ästhetischen und ethischen Abstraktionen zusammengefügte Pappendeckelfigur zu kennzeichnen, dass ich dieses Wort verwendet habe, um den durchgeistigten und beseelten Menschen wissenschaftlich zu behandeln, Robert Zimmermann hat sein Buch, in dem er diese Prozedur, die ich eben geschildert habe, verrichtete, eben »Anthroposophie« genannt.

Von diesem Erlebnis, durch das sozusagen Künstlerisches in eine inhaltslose Form umgegossen erschien, hatte ich mich zu befreien, als ich meinen Vortrag über »Goethe als Vater einer neuen Ästhetik« hielt. Ich konnte aufnehmen das Vollberechtigte der Zimmermannschen Anschauung, dass man es in der Kunst durchaus zu tun habe nicht mit den Inhalten, nicht mit dem Was, sondern mit dem, was aus dem Inhalte des Beobachteten und so weiter durch die Phantasie, durch das Schöpferische des Menschen gemacht wird. Und von Schiller sahen wir auch Herbart die Form nehmen. Ich konnte durchaus das Tiefberechtigte dieser Tendenz einsehen, aber ich konnte mich doch nicht entbrechen, dem gegenüberzusetzen, dass das, was so von der wirklichen Phantasie als Form erreicht werden kann, heraufgehoben werden muss und nun so erscheinen müsse im Kunstwerke, dass wir aus dem Kunstwerke heraus einen ähnlichen Eindruck bekommen wie sonst nur aus der Ideenwelt. Durchgeistigen, was der Mensch wahrnehmen kann, hinauftragen das Sinnliche in die Sphäre des Geistes, nicht Vertilgen des Stoffes durch die Form, das war es, wovon ich mich dazumal zu befreien suchte von dem, was ich aufgenommen hatte in einem treulichen Durcharbeiten der Herbartschen Ästhetik.

Es waren allerdings auch noch andere Elemente eingeflossen. Ein Philosoph der damaligen Zeit, den ich ebenso gern hatte wie Robert Zimmermann, der mir als Mensch außerordentlich teuer ist, Eduard von Hartmann, er hat auf allen Gebieten der Philosophie geschrieben, und er hat gerade in jener Zeit auch über Ästhetik geschrieben, über Ästhetik aus einem zum Teil ähnlichen, zum Teil anderen Geiste heraus als Robert Zimmermann geschrieben hatte. Und wiederum werden Sie die Objektivität, die ich versuche, nicht so deuten, als ob ich lieblos werden wollte deshalb. Die Eduard von Hartmannsche Ästhetik kann man ja charakterisieren dadurch, dass Eduard von Hartmann den Künsten, die ihm eigentlich ziemlich fernstanden, etwas abzog, das er dann den ästhetischen Schein nannte. Er zog das den Künsten ab, was er den ästhetischen Schein nannte, so wie man ungefähr verfahren würde, wenn man einem lebendigen Menschen die Haut abzöge. Und dann machte Eduard von Hartmann nach dieser Prozedur, nachdem er sozusagen den Künsten, den lebendigen Künsten die Haut abgezogen hatte, daraus seine Ästhetik. Und die abgezogene Haut – ist es wunderbar, dass sie zu Leder wurde unter der harten Bearbeitung, welche ihr dann widerfuhr durch den den Künsten so fernstehenden Ästhetiker? – Das war das zweite, wovon ich mich dazumal zu befreien hatte. Und ich versuchte als Stimmungsgehalt in meinen Vortrag dazumal aufzunehmen, was ich nennen möchte: Es muss der Philosoph, wenn er über die Künste reden will, die Entsagung haben, stumm zu werden in einer gewissen Beziehung und nur durch keusche Gebärden hindeuten wollen auf dasjenige, in das Philosophie sprechend eigentlich doch niemals ganz eindringen kann, vor dem sie uneindringlich stehenbleiben und auf das Wesentliche wie ein stummer Betrachter hindeuten muss.

Das war die Stimmung, psychologisch charakterisiert, aus der ich dazumal in meinem Vortrag über »Goethe als Vater einer neuen Ästhetik« sprach.

Dann trat an mich später die Aufgabe heran, einen zweiten Halt zu machen auf dem Wege jener Frage, die ich eingangs meiner heutigen Betrachtung charakterisierte. Es war, als ich vor Anthroposophen über das »Wesen der Künste« sprach. Und jetzt konnte ich, nach der damaligen Stimmung des ganzen Milieus, nicht in derselben Art sprechen. Jetzt wollte ich so sprechen, dass ich innerhalb des künstlerischen Erlebens selbst stehenbleiben konnte. Jetzt wollte ich künstlerisch über Kunst sprechen. Und ich wusste wiederum, jetzt bin ich auf der anderen Seite des Ufers, jenseits welchem ich dazumal mit meinem Vortrage »Goethe als Vater einer neuen Ästhetik« gestanden habe. Und jetzt sprach ich so, dass nun sorgfältig vermieden wurde das Hineingleiten in philosophische Formulierung. Denn ich empfand es wie etwas, was sofort das eigentliche Wesen der Kunst aus den Worten hinwegnimmt, wenn man hineingleitet in philosophische Charakteristik. Das Unkünstlerische des bloßen Begriffes durchwühlte dazumal die Kräfte, aus denen die Rede kommt. Und ich versuchte aus jener Stimmung heraus nunmehr psychologisch über die Künste zu sprechen, welche im strengsten Sinne vermeidet, bis zur philosophischen Formulierung hinzugleiten. Heute soll ich nun wieder über die Psychologie der Künste sprechen.

Es ist eigentlich nicht besonders leicht, nachdem man die beiden anderen Etappen innerlich lebendig durchgemacht hat, an irgendeiner anderen Stelle Halt zu machen. Und da konnte ich denn nicht anders, als mich mit der Betrachtung an das Leben wenden. Ich suchte irgendeinen Punkt, durch den ich mit der Betrachtung über das Künstlerische ins Leben hineinkommen könnte. Und siehe da, ich fand wie etwas selbstverständlich Gegebenes den liebenswürdigen Romantiker Novalis. Und wenn ich mir nun nach diesem Blicke auf Novalis die Frage aufwerfe: Was ist poetisch? Was ist in dieser besonderen Form des künstlerischen Erlebens in dem poetischen Leben eigentlich enthalten? – da steht lebendig die Gestalt des Novalis vor mir. Merkwürdig, Novalis wird hereingeboren in diese Welt mit einer eigentümlichen Grundempfindung, die ihn hinweghob über die äußere prosaische Wirklichkeit durch seinen ganzen physischen Lebensgang hindurch. Es ist etwas in dieser Persönlichkeit, was wie mit Flügeln behaftet in poetischen Sphären hinwegschwebt über dasjenige, was die Prosa des Lebens ist. Es ist etwas, was unter uns Menschen so gelebt hat, wie wenn es einmal an einer Stelle des Weltengeschehens ausdrücken wollte: So steht es dem äußerlich Sinnlich-Wirklichen gegenüber mit dem Erleben des wahrhaft Poetischen. Und diese Persönlichkeit des Novalis lebt sich herein in das Leben, und sie beginnt ein geistig durch und durch wirkliches Liebesverhältnis zu einem zwölfjährigen Mädchen, Sophie von Kühn. Und die ganze Liebe zu dem noch geschlechtlich unreifen Mädchen ist in herrlichste Poesie gekleidet, so in Poesie gekleidet, dass man niemals versucht wird, bei der Betrachtung dieses Verhältnisses an irgend etwas Sinnlich-Wirkliches zu denken. Aber alle Inbrunst der menschlichen Empfindung, welche durchgemacht werden kann, wenn die menschliche Seele wie in poetischen Sphären frei über der prosaischen Wirklichkeit schwebt, alle Inbrunst dieser Empfindung lebt in dieser Liebe des Novalis zu Sophie von Kühn. Und dieses Mädchen stirbt zwei Tage nach Vollendung des vierzehnten Lebensjahres, in derjenigen Zeit, wo die anderen Menschen die Wirklichkeit des physischen Lebens so stark berührt, dass sie heruntersteigen in die Geschlechtlichkeit des physischen Leibes. Bevor dieses Ereignis eintreten konnte bei Sophie von Kühn, wird sie hinaufentrückt in geistige Welten, und Novalis beschließt aus einem stärkeren Bewusstsein heraus, als das instinktivisch-poetische bei ihm bisher war, Sophie von Kühn in seinem lebendigen Seelenerleben wie nachzusterben. Er lebt mit derjenigen, die nicht mehr in der physischen Welt ist. Und diejenigen Menschen, die mit innigstem Menschenempfinden nach jener Zeit an Novalis herangetreten sind, sagen, dass er lebendig auf der Erde herumwandelnd, wie ein in die Geisteswelten Entrückter war, der mit irgend etwas redet, was nicht auf dieser Erde ist, nicht dieser Erde in Wirklichkeit angehört. Und er selbst kommt sich innerhalb dieser prosaentrückten poetischen Wirklichkeit so vor, dass ihm dasjenige, was andere Menschen nur in der Beherrschung der äußeren Kräfte sehen, der vollste, in die Wirklichkeit übergehende Ausdruck des Willens, schon erscheint innerhalb der poetisch-idealen Welt, und er von »magischem Idealismus« spricht, um seine Lebensrichtung zu kennzeichnen.

Versucht man dann, alles dasjenige, was aus dieser wunderbar gestalteten Seele, die also ohne die Wirklichkeit, die äußere Wirklichkeit zu berühren lieben konnte, die also mit dem leben konnte, was ihr wirklich entrissen war, bevor eine gewisse Etappe der äußeren Wirklichkeit erreicht war, zu verstehen, lässt man sich ein auf all dasjenige, was dieser Novalis-Seele dann entflossen ist, dann bekommt man den reinsten Ausdruck des Poetischen. Und es löst sich eine Frage, die psychologisch ist, einfach dadurch, dass man sich vertieft in den künstlerischen Strom des Poetisierens, der aus Novalis' poetischen und prosaischen Schriften fließt.

Dann aber hat man einen merkwürdigen Eindruck. Man hat den Eindruck, wenn man sich in dieser Weise psychologisch in das Wesen des Poetischen vertieft an einer Lebenswirklichkeit, an der des Novalis, dass man dann hinter dem Poetischen etwas schweben hat, was durch alles Poetische hindurchtönt. Man hat den Eindruck, als ob dieser Novalis aus geistig-seelischen Sphären hervorgegangen wäre, sich mitgebracht hätte, was mit poetischem Glanz überschüttet das äußerlich prosaische Leben. Man hat den Eindruck, dass sich da eine Seele in die Welt begeben hat, welche sich das Geistig-Seelische in seiner reinsten Form so mitgebracht hat, dass es den ganzen Körper durchseelte und durchgeistigte, und dass es in die Seelenverfassung, die geistig und seelisch war, Raum und Zeit so aufnahm, dass Raum und Zeit, ihr äußeres Wesen abstreifend, in der Seele des Novalis poetisch wieder erschienen. Wie ein Verschlingen von Raum und Zeit ist es in der Poesie des Novalis.

Man sieht, mit starker Seele und starkem Geiste tritt die Poesie in die Welt herein, und aus ihrer Stärke heraus gliedert sie sich ein Raum und Zeit. Aber sie überwältigt Raum und Zeit, Raum und Zeit zerschmelzend durch die Kraft der menschlichen Seele, und in diesem Zerschmelzen von Raum und Zeit durch die Kraft der menschlichen Seele liegt die Psychologie der Poesie. Aber hindurch tönt bei Novalis durch diesen Prozess des Zerschmelzens von Raum und Zeit etwas, was wie ein tiefes Grundelement darinnen war. Man konnte es überall, man kann es überall durch dasjenige hindurch hören, was Novalis der Welt geoffenbart hat, und man kann dann nicht anders, als sich sagen: Was Seele, was Geist ist, es trat da zutage, um poetisch zu bleiben, um durch das Sich-Aneignen von Raum und Zeit poetisch Raum und Zeit zu zerschmelzen. Aber es blieb zunächst etwas als Untergrund dieses Seelischen, etwas, was am tiefsten drinnenliegt in der menschlichen Seele, so tief drinnenliegt, dass es als Gestaltungskraft entdeckt werden kann, indem es die tiefsten inneren Verhältnisse des menschlichen Organismus selber gestaltet, indem es im Innersten des Menschen als Seele schaffend lebt. Es lebte als Grundelement in allem Poetischen des Novalis das Musikalische, das Musikalische, die tönende künstlerische Welt, die sich offenbart aus der Weltenharmonie heraus und die das auch im Intimsten an der Menschenwesenheit künstlerisch aus dem Kosmos heraus Schaffende ist.

Versucht man hineinzukommen in diejenige Sphäre, wo Geistig-Seelisches im Menschen am intimsten schafft, dann kommt man an ein musikalisches Gestalten in dem Menschen, und dann sagt man sich: Ehe der Musiker hinaustönt in die Welt seine Töne, hat das musikalische Wesen selbst das Wesen des Musikers ergriffen und zuerst eingekörpert, eingestaltet in sein menschliches Wesen das Musikalische, und der Musiker offenbart dasjenige, was erst die Weltenharmonie in die Untergründe seines Seelischen unbewusst hineingelegt hat. Und darauf beruht die geheimnisvolle Wirkung der Musik. Darauf beruht mit, dass man dem Musikalischen gegenüber rednerisch eigentlich nur sagen kann: Das Musikalische drückt das innerste menschliche Empfinden aus. – Und indem man sich mit den entsprechenden Erlebnissen zur Anschauung vorbereitet, in diese Novalissche Poesie begibt, erfasst man etwas, was ich nennen möchte die Psychologie der Musik.

Und dann wird der Blick hingelenkt auf des Novalis Lebensende, das im neunundzwanzigsten Lebensjahr eintrat. Novalis ging schmerzlos aus dem Leben heraus, aber hingegeben dem Elemente, das sein ganzes Leben hindurch sein Poetisches durchtönte. Der Bruder musste ihm auf dem Klavier vorspielen, während er starb, und dasjenige Element, das er mitgebracht hatte, um es hindurchklingen zu lassen durch seine Poesie, das sollte ihn wieder aufnehmen, als er hinüberstarb aus der prosaischen Wirklichkeit in die geistige Welt. Unter den Klängen des Klaviers starb der neunundzwanzig jährige Novalis. Er suchte nach jener musikalischen Heimat, die er im vollen Sinne des Wortes verlassen hatte bei seiner Geburt, um aus ihr das Musikalische der Poesie zu holen.

So lebt man sich ein, denke ich, aus der Wirklichkeit in die Psychologie der Künste. Der Weg muss ein zarter, der Weg muss ein inniger sein, und er darf nicht durchskelettiert werden durch abstrakte philosophische Formen, weder von solchen, die im Herbartschen Sinne entnommen sind dem Vernunft-Denken, noch von solchen, die im Gustav Fechnerschen Sinne ein Knochen sind der äußeren Naturbeobachtung.

Und Novalis, so steht er vor uns: Von dem Musikalischen entlassen, das Musikalische hineinklingen lassend in das Poetische, mit dem Poetischen zerschmelzend Raum und Zeit, im magischen Idealismus nicht berührt habend die äußere prosaische Wirklichkeit von Raum und Zeit, und wiederum hineinziehend in die musikalische Geistigkeit.

Und die Frage kann vor einem stehen: Wenn nun Novalis physisch organisiert gewesen wäre länger zu leben, wenn aus dem, was da in innerer wirksamer Psychologie von Menschenseele und Menschengeist musikalisch durchgeklungen und poetisch gesprochen hat, wenn das nicht mit neunundzwanzig Jahren wiederum zur musikalischen Heimat zurückgekehrt wäre, sondern durch eine robustere körperliche Organisation weitergelebt hätte, wo hinein hätte sich diese Seele gefunden? Wo hinein hätte sich diese Seele gefunden, wenn sie hätte länger bleiben müssen innerhalb der prosaischen Wirklichkeit, aus der sie sich hinwegbegeben hat in der Zeit, in der es noch Zeit war, ohne Berührung mit dem äußeren Raum und der äußeren Zeit in die musikalische raumlose Welt zurückzukehren ?

Es liegt mir nichts daran, diese Antwort theoretisch zu geben. Ich möchte auch da wiederum den Blick auf die Wirklichkeit wenden, und sie ist da; auch sie hat sich ausgelebt im menschlichen Entwicklungsgänge. Als Goethe das Alter erreicht hatte, in dem Novalis aus seiner musikalisch-poetischen Stimmung hinwegzog aus der physischen Welt, da entstand in der Goethe-Seele die tiefste Sehnsucht, hineinzudringen in diejenige künstlerische Welt, welche es am höchsten gebracht hat in der Ausgestaltung derjenigen Wesenheit, die in Raum und Zeit sich äußern kann. In diesem Lebensalter wurde in Goethe die Sehnsucht brennend, hinunterzuziehen nach dem Süden, und in Italiens Kunstwerken im Raum und in der Zeit etwas zu vernehmen von dem, aus dem eine Kunst heraus-geschaffen hat, die gerade es verstand, in die Raum- und Zeitformen das echt Künstlerische hineinzutragen, vor allen Dingen in die Raumformen. Und als Goethe dann vor den italienischen Kunstwerken stand und dasjenige, was aus dem Räume heraus nicht nur zu den Sinnen, sondern zu der Seele sprechen konnte, da entrang sich seiner Seele der Gedanke: hier gehe ihm auf, wie die Griechen, deren Schaffen er in diesen Kunstwerken wieder zu erkennen glaubte, so geschaffen haben, wie die Natur selber schafft, welchen naturschaffenden schöpferischen Gesetzen er glaubte auf der Spur zu sein. Und es entrang sich ihm gegenüber dem Seelischen und Geistigen, das da in den Formen des Raumes ihm entgegentrat, die religiöse Empfindung: Da ist Notwendigkeit, da ist Gott. - Er hatte, bevor er nach dem Süden gezogen war, mit Herder zusammen in der Lektüre Spinozas Gott gesucht in der geistig-seelischen Äußerung des Übersinnlichen in der äußeren sinnlichen Welt. Die Stimmung war geblieben, die ihn hingetrieben hatte, seinen Gott zu suchen in Spinozas Gott, mit Herder zusammen. Die Befriedigung war ihm nicht erstanden. Was er gesucht hat in Spinozas Philosophie über Gott, das lebte auf in seiner Seele, als er vor den Kunstwerken stand, in denen er die griechische Raumeskunst wiederum zu erahnen glaubte, und es entrang sich ihm da die Empfindung: Da ist Notwendigkeit, da ist Gott.

Was hat er empfunden? Er hat offenbar empfunden, wie an den griechischen Kunstwerken der Architektur und der Plastik dasjenige geschaffen hat, was im Menschen als Geistig-Seelisches lebt, was da hinaus will schöpferisch in den Raum, und was sich hingibt an den Raum, und wenn es malerisch wird, auch räumlich an die Zeit. Und Goethe hat das andere psychologisch dargelebt, was auf der polarischen Seite des Novalisschen Erlebens liegt. Novalis hat erlebt, wie, wenn der Mensch in sein Innerstes hineindringt in Raum und Zeit und poetisch-musikalisch bleiben will, Raum und Zeit im menschlichen Erfassen zerschmelzen. Goethe hat erlebt, wenn der Mensch sein Geistig-Seelisches hineinarbeitet, hineinmeißelt in das Räumliche, wie dieses Geistig-Seelische nicht zerschmilzt das Räumliche und Zeitliche, wie es sich hingibt in Liebe an das Räumliche und Zeitliche, so dass aus dem Räumlichen und Zeitlichen verobjektiviert das Geistig-Seelische wieder erscheint. Wie der Geist und die Seele des Menschen, ohne stehenzubleiben bei der sinnlichen Auffassung, ohne sitzen zu bleiben im Auge, herausdringt, um unter die Oberfläche der Dinge zu dringen und aus den Kräften, die da walten unter der Oberfläche der Dinge, die Architektur herauszuschaffen, die Plastik herauszugestalten, das erlebte Goethe in jenen Augenblicken, die ihn führten zu dem Ausspruche: Da ist Notwendigkeit, da ist Gott. Da ist all dasjenige darinnen, was aus göttlich-geistigem Dasein in des Menschen Unterbewusstsein liegt, was der Mensch der Welt mitteilt, ohne dass er Halt macht an jener Kluft, die seine Sinne bilden zwischen ihm und der Welt. Da ist dasjenige, was der Mensch künstlerisch erlebt, wenn er das Geistig-Seelische hineinzuprägen, hineinzumeißeln, hineinzukraften vermag in die Kräfte, die unter der Oberfläche des physischen Daseins liegen. – Was ist es bei Novalis, was ihn psychologisch macht zum Musikalisch-Poetisch-Schöpferischen? Was ist es bei Goethe, was ihn dazu antreibt, die vollste Notwendigkeit des Naturschaffens an den bildenden Künsten zu empfinden, zu empfinden die völlig unfreie Notwendigkeit des Naturschaffens an den räumlichen, an den materiellen Kunstwerken? Was ist es, was ihn da drängt, trotz der Empfindung der Notwendigkeit sich zu sagen: da ist Gott?

An beiden Polen, bei Novalis und bei Goethe, wo auf dem einen Pol der Zielpunkt liegt, den der Weg in das psychologische Verständnis des Poetischen und Musikalischen nehmen muss, wo auf dem anderen Pol der Zielpunkt liegt, den das psychologische Verständnis nehmen muss, wenn es ergreifen will das Plastisch-Architektonische, an beiden Polen liegt ein Erlebnis, das auf dem Gebiete der Kunst innerlich erlebt wird, und dem gegenüber es seine größte Wirklichkeitsaufgabe ist, es auch äußerlich in die Welt hineinzutragen: das Erlebnis der menschlichen Freiheit.

Im gewöhnlichen geistig-physisch-sinnlichen Erleben dringt das Geistig-Seelische bildend vor bis zu der Organisation der Sinne; dann lässt es in die Sinne hereinscheinen, was äußere physisch-materielle Wirklichkeit ist, und in den Sinnen begegnet sich äußere physisch-materielle Wirklichkeit mit innerem geistig-seelischem Dasein und geht jene geheimnisvolle Verbindung ein, die der Physiologie und der Psychologie so viel Sorge macht. Dann, wenn jemand in das Leben herein geboren wird mit der urpoetisch-musikalischen Anlage, die so sich in sich selber erhält, dass sie noch hinaussterben will unter den Klängen der Musik, dann dringt dieses Geistig-Seelische nicht bis zu den Sinnesgolfen vor, dann durchseelt und durchgeistigt es den ganzen Organismus, ihn wie ein totales Sinnesorgan gestaltend, dann stellt es den ganzen Menschen so in die Welt hinein, wie sonst nur das einzelne Auge oder das einzelne Ohr in die Welt hineingestellt ist. Dann macht das Geistig-Seelische Halt im Innern des Menschen, und dann wird, wenn dieses Geistig-Seelische sich äußerlich mit der materiellen Welt auseinandersetzt, nicht aufgenommen in prosaischer Wirklichkeit Raum und Zeit, dann wird Raum und Zeit zerschmolzen in der menschlichen Anschauung. So ist es an einem Pol. Da lebt die Seele poetisch-musikalisch in ihrer Freiheit, weil sie so organisiert ist, dass sie die Wirklichkeit des Raumes und der Zeit zerschmilzt in ihrer Anschauung. Da lebt die Seele, ohne zu berühren den Boden des physisch-prosaischen Daseins, in Freiheit, in einer Freiheit allerdings, die nicht herunterdringen kann in diese prosaische Wirklichkeit hinein.

Und auf dem anderen Pol, da lebt die Seele, das Geistige des Menschen so, wie sie etwa in Goethe gelebt haben. Dieses Seelische und Geistige ist ja so stark, dass es nicht nur das Leiblich-Physische des Menschen bis zu den Sinnesgolfen hin durchdringt, sondern dass sie durchdringt diese Sinne und noch über die Sinne hinaus sich erstreckt. Es ist, ich möchte sagen, in Novalis eine so zarte seelische Geistigkeit, dass sie nicht vordringt bis zum vollen Durchorganisieren der Sinne; es ist in Goethe eine so starke seelische Geistigkeit, dass sie die Organisation der Sinne durchbricht und über die Grenzen der menschlichen Haut hinaus in das Kosmische sich einsenkt, daher vor allen Dingen Sehnsucht hat nach einem Verständnis derjenigen Kunstgebiete, welche das Geistig-Seelische in das Räumlich-Zeitliche hineintragen. Darum ist diese Geistigkeit so organisiert, dass sie mit dem, was über die Grenzen der menschlichen Haut hinausragt, untertauchen will in den beseelten Raum in der Plastik, in die durchgeistigte Raumeskraft in der Architektur, in die Andeutung derjenigen Kräfte, die sich bereits verinnerlicht haben als Raumes- und Zeitenkräfte, die aber doch in dieser Form äußerlich ergriffen werden können in der Malerei.

So ist es auch hier eine Befreiung von der Notwendigkeit, eine Befreiung von dem, was der Mensch dann ist, wenn sein Geistiges und Seelisches Halt machen in den Golfen der Sinnessphäre. Befreiung im Poetisch-Musikalischen: da drinnen lebt Freiheit, aber sie lebt so, dass sie nicht berührt den Boden des Sinnlichen. Befreiung im plastischen, im architektonischen, im malerischen Erleben: aber Freiheit durch solche Stärke, dass wenn sie sich anders ausdrücken wollte als künstlerisch, sie das äußere physisch-sinnliche Dasein zertrümmern würde, weil es unter seine Oberfläche hinuntertaucht.

Das empfindet man, wenn man mit richtigem Verständnisse eingeht auf dasjenige, was Goethe so eindringlich, sagen wir in »Wilhelm Meisters Wanderjahren« über seine sozialen Ideen gesagt hat. Was man nicht der Wirklichkeit anvertrauen kann, wenn es gestaltet werden soll in Freiheit, das wird zum Musikalisch-Poetischen, was man in der Anschauung nicht bis zu der Wirklichkeit des sinnlichen physischen Vorstellens bringen darf, wenn es nicht die äußere Wirklichkeit zerstören soll, was man lassen muss in dem Geformten der räumlichen und zeitlichen Kräfte, was man lassen muss in der bloßen Nachbildung des Holzklotzes, weil es sonst zerstören würde das Organische, dem es Tod ist, das wird zum Plastischen, das wird zur Architektur.

Niemand kann die Psychologie der Künste verstehen, der nicht das Mehr von Seele verstehen kann, das in dem Plastiker, das in dem Architekten leben muss, als im normalen Leben. Niemand kann verstehen das Poetisch-Musikalische, der nicht hindringt zu dem Mehr, das im Geistig-Seelischen eines Menschen lebt, der dieses geistige Mehr, dieses geistige Überragen der physischen Organisation nicht hinlassen kann bis zum Physisch-Sinnlichen, sondern es in Freiheit dahinterhalten muss. Befreiung, das ist das Erlebnis, welches im wahrhaften Erfassen der Künste vorhanden ist, Erleben der Freiheit nach ihren polarischen Gegensätzen hin.

Im Menschen ruht, was seine Gestalt ist. Diese Gestalt ist in der menschlichen Wirklichkeit durchsetzt mit dem, was seine Bewegung wird. In der menschlichen Gestalt durchdringt sich von innen der Wille, von außen die Wahrnehmung, und die menschliche Gestalt ist zunächst der äußere Ausdruck für diese Durchdringung. Gebunden lebt der Mensch, wenn sein Wille, sein innerlich entwickelter Wille, der in die Bewegung hinein will, Halt machen muss vor der Sphäre, in die die Wahrnehmung aufgenommen wird. Und sobald sich der Mensch auf seinen ganzen Menschen besinnen kann, da wird in ihm die Empfindung lebendig: Mehr lebt in dir, als du mit deiner Nerven-Sinnes-Organisation im Verkehre mit der Welt in dir lebendig machen kannst. – Dann entsteht die Nötigung, die ruhende menschliche Gestalt, die der Ausdruck dieses normalen Verhältnisses ist, in Bewegung überzuführen, in solche Bewegungen, welche die Form der menschlichen Gestalt selber hinaustragen in Raum und Zeit. Wieder ist es ein Ringen des menschlichen Inneren mit Raum und Zeit. Versucht man es künstlerisch festzuhalten, so entsteht daraus zwischen dem Musikalisch-Poetischen und dem Plastisch-Architektonisch-Malerischen das Eurythmische.

Ich glaube, dass man in einer gewissen Weise innerlich in den Künsten stehenbleiben müsse, wenn man es versucht, was ja immer noch ein Stammeln bleibt, über die Künste und über das Künstlerische zu reden. Ich glaube, dass nicht nur außen zwischen Himmel und Erde vieles liegt, was sich die menschliche Philosophie, so wie sie zumeist auftritt, nicht träumen lassen kann, sondern dass im menschlichen Inneren liegt, was im Eingehen der Verhältnisse mit dem Physisch-Leiblichen die Befreiung hervorbringt zuerst innerhalb des Künstlerischen nach den beiden Polen hin. Und ich glaube, dass man das Künstlerische psychologisch nicht verstehen kann, wenn man es erfassen will in dem normal Seelischen, sondern dass man es nur erfassen kann in dem über dieses normal Seelische hinausgehenden, für übersinnliche Welten veranlagten höheren Geistig-Seelischen des Menschen.

Sieht man hin auf zwei solche eminent künstlerische Naturen, wie Novalis und Goethe es sind, so offenbaren sich uns phänomenalistisch, aus der Wirklichkeit heraus, wie ich glaube, die Geheimnisse der Psychologie der Künste, Schiller hat es besonders einmal tief empfunden, als er im Anblicke Goethes die Worte sprach: Nur durch das Morgenrot des Schönen dringst du in der Erkenntnis Land. – Mit anderen Worten: Nur durch das künstlerische Einleben in die menschliche Vollseele ringst du dich hinauf in die Gebiete der Sphäre, nach welcher die Erkenntnis strebt. Und ein schönes, ich glaube ein Künstlerwort ist es, wenn gesagt wird: Bilde, Künstler, rede nicht – aber ein Wort, gegen das man sich, weil der Mensch nun einmal ein sprechendes Wesen ist, versündigen muss. Aber so wahr es ist, dass man sich gegen ein solches Wort: Bilde, Künstler, rede nicht – versündigen muss, so wahr ist es auch, glaube ich, dass man diese Sünde immerdar sühnen muss, dass man immerdar versuchen muss, wenn man über die Künste reden will, im Reden zu bilden. Bilde, Künstler, rede nicht; und bist du als Mensch genötigt, über die Künste zu reden, so versuche es, bildend zu reden, redend zu bilden.