»Die vier großen Religionen« | August 1904

Rudolf Steiner, Zeitschrift Luzifer, August 1904

Rezension des Buches »Die vier großen Religionen« von Annie Besant

Ein breites Bild gegenwärtiger Kultur »im Spiegel der Theosophie« wird in den vier Vorträgen Annie Besants über die »vier großen Religionen« entrollt. Dieselben wurden vor der einundzwanzigsten Jahresversammlung der »Theosophischen Gesellschaft« zu Adyar bei Madras gehalten. Sie sind nun eben, durch den unermüdlichen Arbeiter und Helfer der theosophischen Sache bei uns, Günther Wagner, ins Deutsche übertragen (bei Altmann in Leipzig), erschienen.

Im Vorworte spricht sich Annie Besant über das Ziel aus, das sie mit diesen Vorträgen verfolgt hat. »Die folgenden vier Vorträge erheben keinen Anspruch, mehr als eine populäre Erklärung der vier großen Glaubenssysteme zu sein und sind nicht für ein eigentliches Studium derselben geschrieben.« Sie sind vor einer Zuhörerschaft gehalten worden, die fast ganz aus Hindus bestand, mit nur wenigen Zoroastriern und Christen darunter. »Ihre Absicht ist, den Anhängern jeder der vier Religionen es zu erleichtern, den Wert und die Schönheit der drei anderen Glaubensrichtungen anzuerkennen und die ihnen allen gemeinsame Grundlage darzulegen.« Das muss beachtet werden. Hätte Annie Besant vor einem Publikum gesprochen, das in seiner Mehrzahl aus Christen bestanden hätte, so würde sie allerdings die Vorträge anders eingerichtet haben. Dessenungeachtet wird auch jeder Angehörige eines europäischen Volkes, der sich in diese Vorträge vertieft, reichliche Nahrung finden für Vernunft und Herz. Und dass sie ihre Betrachtungen von einem Gesichtspunkte anstellen, der nicht unmittelbar der seinige ist, wird nur zur Erweiterung seines eigenen Gesichtskreises beitragen. Der Hinduismus, das Zoroastertum, der Buddhismus, das Christentum werden in ihren Grundwahrheiten dargelegt. Ein Geist spricht über diese vier großen Religionen, der ihren Wahrheitsgehalt in klaren Ideen vor der Seele hat, und der das Feuer, das aus ihnen strömt, im eigenen Herzen als sein Feuer empfindet. Und dieses Feuer strömt auch aus den Vorträgen, und es lässt, durch die Art der Betrachtung, in der Seele des Lesers ruhige Klarheit zurück. Das Verhältnis Annie Besants zu den großen Religionen gibt schön der Schluss des Vorwortes: »Möge dieses kleine Buch, das ich jetzt in Hochachtung für alle Religionen hinaussende, die das Leben des Menschen reinigen, seine Empfindungen erheben und ihn im Leide trösten, möge es ein Bote des Friedens sein und nicht ein Anstifter des Streites; denn ich habe mich bemüht, jede Religion in ihrer besten, ihrer reinsten, ihrer okkultesten Form zu skizzieren, und jede, als gehörte ich zu ihr und verkündete sie als die meinige. Dem Theosophen ist nichts Menschliches fremd, und er hat nur achtungsvolle Sympathie für jeden Ausdruck menschlichen Sehnens nach Gott. Er versucht, alle zu verstehen, keinen zu bekehren, er sucht die Kenntnisse, die ihm geworden sind, anderen mitzuteilen; und hofft dadurch, den Glauben eines jeden zu vertiefen, dass er dem Glauben das Verstehen beigesellt und die Grundlage aufdeckt, die allen Religionen gemeinsam ist.«

Das ist ein Satz, welcher die Grundstimmung jedes wahren theosophischen Vortrages und jedes theosophischen Buches charakterisieren könnte. Der Theosoph ist kein Sektenstifter; er will niemandem etwas Fremdes aufdrängen. Denn er weiß, dass der göttliche Urgeist alle seine Geschöpfe Hebt und in ihnen wohnt. Deshalb predigt die Theosophie nicht einzelne Dogmen, sondern sie wird zum Führer in eines jeden eigenes Herz; sie hilft einem jeden, im eigenen Innern das zu finden, was göttlich ist. Und wahrlich, wir bedürfen solcher Führung. Denn so richtig es auch ist, dass wir in unserem eigenen Herzen den tiefsten Wahrheitsquell haben: Selbsterkenntnis ist schwer; und die Irrwege, in die wir durch sie geraten, können verhängnisvoll werden. Stolz und Überhebung sollten nie über uns kommen, die uns sagen: du brauchst keinen äußeren Führer, du kannst alles durch dich selber finden. Wie hoch auch einer in der Erkenntnis stehen mag, er findet immer, wenn er in der rechten Weise sucht, noch einen höher Stehenden, der ihm die Pfade öffnet, zu dem, was er zwar selbst besitzt, aber, ohne Hilfe, nicht selbst finden kann.

Die bloß auf verstandesmäßige Gelehrsamkeit Bauenden werden gegen dieses Buch Annie Besants manches einzuwenden haben. Denn die Verfasserin stützt sich nicht bloß auf solche Gelehrsamkeit, sondern auf noch zwei andere, ungleich wichtigere Grundlagen. Die eine besteht in den uralten Aufzeichnungen der Geheimforscher und Geheimlehrer, welche, der weltlichen Forschung unzugänglich, wohl verwahrt sind, und welche dieser Forschung auch so lange unzugänglich bleiben werden, als diese an ihren materialistischen Vorurteilen und an ihrer rein äußerlichen Religionsvergleichung festhält. Es gibt unter uns solche, denen diese Dokumente zugänglich sind. Aber sie haben sich das Anrecht dazu durch Reinigung ihrer Seele von allen materialistischen Vorurteilen, durch Hingabe an die Forderungen des Geistes erworben. Warum nur solchen der Zugang eröffnet wird, darüber gibt die Vorrede zu H. P. Blavatskys »Geheimlehre« (1. Band) Aufschluss. – Neben dieser Quelle stützt sich Annie Besant auf die »Akasha-Chronik«, auf jenes ewige, lebendige Buch, das der zu lesen vermag, der von dem physischen Plane hinweg sich in die höheren Welten zu begeben vermag, um dort das Ewige in den Dingen zu lesen.

So muss denn in Annie Besants Darstellung manches anders sein, als in derjenigen der verstandesmäßigen Gelehrten. »Diese Gelehrtenwelt wird natürlich die okkulte Ansicht als ihrerseits vollständig falsch bezeichnen. Dagegen lässt sich nichts machen; der Okkultismus kann warten, bis er durch Entdeckungen gerechtfertigt wird, wie es mit so manchen viel belachten Behauptungen in bezug auf das hohe Alter schon geschehen ist. Die Erde ist ein treuer Wächter, und wenn der Archäologe die in ihrem Schoß begrabenen Städte wieder aufdeckt, wird er manches unerwartete Zeugnis finden, welches das in Anspruch genommene hohe Alter bestätigt.« (Vorrede Seite VII.)

Wer »Augen hat zu sehen«, braucht ja nur zu beobachten, was Religionsforschung, Kulturgeschichte und auch Naturwissenschaft heute zutage bringen. Er wird überall Bestätigungen für Behauptungen finden, welche die Okkultisten längst getan haben. Und dass solche Bestätigungen von so vielen heute nicht bemerkt werden, beruht nur darauf, dass sie in geistiger Beobachtung nicht geschult sind. Wichtig ist insbesondere, was Annie Besant über das hohe Alter und die wahre Gestalt von Hinduismus und Zoroastertum sagt. Die Weisheitsreligion des Hinduismus ergreift das Herz und das Gemüt des einfachsten Menschen, und sie führt den geistigen hinauf in die höchsten metaphysischen Gebiete. Sie gibt dem Menschen die Anleitung zum alltäglichen Verhalten, und sie führt ihn hinauf die schmalen, aber erhabenen Wege, die zur Teilnahme an dem Leben des Ewigen leiten. Sie ist Weisheit, die durch ihr Feuer den ganzen Menschen ergreift, und sie ist Religion, die durch Devotion zur Weisheit führt. »Wenn wir die dem alten indischen Volk gegebene Religion untersuchen, so finden wir, dass sie eine Schulung der ganzen menschlichen Natur auf ihren verschiedenen Stufen der Entwickelung enthält und dass sie ihn nicht nur in seinem spirituellen und intellektuellen Leben leitet, sondern in allen Beziehungen zum Mitmenschen im nationalen und Familienleben.« (Seite 4.)

Vom Zoroastertum wird die älteste Gestalt gezeigt. Diejenige, bis zu welcher die gelehrte Welt noch nicht vordringen konnte, weil ihr Urteil durch materialistische Schatten getrübt ist. Annie Besant zeigt, wie die vorwärtsschreitende Wissenschaft im Laufe der Zeit gerade hier gezwungen wird, immer mehr von dem zuzugeben, was der Okkultist sagt. Und sie eröffnet durch diese Darlegungen den Ausblick darauf, wie es der abendländischen Wissenschaft weiterhin in dieser Beziehung ergehen wird. Diese wird stückweise durch ihre Entdeckungen immer mehr sich den von der Geheimwissenschaft vorgetragenen Lehren nähern. Aber es liegt in ihrer Natur, dass sie so lange alles leugnen wird, worauf sie nicht selbst gekommen ist, bis sie zur Annahme gezwungen wird. So ist es bisher geschehen, und so wird es weiter sein. Der Okkultist tut seine Pflicht, weist auf die Übereinstimmungen der Wissenschaft mit seinen Lehren hin und lässt im übrigen das große Gesetz der Zeit walten, das alles bringt, was gebracht werden soll, und dem er dient. Die materialistische Gestalt, welche abendländische Forschung dem Zoroastrismus gegeben hat, kann ja schon heute nicht mehr im Lichte der Dokumente bestehen, welche diese Forschung selbst gebracht hat. Auch das zeigt Annie Besant auf das einleuchtendste.

Mit besonderer Aufmerksamkeit sollte der Vortrag über den Buddhismus verfolgt werden. Hier wird gezeigt, wie wenig Berechtigung es hat, dieser Religionsform das Gepräge des Atheismus zu geben und von ihr zu behaupten, sie leugne die Fortdauer der Menschenseele. Annie Besant setzt auseinander, wie diese beiden Grundwahrheiten gerade auch die tiefste Quelle sind, aus welcher der Buddha geschöpft hat. Sie legt dar, wie er aus ihnen die hohe sittliche Weltanschauung gewonnen hat, zu der sich so viele Millionen von Menschen noch heute bekennen. Sie zeigt, wie kein Gegensatz besteht zwischen dem alten Brahmanentum und dem Buddhismus. In herzergreifender Weise schildert Annie Besant den Erkenntnisweg des Buddha und die Art, wie er zu dem Volke gesprochen hat. Lebendig muss in der Seele eines jeden das Bild des großen Lehrers werden, wenn er es in dieser Beleuchtung auf sich wirken lässt. »Im Vortrag über Buddhismus hatte ich besonders die falsche Auffassung im Sinn, durch welche der Buddha den Herzen seiner Landsleute entfremdet wird, und bemühte mich, sie durch Zitate aus den überlieferten Schriften zu beseitigen, die anerkannte Berichte seiner eigenen  Aussprüche enthalten.  Es  gibt  keinen  größeren Dienst, den man einer Religion leisten kann, als eine Wiederannäherung dieser getrennten Glaubenssysteme zu versuchen, die die orientalische Welt in zwei Hälften teilen.« (Vorrede Seite I.)

Die theosophische Tiefe des Christentums in einem Vortrage auszuschöpfen, ist natürlich schwer; doch für diesen Teil des Buches gibt es ja eine schöne Ergänzung in Annie Besants »Esoterischem Christentum« (deutsch bei Fernau in Leipzig). Aber auch schon das, was in diesem Vortrage gesagt ist, kann für den, der richtig versteht, zeigen, wie wenig die Vorurteile begründet sind, die von den Lehrern der verschiedenen christlichen Bekenntnisse der Theosophie entgegengebracht werden. Keine, aber auch gar keine dieser Konfessionen wird von der Theosophie irgendwie bekämpft. Den tiefen, okkulten Gehalt des Christentums sucht die Theosophie ans Tageslicht zu fördern. Sie tut es, indem sie das Verständnis der großen christlichen Mystiker aller Zeiten belebt. Niemand, der hier den rechten Weg findet, kann der christlichen Religion entfremdet werden. Niemandem wird etwas genommen von dem, was er hat. Und wollten sich die bestellten Lehrer der christlichen Bekenntnisse nur einmal auf eine wirkliche Prüfung einlassen, sie würden bald sehen, dass sie an der Theosophie den besten Bundesgenossen haben. Es ist nur das falsche Bild der Theosophie, das von dieser Seite bekämpft wird. Niemand braucht seinen Glauben zu verleugnen, der Theosoph wird. Versuche, zu bekehren, oder abtrünnig zu machen, liegen ganz und gar außerhalb der theosophischen Aufgaben. Christliche Wärme und christliche Wahrheit strömt auch aus diesem Buche Annie Besants. Und sie strömen nicht nur aus dem Vortrage über das Christentum, sondern auch aus den anderen.

Aus den hohen Lehren der ersten christlichen Schriftsteller werden diese Wärme und diese Wahrheit geholt. Verständnis im wahrhaftesten Sinne wird gesucht; und das geistige Auge ist allein auf die Wahrheit gerichtet. »Der Hass ist vom Übel, in welcher Religion er auch gefunden werden mag. Es mag jeder seinen eigenen Glauben denen predigen, die ihn in sich aufzunehmen wünschen; es mag jeder frei seine Ansichten von Gott allen mitteilen, die willens sind, auf ihn zu hören. Wir spiegeln nur als kleine Facetten das Ewige zurück, unser armer Verstand ist ein enger Kanal, durch welchen das Leben und die Liebe Gottes ausströmen. Lassen Sie uns unsere eigene Person zu einem Kanäle machen, aber lassen Sie uns nicht bestreiten, dass andere so gut Kanäle sein können wie wir, und dass das göttliche Leben und die göttliche Liebe durch sie so gut fließt, wie durch uns. Dann wird der Frieden kommen, und eine Trennung gibt es dann nicht mehr; dann wird die Einigkeit kommen, die Harmonie, die etwas anderes, etwas Höheres ist, als die Eintönigkeit. Wenn seine Kinder in Liebe leben, dann können sie hoffen, etwas von der Liebe Gottes zu erfahren, denn in Wahrheit sprach ein christlicher Lehrer: ›Wer seinen Bruder nicht liebet, den er siehet, wie kann er Gott lieben, den er nicht siehet?‹ (i. Joh. IV, 20).« So schließt der Vortrag über das Christentum, und damit das ganze Buch. Die Darstellung, die Annie Besant vom Christentum gibt: sie kann niemand diesem Christentum entfremden; aber sie kann diejenigen, welche ihre moderne Denkungsweise, ihren wissenschaftlichen Geist glauben nicht vereinigen zu können mit dieser Religionsform, wieder zum Christentum zurückführen. Und dies letzte ist wahrlich schon öfter geschehen, seit die theosophische Bewegung wirkt. Durch die Theosophie kann man wieder ein guter Christ werden. Möchte doch das verstanden werden, und möchten die falschen Ansichten schwinden, als ob es im Wesen der Theosophie läge, für fremde Religionssysteme Propaganda zu machen; etwa den Buddhismus in Europa verbreiten zu wollen. Der wahre Theosoph weiß nur zu gut, was er dem Europäer nehmen würde, wenn er ihn zum Buddhisten machen wollte. Und das Ziel der Theosophie ist nicht »Nehmen«, sondern »Geben«. Gerade weil Annie Besants Vorträge nicht für Europäer gehalten sind, werden diese viel aus ihnen lernen können.