Erstes Memorandum | Juli 1917

Steiner verfasste dieses Memorandum für die deutsche Regierung auf Bitten Otto Graf Lerchenfelds, des Bruders des bayrischen Gesandten in Berlin, im Juni 1917. Es enthält die erste schriftliche Fassung der Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus.

Die Wortführer der Entente führen unter den Gründen, warum sie den Krieg fortsetzen müssen, den an, dass sie von Deutschland überfallen worden sind. Sie behaupten daher, sie müssen Deutschland in eine solche Lage der Machtlosigkeit bringen, dass fortan ihm jede Möglichkeit genommen sei, einen Überfall auszuführen. In diese Form einer Art moralischer Anklage gegen Deutschland werden nebulos untergetaucht alle anderen Ursachen dieses Krieges.

Es ist zweifellos, dass gegenüber dieser Anklage Deutschland in die Notwendigkeit versetzt ist, in ganz ungeschminkter Weise darzustellen, wie es in den Krieg hineingetrieben worden ist. Statt dessen hat man von den Kriegsursachen bisher nur doktrinäre Auseinandersetzungen, die so anmuten wie die Schlussfolgerungen eines Professors, der nicht erzählt, was er gesehen hat, sondern der aus Dokumenten darlegt, was sich ihm über ferne Ereignisse ergeben hat. Denn so sind auch alle Ausführungen des deutschen Reichskanzlers über die Vorgänge bei Kriegsausbruch gehalten. Solche Darlegungen aber sind ungeeignet, einen Eindruck zu machen. Man weist sie einfach zurück, indem man ihnen Unberechtigtes oder auch berechtigtes Anderes entgegensetzt.

Würde man dagegen einfach die Tatsachen erzählen, so würde sich folgendes ergeben:

1. Deutschland war im Sommer 1914 nicht bereit, die Initiative zu einem Kriege zu ergreifen.

2. Österreich-Ungarn war seit langem in die Notwendigkeit versetzt, irgend etwas zu unternehmen, das der ihm drohenden Gefahr entgegenwirkt, durch Zusammenschluss der Südslaven unter der Führung der außerösterreichischen Serben von Südosten her verkleinert zu werden. Man kann ruhig zugeben, dass die Ermordung des Erzherzogs Franz Ferdinand und die ganze Ultimatumsgeschichte nur ein Anlass war. Wäre nicht dieser Anlass ergriffen worden, so hätte bei nächster Gelegenheit eben ein anderer ergriffen werden müssen. Österreich hätte eben nicht Österreich bleiben können, wenn es nicht irgend etwas zur Sicherung seiner Südost-Provinzen tat, oder durch eine großzügige andere Handlung die Slavenfrage zur Lösung bringen konnte. An dieser anderen Handlung hatte sich aber die österreichische Politik seit 1879 verblutet. Besser gesagt: sie hatte sich daran verblutet, dass diese andere Handlung nicht aufgefunden werden konnte. Man konnte eben der Slavenfrage nicht Herr werden. Soweit für die Entstehung des Krieges Österreich-Ungarn in Betracht kommt, und damit auch Deutschland, dessen Beteiligung erfolgte, weil es Österreich-Ungarn nicht im Stiche lassen konnte, ohne befürchten zu müssen, dass es nach einigen Jahren ohne Österreichs Bundesgenossenschaft der Entente gegenüberstehe –, soweit muss erkannt werden, dass die Slavenfrage den Grund enthält für die Entstehung dieses Krieges.

Die «andere Handlung» ist also die internationale Lösung der Slavenfrage Sie ist gefordert von Österreich, nicht von Rußland. Denn Rußland wird immer seinen slavischen Grundcharakter in die Waagschale der Lösung werfen können. Österreich-Ungarn kann diesem Gewichte nur das der Befreiung der Westslaven entgegenstellen. Diese Befreiung kann nur unter dem Gesichtspunkte der Autonomisierung aller Zweige des Volkslebens vor sich gehen, welche das nationale Dasein und alles, was damit zusammenhängt, betreffen. Man darf eben nicht zurückschrecken vor der völligen Freiheit im Sinne der Autonomisierung und Föderalisierung des Volkslebens.

Diese Föderalisierung ist vorgebildet im deutschen bundesstaatlichen Leben, das gewissermaßen das von der Geschichte vorgebildete Modell ist für dasjenige, was in Mitteleuropa fortgebildet werden muss bis zur völligen föderalistisch-freiheitlichen Gestaltung aller derjenigen Lebensverhältnisse, die ihren Impuls in dem Menschen selber haben, also nicht unmittelbar, wie die militärisch-politischen, von den geographischen, und, wie die wirtschaftlichen, von den geographisch-opportunistischen Verhältnissen abhängig sind. Die Gestaltung dieser Verhältnisse wird nur dann in gesunder Weise erfolgen, wenn das Nationale aus der Freiheit, nicht die Freiheit aus dem Nationalen entbunden wird. Strebt man statt des letzteren das erstere an, so stellt man sich auf den Boden des weltgeschichtlichen Werdens. Will man das letztere, so arbeitet man diesem Werden entgegen und legt den Grund zu neuen Konflikten und Kriegen.

Von den leitenden Staatsmännern Österreichs verlangen, dass sie deshalb das Ultimatum an Serbien hätten unterlassen sollen, hieße von ihnen verlangen, dass sie gegen das Interesse des von ihnen geleiteten Landes hätten handeln sollen. Ein solches Verlangen können Theoretiker irgendeiner Färbung stellen. Ein Mensch, der mit den vorhandenen Tatsachen rechnet, sollte im Ernste von dergleichen gar nicht sprechen. Denn hätten die Südslaven erreicht, was die führenden Großserben wollten, so wäre unter den Aktionen der übrigen österreichischen Slaven Österreich in der Form, in der es bestand, nicht zu erhalten gewesen. Man könnte sich noch vorstellen, dass eben dann Österreich eine andere Form bekommen hätte. Kann man aber einem leitenden österreichischen Staatsmanne zumuten, resigniert auf einen solchen Ausgang zu warten? Man könnte es offenbar nur, wenn man der Ansicht wäre, es gehöre zu den unbedingten Anforderungen eines österreichischen Staatsmannes, absoluter Pazifist zu sein und das Schicksal des Reiches fatalisch abzuwarten. Unter jeder anderen Bedingung muss man den Schritt Österreichs bezüglich des Ultimatums verstehen.

3. Hatte nun einmal Österreich das Ultimatum gestellt, dann war die weitere Folge der Ereignisse nur aufzuhalten, wenn Rußland sich passiv verhielt. Sobald Rußland einen aggressiven Schritt tat, war durch nichts das Weitere aufzuhalten.

4. Ebenso wahr, wie dies alles ist, ebenso wahr ist, dass jeder, der mit den Tatsachen rechnete, in Deutschland ein unbestimmtes Gefühl hatte: Wenn einmal die angedeuteten Verwicklungen in ein kritisches Stadium treten, dann werde es Krieg geben. Man werde diesem Kriege nicht entgehen können. Und verantwortliche Personen hatten die Meinung, man müsse, wenn er notwendig werde, diesen Krieg mit aller Kraft führen. Einen Krieg aus eigener Initiative heraus zu führen, hatte in Deutschland gewiß niemand die Absicht, der ernstlich in Betracht kommt.

Man kann der Entente beweisen, dass sie nicht den geringsten Grund hatte, an einen Angriffskrieg von seiten Deutschlands zu glauben. Man kann sie zwingen zuzugeben, dass sie den Glauben hatte, Deutschland werde ohne Krieg so mächtig, dass diese Macht den heute in der Entente vereinigten Mächten gefährlich werde. Aber man wird die Führung derartiger politischer Beweise ganz anders machen müssen, als dies bisher geschehen ist; denn dieses ist keine politische Beweisführung, sondern nur die Aufstellung politischer Behauptungen, bei denen es den anderen belieben kann, sie brutal zu finden. Man glaubte auf seiten der Ententemächte, wenn die Dinge so fortgehen, dann könne man nicht wissen, was noch alles aus Deutschland werde; deshalb müsse ein Krieg mit Deutschland kommen. Deutschland konnte sich auf den Standpunkt stellen: wir brauchen keinen Krieg; aber wir erlangen ohne Krieg dasjenige, was uns die Ententestaaten ohne Krieg nicht lassen werden; deshalb müssen wir uns für diesen Krieg bereithalten und ihn, wenn er droht, so nehmen, dass wir durch ihn nicht zu Schaden kommen können.

Dies alles gilt auch bezüglich der serbischen Frage und Österreichs. Mit Serbien konnte Österreich im Jahre 1914 nicht mehr ohne Krieg fertig werden, wenigstens musste das die Überzeugung seiner Staatsmänner sein. Hätte aber die Entente befunden, dass man Österreich-Ungarn allein mit Serbien fertig werden lassen könnte, dann hätte es zu dem allgemeinen Kriege nicht kommen müssen. Der wahre Kriegsgrund darf also nicht bei den Mittelmächten gesucht werden, sondern darin, dass die Entente diese Mittelmächte nicht so lassen wollten, wie sie nach dem Bestande von 1914 in ihren Machtverhältnissen waren. Wäre allerdings die oben gemeinte «andere Handlung» vor 1914 geschehen, dann hätten die Serben keine internationale Opposition gegen Österreich-Ungarn entwickelt, und sowohl das Ultimatum wie die Einmischung Rußlands hätte es nicht geben können. Und hätte sich Rußland aus reinen Eroberungsgründen gegen Mitteleuropa in irgendeinem Zeitpunkte gewendet, dann hätte es England nicht an seiner Seite finden können. Da das Unterseeboot bis zum Kriege ein reines Kriegsmittel war, Amerika aber ohne dieses Kriegsmittel absolut nicht in den Krieg mit den europäischen Mittelmächten hätte kommen können, so braucht für die Friedensfrage nur England in dem angedeuteten Sinn in Rechnung gezogen zu werden.

5. Was nun der Welt mitgeteilt werden müßte, ist:

a) dass Deutschland, soweit die Persönlichkeiten in Betracht kommen, die über den Kriegsausbruch zu bestimmen haben, vollständig von den Ereignissen im Juli1914 überrascht worden ist, dass diese niemand vorausgesehen hat. Insbesondere gilt dies von der Haltung Rußlands;

b) dass in Deutschland der verantwortlich Denkende nicht anders konnte, als annehmen, wenn Rußland angreife, werde dies auch Frankreich tun;

c) dass Deutschland für diesen Fall jahrelang seinen Zweifrontenkrieg vorbereitet hatte und nicht anders konnte, als bei den sich überstürzenden Ereignissen diesen ins Werk zu setzen, wenn es nicht von seiten der Westmächte eine sichere Garantie erhielt, dass Frankreich nicht angreife. Diese Garantie konnte nur von England kommen;

d) dass, wenn England diese Garantie gegeben hätte, Deutschland nur gegen Rußland zum Kriege geschritten wäre;

e) dass die deutsche Diplomatie geglaubt habe, infolge des Verhältnisses, das sie in den letzten Jahren zu England angeknüpft hatte, werde England im Sinne einer solchen Garantie wirken;

f) dass die deutsche Diplomatie sich in bezug auf die bevorstehende Politik Englands vollständig getäuscht hat, und dass unter dem Eindrucke dieser Täuschung der Durchmarsch durch Belgien ins Werk gesetzt worden ist, den man unterlassen hätte, wenn England die angedeutete Garantie gegeben hätte. In ganz unzweideutiger Weise müsste der Welt verkündigt werden, dass der Einmarsch in Belgien erst ins Werk gesetzt worden ist, als die deutsche Diplomatie von der Mitteilung des Königs von England überrascht worden war, dass sie sich täusche, wenn sie auf eine solche Garantie von Englands Seite warte.

Es ist unerfindlich, warum die deutsche Regierung nicht tut, was sie unzweideutig könnte: nämlich beweisen, dass sie den Einmarsch in Belgien nicht unternommen hätte, wenn das entscheidende Telegramm des Königs von England anders gelautet hätte. Von dieser entscheidenden Wendung hing wirklich der ganze weitere Verfolg des Krieges ab, und es ist von Deutschland nichts geschehen, um diese entscheidende Tatsache zur allgemeinen Kenntnis der Welt zu bringen. Man müsste, wenn man diese Tatsache richtig kennte, zwar sagen, die englische Politik ist an den entscheidenden Stellen in Deutschland falsch beurteilt worden, aber man könnte nicht verkennen, dass England der entscheidende Faktor in der belgischen Frage war. Eine Schwierigkeit böte eine solche Sprache Deutschlands allerdings gegenüber Rußland, weil dieses aus ihr ersehen würde, was es für diesen Krieg England verdankt. Diese Schwierigkeit könnte nur behoben werden, wenn es gelänge, Rußland zu zeigen, dass es von Englands Freundschaft weniger zu erwarten hat als von der Deutschlands. Dies kann natürlich nicht geschehen, ohne dass Deutschland es im jetzigen Augenblick unternimmt, im Verein mit Österreich-Ungarn eine großzügige Politik zu entfalten, durch die das ohne Kenntnis der europäischen Verhältnisse in die Welt gesetzte Programm Wilsons aus dem Feld geschlagen wird.

Es kann praktisch aussehen, zu sagen, es habe heute keinen Wert, über die Ursachen des Krieges zu sprechen. Es ist aber gegenüber den tatsächlichen Verhältnissen das Unpraktischste, was sich nur denken lässt. Denn tatsächlich führt die Entente mit ihrer Darstellung der Kriegsursachen seit langem den Krieg. Die Situation, die sie sich geschaffen hat, verdankt sie dem Umstande, dass ihr ihre Darstellung geglaubt wird aus dem Grunde, weil ihr von Deutschland etwas Wirksames noch nicht erwidert worden ist. Während Deutschland zeigen könnte, dass es zum Kriegsausbruche nichts beigetragen hat, dass es in den Neutralitätsbruch gegenüber Belgien nur durch das Verhalten Englands getrieben worden ist, sind die offiziellen Darlegungen Deutschlands bis heute so gehalten, dass kein außerhalb Deutschlands lebender Mensch daran gehindert wird, sich das Urteil zu bilden, es habe in Deutschlands Hand gelegen, den Krieg nicht zu beginnen.

Damit ist es nicht getan, dass man die Dokumente so zusammenstellt, wie es geschehen ist. Denn diese Zusammenstellung ergibt eben etwas, was von jedem angezweifelt werden kann, während die ungeschminkte Darstellung der Tatsachen in der Tat Deutschlands Unschuld ergeben müsste. Wer für solche Dinge Verständnis hat, der kann wissen, dass solche Reden, wie sie von den verantwortlichen Männern Deutschlands geführt werden, von den Psychen der Menschen in den feindlichen Ländern und auch in den neutralen überhaupt nicht verstanden und daher nur als Verschleierungen der Wahrheit genommen werden. Sagen, es hülfe nichts, anders zu sprechen gegenüber dem Hasse der Feinde, dazu hätte man nur ein Recht, wenn man auch nur den Versuch gemacht hätte, wirklich anders zu sprechen. Man sollte diesen Hass überhaupt nicht ins Feld führen, weil dies einfach naiv ist; denn dieser Hass ist nur Draperie des Krieges, ist nur die Ausschleimung derjenigen, die die unsäglich traurigen Ereignisse mit ihren Reden begleiten wollen oder müssen, oder derjenigen, welche in der Aufstachelung dieses Hasses ein wirksames Mittel suchen, dies oder jenes zu erreichen.

Der Krieg wird aus den hinlänglich bekannten Ursachen von seiten Frankreichs und Rußlands geführt. Und er wird von der Seite Englands lediglich als Wirtschaftskrieg geführt; aber als Wirtschaftskrieg, der ein Ergebnis ist von alledem, was in England sich seit langem vorbereitet hat. Gegenüber den Realitäten der englischen Politik von der Einkreisung durch König Eduard und ähnlichen Kleinigkeiten zu sprechen ist so, wie wenn man einen Knaben von einem Pflocke weglaufen sieht, der nachher umfällt, und dann sagt, der Knabe habe den Pflock zu Fall gebracht, weil er an ihm etwas gerüttelt habe, während in der Tat der Pflock längst so beschädigt war, dass es von seiten des Knaben nur eines geringen Anstoßes bedurfte, um den Fall schließlich herbeizuführen.

Die Wahrheit ist, dass England seit vielen Jahren es verstanden hat, eine aus den realen Verhältnissen Europas heraus orientierte Politik zu treiben in einem Sinn, der ihm günstig schien, der wie eine im naturwissenschaftlichen Charakter gehaltene Ausnützung der vorhandenen Völker- und Staatenkräfte war. Nirgends außer in England trug die Politik einen ganz sachgemäßen, in sich zusammenhängenden Charakter. Man nehme die auf dem Balkan treibenden Volkskräfte, man nehme hinzu, was in Österreich spielte, und man schaue von dem aus auf das, was in eingeweihten Kreisen vorhandene politische Formeln in England waren.

Diese Formeln enthielten immer: Auf dem Balkan wird dies und jenes geschehen; England hat dabei dies zu tun. Und die Ereignisse bewegten sich in der angegebenen Richtung, und die englische Politik bewegte sich damit parallel. Man konnte in England in solche Formeln eingegliedert Sätze finden wie diesen: Das russische Reich wird in seiner gegenwärtigen Form zugrunde gehen, damit das russische Volk leben könne. Und dieses Volk ist so geartet in seinen Verhältnissen, dass man dort werde sozialistische Experimente ausführen können, für die es in Westeuropa keine Möglichkeit gibt. Wer die Politik Englands verfolgt, der kann sehen, dass sie stets im großen Stil darauf eingerichtet war, alle solche und viele andere Gesichtspunkte zugunsten Englands zu wenden. Und dabei kam ihm zugute, dass es in Europa allein von solchen Gesichtspunkten ausging und eben dadurch seine diplomatischen Vorsprünge sich ermöglichte. Seine Politik arbeitete stets im Sinne dessen, was im Sinne der wirklichen Volks- und Staatskräfte war, und sein Bestreben dabei war, im Sinne dessen sich diese Kräfte dienstbar zu machen, was in seinem wirtschaftlichen Vorteil war. Es arbeitete zu seinem Vorteil. Das tun andere selbstverständlich auch.

Aber England arbeitete außerdem in der Richtung dessen, was sich durch die in ihm selbst liegenden Kräfte verwirklichen lässt, während andere auf die Beobachtung solcher Kräfte sich nicht einließen, ja wohl überhaupt nur ein vornehmes Lächeln gehabt hätten, wenn man ihnen von solchen Kräften gesprochen hätte. Englands ganze Staatsstruktur ist auf solches wirklich praktisches Arbeiten eingestellt. Andere werden erst dann eine der englischen gewachsene Staatskunst entfalten können, wenn das Angedeutete kein englisches Geheimnis mehr sein wird, sondern wenn es Gemeingut sein wird.

Man denke nur, wie unendlich naiv es war, wenn man glaubte, von Deutschland aus mit dem Bagdadbahnproblem durchzudringen, da man von da aus dieses Problem so unternahm, als ob es überhaupt nur nötig wäre, an etwas zu gehen, wie an den Bau einer Straße, über deren Anlegung man sich mit seinen Nachbarn verständigt hat. Oder, um von etwas noch viel weiter Liegendem zu sprechen, wie dachte sich Österreich, sein Verhältnis zum Balkan zu ordnen, ohne Kräfte dabei ins Feld zu führen, die, aus den Volks- und Staatskräften des Balkan heraus gedacht, die Trümpfe Englands paralysieren konnten? England tat eben in einem gegebenen Zeitpunkte nicht nur das und jenes, sondern es lenkte international die Kräfte so, dass sie im rechten Momente in seiner Richtung liefen. Um das zu tun, muss man diese Kräfte erstens kennen und zweitens bei sich das entfalten, was im Sinne dieser Kräfte gelegen ist. Österreich-Ungarn also hätte zur rechten Zeit eine Handlung vollbringen müssen, die im Sinne der Südslavenkräfte diese in die österreichische Richtung gebracht, Deutschland hätte im Sinne der wirtschaftlich-opportunistischen Kräfte die Bagdadbahninteressen in seine Richtung bringen müssen, statt dass das erstere in die russische und damit in die russisch-englische Linie, das zweite in die englische Linie abgebogen ist.

Der Krieg muss in Mitteleuropa dazu führen, in bezug auf das im Völker-, Staats- und Wirtschaftsleben Vorhandene sehend zu werden. Dadurch allein kann man England zwingen, nicht weiter auf dem Wege einer überlegenen Diplomatie zu den anderen Staaten sich zu verhalten, sondern mit sich wie gleich zu gleich verhandeln zu lassen über dasjenige, was zwischen europäischen Menschengemeinschaften zu verhandeln ist. Ohne die Erfüllung dieser Bedingung ist alles Nachmachen des englischen Parlamentarismus in Mitteleuropa nichts anderes als ein Mittel, sich selbst Sand in die Augen zu streuen. In England werden sonst ein paar Leute immer Mittel und Wege finden, ihre Wirklichkeitspolitik durch ihr Parlament ausführen zu lassen, während doch ein deutsches und österreichisches Handeln nicht schon allein dadurch ein gescheites werden wird, dass es statt von ein paar Staatsmännern von einer Versammlung von etwa 500 Abgeordneten beschlossen wird.

Man kann sich kaum etwas Unglücklicheres denken als den Aberglauben, dass es einen Zauber bewirken werde, wenn man zu dem übrigen, was man sich hat von England gefallen lassen, nun auch noch das fügt, dass man sich die demokratische Schablone von ihm aufdrängen lässt. Damit soll nicht gesagt werden, dass Mitteleuropa nicht im Sinne einer inneren politischen Gestaltung eine Fortentwickelung erfahren solle, allein eine solche darf nicht die Nachahmung des westeuropäischen sogenannten Demokratismus sein, sondern sie muss gerade dasjenige bringen, was dieser Demokratismus in Mitteleuropa wegen dessen besonderer Verhältnisse verhindern würde. Dieser sogenannte Demokratismus ist nämlich nur dazu geeignet, die Menschen Mitteleuropas zu einem Teile der englisch-amerikanischen Weltherrschaft zu machen, und würde man sich dazu auch noch auf die sogenannte zwischenstaatliche Organisation der gegenwärtigen Internationalisten einlassen, dann hätte man die schöne Aussicht, als Mitteleuropäer innerhalb dieser zwischenstaatlichen Organisation stets überstimmt zu werden.

Worauf es ankommt ist, aus dem mitteleuropäischen Leben heraus die Impulse zu zeigen, die hier wirklich liegen, und an denen die westlichen Gegner, wenn sie aufgezeigt werden, sehen werden, dass sie sich bei einer weiteren Fortsetzung des Krieges an ihnen verbluten müssen. Gegen Machtprätentionen können die Gegner ihre Macht setzen und werden es tun, solange es bei Prätentionen bleibt. Gegen wirkliche Machtkräfte werden sie die Waffen strecken. Wilsons so wirksamen Manifestationen muss entgegengehalten werden, was in Mitteleuropa wirklich zur Befreiung des Lebens der Völker getan werden kann, während seine Worte ihnen nichts zu geben vermögen als die anglo-amerikanische Weltherrschaft. Die Übereinstimmung mit Rußland braucht von einem mitteleuropäischen Programm der Wirklichkeit nicht gesucht zu werden; denn diese ergibt sich selbst. Ein solches mitteleuropäisches Programm darf nichts enthalten, was nur innere Staatsangelegenheit ist, sondern lediglich solches, was mit dem Verhältnis nach außen etwas zu tun hat. Aber selbstverständlich muss in dieser Richtung sachgemäß gesehen werden; denn ob ein Mensch gut denken kann, ist gewiß eine Angelegenheit seiner inneren Organisation, ob er aber durch dieses gute Denken nach außen in der oder jener Richtung wirkt, ist nicht eine innere Angelegenheit.

Deshalb kann nur ein mitteleuropäisches Programm das Wilsonische schlagen, das real ist, das heißt nicht das oder jenes Wünschenswerte betont, sondern das einfach eine Umschreibung dessen ist, was Mitteleuropa tun kann, weil es zu diesem Tun die Kräfte in sich hat. Dazu gehört:

1. Dass man einsehe: Gegenstand einer demokratischen Volksvertretung können nur die rein politischen, die militärischen und die polizeilichen Angelegenheiten sein. Diese sind nur möglich auf Grund des historisch gebildeten Untergrundes. Werden sie vertreten für sich in einer Volksvertretung und verwaltet von einer dieser Volksvertretung verantwortlichen Beamtenschaft, so entwickeln sie sich notwendig konservativ. Ein äußerer Beweis dafür ist, dass seit dem Kriegsausbruche selbst die Sozialdemokratie in diesen Dingen konservativ geworden ist. Und sie wird es noch mehr werden, je mehr sie gezwungen wird, sinn- und sachgemäß dadurch zu denken, dass in den Volksvertretungen wirklich nur politische, militärische und polizeiliche Angelegenheiten der Gegenstand sein können. Innerhalb einer solchen Einrichtung kann sich auch der deutsche Individualismus entfalten mit seinem bundesstaatlichen System, das nicht eine zufällige Sache ist, sondern das im deutschen Volkscharakter enthalten ist.

2. Alle wirtschaftlichen Angelegenheiten werden geordnet in einem besonderen Wirtschaftsparlamente. Wenn dieses entlastet ist von allem Politischen und Militärischen, so wird es seine Angelegenheiten rein so entfalten, wie es diesen einzig und allein angemessen ist, nämlich opportunistisch. Die Verwaltungsbeamtenschaft dieser wirtschaftlichen Angelegenheiten, innerhalb deren Gebiet auch die gesamte Zollgesetzgebung liegt, ist unmittelbar nur dem Wirtschaftsparlamente verantwortlich.

3. Alle juristischen, pädagogischen und geistigen Angelegenheiten werden in die Freiheit der Personen gegeben. Auf diesem Gebiete hat der Staat nur das Polizeirecht, nicht die Initiative. Es ist, was hier gemeint ist, nur scheinbar radikal. In Wirklichkeit kann sich nur derjenige an dem hier gemeinten stoßen, der den Tatsachen nicht unbefangen ins Auge sehen will. Der Staat überläßt es den sach-, berufs- und völkermäßigen Korporationen, ihre Gerichte, ihre Schulen, ihre Kirchen und so weiter zu errichten, und er überläßt es dem einzelnen, sich seine Schule, seine Kirche, seinen Richter zu bestimmen. Natürlich nicht etwa von Fall zu Fall, sondern auf eine gewisse Zeit. Im Anfange wird dies wohl durch die territorialen Grenzen beschränkt werden müssen, doch trägt es die Möglichkeit in sich, auf friedlichem Wege die nationalen Gegensätze - auch andere - auszugleichen. Es trägt sogar die Möglichkeit in sich, etwas Wirkliches zu schaffen an Stelle des schattenhaften Staaten-Schiedsgerichts. Nationalen oder anderweitigen Agitatoren werden dadurch ihre Kräfte ganz genommen. Kein Italiener in Triest fände Anhänger in dieser Stadt, wenn jedermann seine nationalen Kräfte in ihr entfalten könnte, trotzdem aus selbstverständlichen opportunistischen Gründen seine wirtschaftlichen Interessen in Wien geordnet werden, und trotzdem sein Gendarm von Wien aus bezahlt wird.

Die politischen Gebilde Europas könnten sich so auf Grundlage eines gesunden Konservativismus entwickeln, der nie auf Zerstückelung Österreichs, sondern höchstens auf seine Ausdehnung bedacht sein kann.

Die wirtschaftlichen Gebilde würden sich opportunistisch gesund entwickeln; denn niemand kann Triest in einem Wirtschaftsgebilde haben wollen, in dem es wirtschaftlich zugrunde gehen muss, wenn ihn das Wirtschaftsgebilde nicht hindert, kirchlich, national und so weiter zu tun, was er will.

Die Kulturangelegenheiten werden von dem Drucke befreit, den auf sie die wirtschaftlichen und politischen Dinge ausüben, und sie hören auf, auf diese einen Druck auszuüben. Alle diese Kulturangelegenheiten werden fortdauernd in gesunder Bewegung erhalten. Eine Art Senat, gewählt aus den drei Körperschaften, welchen die Ordnung der politisch-militärischen, wirtschaftlichen und juristisch-pädagogischen Angelegenheiten obliegt, versieht die gemeinsamen Angelegenheiten, wozu auch zum Beispiel die gemeinsamen Finanzen gehören.

Die Ausführbarkeit des in dieser Darstellung Angeführten wird niemand bezweifeln, der aus den wirklichen Verhältnissen Mitteleuropas heraus denkt. Denn hier wird überhaupt nichts gefordert, was durchgeführt werden soll, sondern es wird nur aufgezeigt, was sich durchführen will, und was in demselben Augenblicke gelingt, in dem man ihm freie Bahn gibt.

Erkennt man dieses, dann wird vor allem klar, warum wir diesen Krieg haben und warum er unter der falschen Flagge der Völkerbefreiung ein Krieg ist zur Unterdrückung des deutschen Volkes, im weiteren Sinne zur Unterdrückung alles selbständigen Volkslebens in Mitteleuropa. Entkleidet man das Wilsonsche Programm, das als die neueste Umschreibung aus den Deckprogrammen der Entente hervorgegangen ist, so kommt man darauf, dass seine Ausführung nichts anderes bedeuten würde als den Untergang dieser mitteleuropäischen Freiheit. Daran hindert nicht, dass Wilson von der Freiheit der Völker redet; denn die Welt richtet sich nicht nach Worten, sondern nach Tatsachen, die aus der Verwirklichung dieser Worte folgen.

Mitteleuropa braucht wirkliche Freiheit, Wilson aber redet gar nicht von einer wirklichen Freiheit. Die ganze westliche Welt hat von dieser wirklichen für Mitteleuropa nötigen Freiheit überhaupt keinen Begriff. Man redet da von Völkerfreiheit und meint dabei nicht die wirkliche Freiheit der Menschen, sondern eine schimärische Kollektivfreiheit von Menschenzusammenhängen, wie sie sich in den westeuropäischen Staaten und in Amerika herausgebildet haben.

Nach den besonderen Verhältnissen Mitteleuropas kann sich diese Kollektivfreiheit nicht aus internationalen Verhältnissen heraus ergeben, also darf sie nie und nimmer Gegenstand einer internationalen Abmachung sein, wie sie einem Friedensschlusse zugrunde liegen kann. In Mitteleuropa muss die Kollektivfreiheit der Völker aus der allgemeinen menschlichen Freiheit sich ergeben, und sie wird sich ergeben, wenn man durch Ablösung aller nicht zum rein politischen, militärischen und wirtschaftlichen Leben gehörigen Lebenskreise dafür freie Bahn schafft. Es ist ganz selbstverständlich, dass gegen solche Loslösung diejenigen, welche stets nur mit ihren Ideen, nicht mit der Wirklichkeit rechnen, solche Einwände erheben, wie man sie in einem eben erschienenen Buche findet, nämlich in Kriecks «Die deutsche Staatsidee» auf Seite 167 f.: «Gelegentlich wurde früher, unter anderen von E. von Hartmann, die Forderung nach einem Wirtschaftsparlamente neben der Volksvertretung erhoben. Der Gedanke liegt ganz in der Richtung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwickelung. Abgesehen aber davon, dass ein neues großes Rad die ohnehin reichliche Unbeholfenheit und Reibung der Maschine vermehren würde, wäre die Zuständigkeit zweier Parlamente unmöglich gegeneinander abzugrenzen.»

Bei diesem Gedanken sollte nun doch wohl darauf gesehen werden, dass hier zugegeben werden muss, er ergibt sich aus den wirklichen Verhältnissen der Entwickelung, muss also durchgeführt werden und darf nicht gegen die Entwickelung abgewiesen werden, weil man seine Verwirklichung schwer findet. Macht man nämlich in der Wirklichkeit vor solchen Schwierigkeiten halt, so schafft man Verwickelungen, die sich später gewaltsam entladen. Und letzten Endes ist dieser Krieg in der Eigentümlichkeit, in der er sich auslebt, die Entladung von Schwierigkeiten, die man versäumt hat, auf dem richtigen, anderen Wege hinwegzuräumen, solange es dazu noch Zeit war.

Das Wilsonsche Programm geht davon aus, das in der Welt unmöglich zu machen, was die berechtigte Aufgabe und die Lebensbedingung der mitteleuropäischen Staaten ist. Ihm muss entgegengehalten werden, was in Mitteleuropa geschehen wird, wenn dieses Geschehen nicht gestört wird durch die gewaltsame Zerstörung des mitteleuropäischen Lebens. Es muss ihm gezeigt werden, was nur Mitteleuropa auf Grund des hier historisch Gewordenen tun kann, wenn es sich nicht mit der Entente verbindet, die gar kein Interesse daran haben kann, Mitteleuropa seiner naturgemäßen Entwickelung entgegenzuführen.

So wie die Dinge heute liegen, haben Deutschland und Österreich nur die Wahl zwischen den folgenden drei Dingen:

1. Unter allen Umständen auf einen Sieg ihrer Waffen zu warten, und von ihm die Möglichkeit zu erhoffen, ihre mitteleuropäische Aufgabe ausführen zu können.

2. Mit der Entente auf Grund deren jetzigen Programms einen Frieden einzugehen und damit ihrer sicheren Zerstörung entgegenzugehen.

3. Zu sagen, was sie im Sinne der wirklichen Verhältnisse als das Ergebnis eines Friedens betrachten werden, und damit die Welt vor die Möglichkeit zu stellen, nach klarer Einsicht in die Verhältnisse und in das Wollen Mitteleuropas die Völker wählen zu lassen zwischen einem Tatsachenprogramm, das den europäischen Menschen die wirkliche Freiheit und damit ganz selbstverständlich die Freiheit der Völker bringt, oder den Scheinprogrammen des Westens und Amerikas, die von Freiheit reden, in Wirklichkeit aber für ganz Europa die Unmöglichkeit des Lebens bringen.

Wir in Mitteleuropa machen vorläufig den Eindruck, als ob wir uns vor dem Westen scheuten zu sagen, was wir wollen müssen, während dieser Westen uns nur so überschüttet mit den Kundgebungen seines Wollens. Dadurch ruft dieser Westen den Eindruck hervor, dass nur er etwas will für das Heil der Menschheit, und wir nur bestrebt seien, diese löblichen Bestrebungen durch allerlei solche Dinge wie Militarismus zu stören, während er dadurch, dass er sich seit langem darauf eingerichtet hat und weiter darauf noch besser einrichten will, uns zu Schattenmenschen zu machen, in Wahrheit der Schöpfer unseres Militarismus ist. Gewiß sind solche und ähnliche Dinge oft gesagt worden, doch darauf kommt es nicht an, dass sie von dem oder jenem gesagt werden, sondern darauf, dass sie das Leitmotiv mitteleuropäischen Handelns wirklich werden, und die Welt erkennen lernt, dass sie von Mitteleuropa kein anderes Handeln zu erwarten hat als ein solches, das zum Schwerte greifen muss, wenn die anderen ihm dieses Schwert in die Hände zwingen. Was jetzt die Westvölker deutschen Militarismus nennen, haben sie in jahrhundertelanger Entwickelung geschmiedet, und nur an ihnen, nicht an Deutschland kann es sein, ihm für Mitteleuropa seinen Sinn zu nehmen.

An Mitteleuropa aber ist es, sein Wollen für die Freiheit klar hinzustellen, ein Wollen, das nicht in Wilsonscher Art auf Programme gebaut sein kann, sondern auf die Wirklichkeit des Menschendaseins. Es gibt daher für Mitteleuropa nur ein Friedensprogramm, und das ist: Die Welt wissen zu lassen, ein Friede ist sofort möglich, wenn die Entente an die Stelle ihres jetzigen, unwahren Friedensprogramms ein solches setzt, das wahr ist, weil es in seiner Verwirklichung nicht den Untergang, sondern die Lebensmöglichkeit Mitteleuropas herbeiführt. Alle anderen Fragen, die Gegenstand von Friedensbestrebungen werden können, lösen sich, wenn sie auf Grundlage dieser Voraussetzungen in Angriff genommen werden. Auf der Grundlage, die jetzt von der Entente uns dargeboten wird, und die von Wilson aufgenommen worden ist, ist ein Friede unmöglich. Tritt kein anderes an die Stelle, so könnte das deutsche Volk nur durch Gewalt zur Annahme dieses Programmes gebracht werden, und der weitere Verlauf der europäischen Geschichte würde die Richtigkeit des hier Gesagten beweisen, denn bei Verwirklichung des Wilsonschen Programmes gehen die europäischen Völker zugrunde.

Man muss eben in Mitteleuropa ohne Illusion dem ins Auge schauen, was diejenigen Persönlichkeiten seit vielen Jahren als ihren Glauben haben, den sie von ihrem Gesichtspunkte aus als das Gesetz der Weltentwickelung betrachten: dass der anglo-amerikanischen Rasse die Zukunft der Weltentwickelung gehört, und dass sie das Erbe der lateinisch-romanischen Rasse und die Erziehung des Russentumes zu übernehmen hat. Bei der Anführung dieser weltpolitischen Formel durch einen sich eingeweiht dünkenden Engländer oder Amerikaner wird stets bemerklich gemacht, dass das deutsche Element bei der Ordnung der Welt nicht mitzusprechen hat wegen seiner Unbedeutendheit in weltpolitischen Dingen, dass das romanische Element nicht berücksichtigt zu werden braucht, weil es ohnedies im Aussterben ist, und dass das russische Element derjenige hat, der sich zu seinem weithistorischen Erzieher macht.

Man könnte von einem solchen Glaubensbekenntnis gering denken, wenn es im Kopfe einiger für politische Phantasien oder Utopien zugänglicher Menschen lebte, allein die englische Politik benützt unzählige Wege, um dieses Programm praktisch zum Inhalte seiner wirklichen Weltpolitik zu machen, und vom Gesichtspunkte Englands aus könnte die gegenwärtige Koalition, in der es sich befindet, nicht günstiger sein, als sie ist, wenn es sich um die Verwirklichung dieses Programmes handelt.

Es gibt aber nichts, das Mitteleuropa dem entgegensetzen kann, als ein wirklich menschenbefreiendes Programm, das in jedem Augenblick Tat werden kann, wenn menschlicher Wille sich für seine Verwirklichung einsetzt. Man kann ja vielleicht denken, dass der Friede auch lange auf sich warten lassen wird, auch wenn das hier gemeinte Programm vor die europäischen Völker hingestellt wird, da es ja während des Krieges nicht ausgeführt werden kann und überdies von den Ententevölkern so hingestellt werden würde, als ob es von den Führern Mitteleuropas nur zur Täuschung der Völker hingestellt wäre, während nach dem Kriege einfach wieder das eintreten würde, was die Ententeführer als das Schreckliche hinstellen, das sie aus moralischen Gründen in einem «Kampfe für Freiheit und Recht der Völker aus der Welt schaffen müßten».

Aber wer die Welt richtig beurteilt nach den Tatsachen, nicht nach seinen Lieblingsmeinungen, der kann wissen, dass alles, was Wirklichkeiten entspricht, einen ganz anderen Überzeugungswert hat als dasjenige, was aus der bloßen Willkür stammt. Und man kann ruhig abwarten, was sich bei denjenigen zeigen wird, die einsehen werden, mit dem Programme Mitteleuropas gehen den Völkern der Entente nur die Möglichkeiten verloren, Mitteleuropa zu zertrümmern, nicht aber fließt aus ihm irgend etwas, was mit irgendeinem wirklichen Lebensimpuls der Ententevölker unverträglich wäre. Solange man sich im Gebiete der maskierten Bestrebungen befindet, wird eine Verständigung ausgeschlossen sein; sobald man hinter den Masken die Wirklichkeiten nicht nur militärisch, sondern auch politisch zeigen wird, wird eine ganz andere Gestalt der gegenwärtigen Ereignisse beginnen. Die Waffen Mitteleuropas hat die Welt zum Heile dieses Mitteleuropa kennen gelernt, das politische Wollen ist, soweit Mitteleuropa in Betracht kommt, der Welt ein Buch mit sieben Siegeln. Dafür bekommt die Welt jeden Tag die Schilderung eines Schreckbildes, welch ein furchtbares, zerstörungswürdiges Ding dieses Mitteleuropa eigentlich ist. Und es sieht für die Welt so aus, als ob Mitteleuropa zu diesem Schreckbilde nur zu schweigen hätte, was selbstverständlich der Welt wie ein Ja-sagen zu demselben erscheinen muss.

Es ist ganz selbstverständlich, dass jedem unzählige Bedenken aufsteigen, wenn er sich Gedanken darüber machen will, wie das hier Angedeutete im einzelnen durchgeführt werden soll, allein solche Bedenken kämen nur in Betracht, wenn das Vorliegende als ein Programm gedacht wäre, an dessen Verwirklichung ein einzelner oder eine Gesellschaft gehen sollte. So ist es aber nicht gedacht, ja es widerlegte sich selber, wenn es so gedacht wäre.

Es ist als der Ausdruck dessen gedacht, was die Völker Mitteleuropas tun werden, wenn man sich von seiten der Regierungen die Aufgabe stellen wird, die Volkskräfte zu erkennen und zu entbinden. Was im einzelnen geschehen wird, das zeigt sich bei solchen Dingen immer dann, wenn sie sich auf den Weg der Verwirklichung begeben. Denn sie sind nicht Vorschriften über etwas, was zu geschehen hat, sondern Voraussagen dessen, was geschehen wird, wenn man die Dinge auf ihre durch die eigene Wirklichkeit geforderte Bahn gehen läßt.

Und diese eigene Wirklichkeit schreibt vor, bezüglich aller religiösen und geistig-kulturellen Angelegenheiten, wozu auch das Nationale gehört, Verwaltung durch Korporationen, zu denen sich die einzelne Person aus freiem Willen bekennt, und die in ihrem Parlamente als Korporationen verwaltet werden, so dass dieses Parlament es nur mit der betreffenden Korporation, nie aber mit der Beziehung dieser Korporation zu der einzelnen Person zu tun hat. Und nie darf es eine Korporation mit einer unter demselben Gesichtspunkte zu einer anderen Korporation gehörigen Person zu tun haben. Solche Korporationen werden aufgenommen in den Kreis des Parlamentes, wenn sie eine bestimmte Anzahl von Personen vereinigen. Bis dahin bleiben sie Privatsache, in die sich keine Behörde oder Vertretung zu mischen hat. Für wen es ein saurer Apfel ist, dass von solchen Gesichtspunkten aus alle geistigen Kulturangelegenheiten künftig der Privilegierung entbehren müssen, der wird eben in diesen sauren Apfel zum Heile des Volksdaseins beißen müssen. Bei der immer weitergehenden Gewöhnung an diese Privilegierung wird man ja in vielen Kreisen schwer einsehen, dass man auf dem Wege von der Privilegierung gerade der geistigen Berufe zum guten alten, uralten Prinzipe der freien Korporierung zurückkehren muss. Und dass die Korporation zwar einen Menschen in seinem Berufe tüchtig machen soll, dass man aber die Ausübung dieses Berufes nicht privilegieren, sondern der freien Konkurrenz und der freien menschlichen Wahl überlassen muss. Das wird von allen denen schwer einzusehen sein, die gern davon sprechen, dass die Menschen doch zu dem oder jenem nicht reif seien. In der Wirklichkeit wird dieser Einwand ja ohnedies nicht in Betracht kommen, weil mit Ausnahme der notwendig freien Berufe über die Wahl der Petenten die Korporation entscheiden wird. Ebensowenig können sich Schwierigkeiten ergeben bezüglich des Politischen und des Wirtschaftlichen, die nicht real behebbar wären bei Verwirklichung des Intendierten. Wie zum Beispiel pädagogische Institutionen zustande kommen müssen, die in ihren Richtlinien die beiden, nicht die eigentliche Pädagogik in sich schließenden Vertretungen berühren, das ist Sache des übergeordneten Senates.

(GA 24, S. 339-362)