Individualistischer Anarchismus | 1898

Rudolf Steiner, Magazin für Literatur 1898, 67. Jg., Nr. 39, 30. September 1898 (GA 31, S. 283 f)

Steiner veröffentlichte im »Magazin für Literatur« 1898 einen offenen Brief an John Henry Mackay, in dem er dokumentierte, dass er sich zumindest zwischen 1892 und 1898 als individualistischen Anarchisten verstand und dass seine »Philosophie der Freiheit«, nach seiner eigenen Aussage die philosophische »Grundlegung der Anthroposophie«, ein Werk des »individualistischen Anarchismus« war.

»Lieber Herr Mackay!

Vor vier Jahren, nach dem Erscheinen meiner ›Philosophie der Freiheit‹, haben Sie mir Ihre Zustimmung zu meiner Ideenrichtung ausgesprochen. Ich gestehe offen, dass mir dies innige Freude gemacht hat. Denn ich habe die Überzeugung, dass wir in bezug auf unsere Anschauungen so weit übereinstimmen, wie zwei voneinander völlig unabhängige Naturen nur übereinstimmen können. Wir haben gleiche Ziele, obwohl wir uns auf ganz verschiedenen Wegen zu unserer Gedankenwelt durchgearbeitet haben. Auch Sie fühlen dies. Ein Beweis dafür ist die Tatsache, dass Sie den vorstehenden Brief gerade an mich gerichtet haben. Ich lege Wert darauf, von Ihnen als Gesinnungsgenosse angesprochen zu werden.

Ich habe es bisher immer vermieden, selbst das Wort ›individualistischer‹ oder ›theoretischer Anarchismus‹ auf meine Weltanschauung anzuwenden. Denn ich halte sehr wenig von solchen Bezeichnungen. Wenn man in seinen Schriften klar und positiv seine Ansichten ausspricht: wozu ist es dann noch nötig, diese Ansichten mit einem gangbaren Worte zu bezeichnen? Mit einem solchen Worte verbindet jedermann doch ganz bestimmte traditionelle Vorstellungen, die dasjenige nur ungenau wiedergeben, was die einzelne Persönlichkeit zu sagen hat. Ich spreche meine Gedanken aus; ich bezeichne meine Ziele. Ich selbst habe kein Bedürfnis, meine Denkungsart mit einem gebräuchlichen Worte zu benennen.

Wenn ich aber in dem Sinne, in dem solche Dinge entschieden werden können, sagen sollte, ob das Wort ›individualistischer Anarchist‹ auf mich anwendbar ist, so müsste ich mit einem bedingungslosen ›Ja‹ antworten. Und weil ich diese Bezeichnung für mich in Anspruch nehme, möchte auch ich gerade in diesem Augenblicke mit wenigen Worten genau sagen, wodurch ›wir‹, die ›individualistischen Anarchisten‹, uns unterscheiden von denjenigen, welche der sogenannten ›Propaganda der Tat‹ huldigen. Ich weiß zwar, dass ich für verständige Menschen nichts Neues sagen werde. Aber ich bin nicht so optimistisch wie Sie, lieber Herr Mackay, der Sie einfach sagen: ›Keine Regierung ist so blind und töricht, gegen einen Menschen vorzugehen, der sich einzig und allein durch seine Schriften, und zwar im Sinne einer unblutigen Umgestaltung der Verhältnisse, am öffentlichen Leben beteiligt.‹ Sie haben, nehmen Sie mir diese meine einzige Einwendung nicht übel, nicht bedacht, mit wie wenig Verstand die Welt regiert wird.

Ich möchte also doch einmal deutlich reden. Der ›individualistische Anarchist‹ will, dass kein Mensch durch irgend etwas gehindert werde, die Fähigkeiten und Kräfte zur Entfaltung bringen zu können, die in ihm liegen. Die Individuen sollen in völlig freiem Konkurrenzkampfe sich zur Geltung bringen. Der gegenwärtige Staat hat keinen Sinn für diesen Konkurrenzkampf. Er hindert das Individuum auf Schritt und Tritt an der Entfaltung seiner Fähigkeiten. Er hasst das Individuum. Er sagt: Ich kann nur einen Menschen gebrauchen, der sich so und so verhält. Wer anders ist, den zwinge ich, dass er werde, wie ich will. Nun glaubt der Staat, die Menschen können sich nur vertragen, wenn man ihnen sagt: so müsst ihr sein. Und seid ihr nicht so, dann müsst ihr eben – doch so sein. Der individualistische Anarchist dagegen meint, der beste Zustand käme dann heraus, wenn man den Menschen freie Bahn ließe. Er hat das Vertrauen, dass sie sich selbst zurechtfänden. Er glaubt natürlich nicht, dass es übermorgen keine Taschendiebe mehr gäbe, wenn man morgen den Staat abschaffen würde. Aber er weiß, dass man nicht durch Autorität und Gewalt die Menschen zur Freiheit erziehen kann. Er weiß dies eine: man macht den unabhängigsten Menschen dadurch den Weg frei, dass man jegliche Gewalt und Autorität aufhebt.

Auf die Gewalt und die Autorität aber sind die gegenwärtigen Staaten gegründet. Der individualistische Anarchist steht ihnen feindlich gegenüber, weil sie die Freiheit unterdrücken. Er will nichts als die freie, ungehinderte Entfaltung der Kräfte. Er will die Gewalt, welche die freie Entfaltung niederdrückt, beseitigen. Er weiß, dass der Staat im letzten Augenblicke, wenn die Sozialdemokratie ihre Konsequenzen ziehen wird, seine Kanonen wirken lassen wird. Der individualistische Anarchist weiß, dass die Autoritätsvertreter immer zuletzt zu Gewaltmaßregeln greifen werden. Aber er ist der Überzeugung, dass alles Gewaltsame die Freiheit unterdrückt. Deshalb bekämpft er den Staat, der auf der Gewalt beruht – und deshalb bekämpft er ebenso energisch die ›Propaganda der Tat‹, die nicht minder auf Gewaltmaßregeln beruht. Wenn ein Staat einen Menschen wegen seiner Überzeugung köpfen oder einsperren lässt – man kann das nennen, wie man will –, so erscheint das dem individualistischen Anarchisten als verwerflich. Es erscheint ihm natürlich nicht minder verwerflich, wenn ein Luccheni eine Frau ersticht, die zufällig die Kaiserin von Österreich ist. Es gehört zu den allerersten Grundsätzen des individualistischen Anarchismus, derlei Dinge zu bekämpfen. Wollte er dergleichen billigen, so müsste er zugeben, dass er nicht wisse, warum er den Staat bekämpft. Er bekämpft die Gewalt, welche die Freiheit unterdrückt, und er bekämpft sie ebenso, wenn der Staat einen Idealisten der Freiheitsidee vergewaltigt, wie wenn ein blödsinniger eitler Bursche die sympathische Schwärmerin auf dem österreichischen Kaiserthrone meuchlings hinmordet.

Unsern Gegnern kann es nicht deutlich genug gesagt werden, dass die ›individualistischen Anarchisten‹ energisch die sogenannte ›Propaganda der Tat‹ bekämpfen. Es gibt außer den Gewaltmaßregeln der Staaten vielleicht nichts, was diesen Anarchisten so ekelhaft ist wie diese Caserios und Lucchenis. Aber ich bin doch nicht so optimistisch wie Sie, lieber Herr Mackay. Denn ich kann das Teilchen Verstand, das zu so groben Unterscheidungen wie zwischen ›Individualistischem Anarchismus‹ und ›Propaganda der Tat‹ nun doch einmal gehört, meist nicht finden, wo ich es suchen möchte.

In freundschaftlicher Neigung Ihr

Rudolf Steiner«