Irrtümer der Geistesforschung | 1912

Rudolf Steiner. Vortrag, München, 27. November 1912. GA 69 a

Sehr verehrte Anwesende! Es ist gewiss auf jedem Gebiet des Denkens und Lebens nicht nur wünschenswert, sondern notwendig, neben den Eigenschaften der Wahrheit auch die Eigenschaften und Quellen des Irrtums kennenzulernen. Denn zweifellos ist es ja oftmals nur durch die Erkenntnis der Irrtumsquellen möglich, sich vor all den Hindernissen zu schützen, die sich dem Wahrheitssuchen entgegenstellen. Von ganz besonderer Notwendigkeit aber ist die Erkenntnis der Irrtumsquellen auf dem Gebiete der Geistesforschung, denn im Unterschied zu anderen Gebieten der Wahrheitsforschung lauert der Irrtum bei der Geistesforschung sozusagen an allen Ecken und Enden. Er lauert aber nicht nur als etwas, das sich leicht zu erkennen gibt, sondern als etwas, das in den meisten Fällen in Verkleidung, in Maskierung, ja, man darf sagen in recht schwer erkennbarer Form auftritt. Es lauert der Irrtum da wie ein Gegner, der nicht allein widerlegt sein will – wie es bei der äußeren, physischen Wahrheitsforschung der Fall ist –, sondern der von der Seele des Geistesforschers wirklich besiegt sein will. Und in vielen Fällen ist es so, dass man auf den Wegen der Geistesforschung nur dann zur Wahrheit kommen kann, wenn es einem wirklich gelingt, den Irrtum wie einen Gegner zu besiegen.

Es ist hier vorgestern von mir ausgeführt worden, wie der Mensch, wenn er versucht, die Wege der Geistesforschung zu gehen, kein anderes Mittel hat, als die menschliche Seele selber zu einem Instrument zu machen, das vermitteln kann zwischen der menschlichen Erkenntnis und den übersinnlichen Welten. Die gewöhnliche Wissenschaft macht sich äußere Instrumente, mit denen sie ihre Experimente und Beobachtungen anstellt. Der Geistesforscher hat als Instrument nur dasjenige, was er aus seiner Seele selber machen kann, indem er die für das gewöhnliche physische Leben und Erkennen ja nicht notwendigen, aber in der Seele schlummernden Erkenntniskräfte aus dieser Seele herausholt und durch diese Erkenntniskräfte in die übersinnliche Welt eintritt.

Weiter ist vorgestern gezeigt worden, dass die Seele, wenn sie die charakterisierten Mittel auf sich anwendet, zuerst vordringt zur sogenannten imaginativen Erkenntnis und wie bereits da ein Irrtum lauert. Wenn die Seele zu dieser imaginativen Erkenntnis vordringt, durch welche sie sich befähigt fühlt, aus ihren tiefen Untergründen herauf Bilder, Imaginationen aufsteigen zu lassen, da lauert bereits der Irrtum, gegen den der Geistesforscher ankämpfen muss, der Irrtum, diese Bilderwelt für irgend etwas Objektives zu nehmen, für etwas, was außerhalb von ihm selbst in der Welt vorhanden ist. Es ist schon gesagt worden, dass alle Selbsterziehung des Geistesforschers dahin gehen muss, eine starke innere Willenskraft aufzuwenden, um das Vorurteil gar nicht erst aufkommen zu lassen, diese in der Seele aufsteigenden Bilder für etwas anderes zu nehmen als lediglich für ein Spiegelbild, gleichsam ein hinausgeworfenes Schattenbild der eigenen seelischen Erlebnisse. In dem Augenblick, wo die zunächst durch Meditation oder Konzentration aufsteigenden Bilder für etwas anderes genommen werden als für einen Ausdruck der Seele selbst, dann tritt sogleich der Irrtum auf. Und es ist auch gesagt worden, dass überwunden werden muss dasjenige, was da als imaginative Welt auftritt, dass es getilgt werden muss aus der Seele, hinuntersteigen muss wiederum in unergründliche Tiefen, und dass erst dadurch die Seele sich fähig macht, aus der Objektivität heraus die übersinnlichen Tatsachen und Wesenheiten vor sich hingestellt zu empfinden.

So konnten wir die erste Stufe der übersinnlichen Erkenntnis charakterisieren, die imaginative Erkenntnis. Und als ein Gegenbild der imaginativen Erkenntnis wurde hingestellt das mediale Wesen des Menschen. Es ist natürlich nicht möglich, die Dinge, die vorgestern gesagt worden sind, heute alle zu wiederholen; es soll nur daran erinnert werden, dass auf mancherlei Bedenkliches des Medialen aufmerksam gemacht worden ist, und dass aus dem Nichterwähnen dieses Bedenklichen heute nicht der Schluss gezogen werden darf, als ob dieses Bedenkliche zu wenig berücksichtigt würde. Auch ist bereits gesagt worden, worin das mediale Wesen besteht. Während bei der imaginativen Erkenntnis die inneren Lebenskräfte der Seele verstärkt werden, das Bewusstsein kräftiger gemacht wird, sozusagen mehr innere Selbstkräfte hervorgeholt werden aus der Seele, als sonst im gewöhnlichen Leben vorhanden sind, muss beim medialen Wesen geradezu das Ich, das gewöhnliche Bewusstsein herabgedämpft werden, so dass beim Medium das gewöhnliche Vorstellungs- und Empfindungsleben aufhört und eine Art mehr oder weniger bewusstloser Zustand eintritt. Dadurch, dass so das Bewusstsein gleichsam herausgedrängt wird aus dem Medium, dadurch werden die Kräfte, die außer dem Bewusstsein in der menschlichen Natur vorhanden sind, man möchte sagen eingeschaltet in das allgemeine Weltenwesen, und dieses allgemeine Weltenwesen mit seinen geistigen Untergründen und Vorgängen wirkt dann unmittelbar herein in das, was im Medium lebt. Und dadurch ist das Medium imstande, sich zu offenbaren, aber es offenbart sich nicht die menschliche Individualität, sondern die hereinspielenden Kräfte und Vorgänge der Welt. Das Medium wird gleichsam der Offenbarer geistigen Wirkens und geistiger Taten von Wesenheiten der Welt. So stehen einander gegenüber die imaginative Erkenntnis mit der Erhöhung, Verstärkung, Konzentrierung des Bewusstseins – und das mediale Wesen mit mehr oder weniger Auslöschung des Bewusstseins.

Gehen wir zuerst auf die Irrtumsquellen des medialen Wesens ein. Diejenigen Menschen, die es lieben, durch die Offenbarungen von medialen Wesen Erkenntnisse zu gewinnen aus den Welten, die dann in die menschliche Natur hereinwirken, wenn das Bewusstsein ausgeschaltet ist, diese Menschen lehnen es in der Regel ab, dass die mediale Persönlichkeit in ihr Bewusstsein irgendwelche Lehren der Geisteswissenschaft, irgendwelche Begriffe, Vorstellungen und Ideen der Geisteswissenschaft aufnimmt. Das heißt, solche Forscher, die durch das mediale Wesen eine objektive Wahrheit erkennen wollen, die hereinwirkt durch die Kräfte des Mediums, die lieben es nicht, dass das Medium Vorstellungen über die geistige Welt gelernt hat. Und von ihrem Standpunkt aus haben diese Persönlichkeiten durchaus recht. Sie haben aus dem Grunde recht, weil die Erkenntnisse der Geisteswissenschaft mit ihren scharf in die Seele sich einschreibenden Begriffen und Ideen das Bewusstsein auch stark in Anspruch nehmen, sich hereindrängen in das menschliche Bewusstsein; und dadurch ist es dann schwierig, wenn versucht wird, bei der medialen Persönlichkeit dieses Bewusstsein auszuschalten, diese starken Kräfte wirklich zum Schweigen zu bringen. Und man kann dann die Erfahrung machen, dass die mediale Persönlichkeit, statt dasjenige kundzugeben, was von ihrer eigenen Seele, von ihrer eigenen Individualität unabhängig ist, stattdessen nur das zur Offenbarung bringt, was zuvor als Geisteswissenschaft auf die Seele gewirkt hat. Und die Untersuchenden auf diesem Felde sind in der Regel sehr besorgt, ihre Medien freizuhalten von den Einflüssen geistiger Forschung, die durch das Medium dann geltend gemacht würden, anstelle der ohne die von menschlicher Individualität beeinflussten geistigen Kräfte, die bei unterdrücktem Bewusstsein sonst durch die Manifestation des Mediums zutage treten.

Auch das würde nicht gut sein für Untersuchungen der medialen Persönlichkeit, wenn diese eine starke Phantasie hat, durch welche sie Verschiedenes in der Welt ausmalen kann. Denn alle starke Phantasie wirkt beträchtlich auf die Individualität und drängt sich durch, wenn das Bewusstsein herabgedämpft ist. So darf man sagen: Alles das, was aktiver, stark bewusster und schöpferischer Inhalt des Bewusstseins ist, das wirkt störend auf die Kundgebungen der medialen Persönlichkeit. Ja, es weiß jeder, der Erfahrung auf diesem Gebiete hat, dass in bezug auf die Phantasie, in bezug auf das Nachdenken stark begabte Persönlichkeiten eben schlechte mediale Persönlichkeiten sind. Wenn eine Persönlichkeit zum Beispiel dasjenige aufgenommen hat, was in meiner «Geheimwissenschaft» steht über die Entwicklung des Planetensystems, und man dann diese mediale Persönlichkeit dazu gewinnen kann, ihrerseits Kundgebungen zu machen, so wird man finden, dass das, was das Medium so gelernt hat, sich hineinmischt in seine Kundgebungen, während, wenn dies nicht der Fall ist, man durch das Medium, unbeeinflusst durch irgend etwas Gelerntes, die merkwürdigsten Resultate bekommen kann, die allerdings zuweilen im Ausdruck grotesk sind und sich sonderbar ausnehmen. Wenn man aber darauf eingeht, wenn man über den grotesken Ausdruck hinwegkommt, so zeigt es sich gerade bei medialen Persönlichkeiten gewisser Art, wie kosmische Zusammenhänge über die Evolution durch manchmal groteskes Zeug, das von der Persönlichkeit herrührt, zum Ausdruck kommen können. Für denjenigen, der Untersuchungen anstellen will mit Hilfe einer medialen Persönlichkeit, ist es vor allen Dingen notwendig, sich eine gewisse Praxis anzueignen, um zu unterscheiden den subjektiven, individuellen Bewusstseinsinhalt des Mediums von dem, was das Medium nicht wissen kann und sich dennoch durch es offenbart. Daher werden für trivialere Untersuchungen insbesondere diejenigen Manifestationen medialer Persönlichkeiten in Betracht kommen, bei denen man ganz genau weiß, das Medium gibt etwas kund, was es unmöglich bei seinem vollen Bewusstsein kundgeben könnte.

Ich führe nur Dinge an, meine sehr verehrten Anwesenden, die genau geprüft sind, die jedem, der auf diesem Gebiete Erfahrung hat, so bekannt sind wie irgendwelche wissenschaftlichen Tatsachen. Wenn man durch eine mediale Persönlichkeit, wenn sie aus einem dumpfen Bewusstseinszustand heraus spricht, zum Beispiel eine Mitteilung in einer Sprache bekommt, von der man weiß, dass das Medium sie nicht gelernt hat im Verlaufe seines Lebens, dann weiß man, dass hier etwas durch die mediale Persönlichkeit spricht, was mit der Individualität selber nicht zusammenhängen kann, man weiß also, dass sich darin objektiver Weltgehalt durch das Medium kundgibt.

So sehen wir durch die Eigentümlichkeit der medialen Persönlichkeit zugleich überall die Fehlerquelle, die der Praktiker auf diesem Gebiete zu vermeiden hat. Insbesondere ist diese Fehlerquelle auch dann zu berücksichtigen, wenn man es auf diesem Gebiet mit der bloßen Beobachtung von somnambulen Persönlichkeiten zu tun hat, die durch jene Methoden, jene Manifestationen, deren sie fähig sind, irgend etwas aus der geistigen Welt heraus kundgeben. Da wird man immer finden, dass sich Subjektivität in hohem Grade in die Kundgebung hineinmischt. Wer Erfahrung hat auf diesem Gebiete, der weiß, dass eine mediale Persönlichkeit, die zum Beispiel Protestant ist, in ganz anderer Weise ihre Manifestationen erhält, als eine mediale Persönlichkeit, die Katholik ist. Man kann die Erfahrung machen, dass eine katholische mediale Persönlichkeit, die in ihrem Gefühlsleben von katholischen Anschauungen durchdrungen ist, in der geistigen Welt gewisse Wesenheiten sieht, die sich aber so zeigen, wie die betreffende Persönlichkeit, sagen wir Engelwesen sich vorstellt. Dasselbe, was bei einer solchen katholischen medialen Persönlichkeit der Fall sein kann, wird nicht der Fall sein bei der medialen Persönlichkeit, die in ihren Gefühlen, sagen wir, protestantisch gefärbt ist. Daher ist es wiederum dringend notwendig, neben der Beobachtung dessen, was sich durch die mediale Persönlichkeit kundgibt, die Individualität dieser Persönlichkeit selber genau ins Auge zu fassen. Und hier kommen wir auf ein Gebiet, welches in hohem Grade geeignet ist, auf die Fehlerquellen beleuchtend hinzuweisen.

Derjenige, der ein Skeptiker auf diesem Gebiete ist oder die ganze Geschichte für Narretei ansieht, der wird sagen: Nun, da habt ihr es ja, da gibt sich durch eine solche Persönlichkeit dasjenige kund, was sie selber glaubt, was sie selber in ihrem Bewusstsein hat. – Gewiss, wenn man vor allen Dingen auf das in seiner Gesamtheit blickt, was durch die mediale Persönlichkeit zutage tritt, dann wird man fast niemals an den Irrtümern mit heiler Haut vorbeikommen; aber für den objektiven Betrachter dieser Dinge kommt immer weniger in Betracht der Inhalt des Geoffenbarten, sondern es kommt mehr in Betracht, dass überhaupt eine solche Offenbarung stattfindet, dass so etwas erlebt werden kann bei herabgedämpftem Bewusstsein. Das Erlebnis kommt in Betracht. Und wenn man sich die Praxis aneignet, hinwegzusehen über den Inhalt der Offenbarung und darauf sieht, was für Vorgänge sich in der menschlichen Seele abspielen als Ergebnisse dieses Zusammenhanges der menschlichen Natur mit den Weltenkräften, dann sieht man, warum es durchaus möglich ist, dass einmal die Kundgebung katholisch gefärbt ist und das andere Mal protestantisch. Denn das Erlebnis, die Art des Hereintretens von geistigen Kräften und Wesenheiten, die sich nur in der geschilderten Weise einkleiden, das ist es, worauf es ankommt. Der Irrtum entsteht, wenn man die Einkleidung für das Wesentliche hält. Die Wahrheit wird gefunden, wenn man von der Einkleidung absehen kann und darauf hinschaut, dass überhaupt ein solcher Vorgang stattfindet, gleichgültig, ob das Erlebnis so oder so durch die Individualität gefärbt ist. Denn das, was erlebt wird, das ist nicht eine irgendwie menschlich gestaltete Engelerscheinung oder sonst irgend etwas, sondern es sind geistige Kräfte, die in ihrer Wahrheit eben nur durch sorgfältige Untersuchungen geschaut werden können, von denen aber gezeigt werden kann, dass sie vorhanden sind und durch die mediale Persönlichkeit, gefärbt nach der inneren Konfiguration dieser Persönlichkeit, zum Ausdruck kommen.

Man wird nicht leicht sagen können, wo auf dem hier geschilderten Gebiete der Irrtum aufhört und die Wahrheit anfängt, weil tatsächlich das eine in das andere übergeht. Man wird die Sache vielmehr so zu charakterisieren haben, dass man sich auf einen Weg begibt, wo man immer mehr Annäherungen an die Wahrheit findet, wenn man sich die Praxis erwirbt, die Fehlerquellen auszuschließen; so dass wahrscheinlich derjenige, der auf diesem Gebiete gewissenhaft nach Wahrheit sucht, in unserer Gegenwart, wo man solche Dinge nicht liebt, arg missverstanden werden kann. Man glaubt, dass das, was er als Erfahrungen erzählen will, irgendwie anfechtbar sei. Das meinen aber die gewissenhaften Forscher auf diesem Gebiete eigentlich gar nicht; das, was sie meinen, ist lediglich die Beschreibung von etwas, "was sich gezeigt hat, und wenn sie gewissenhaft sind, geben sie sogar selber an, wo die Fehlerquellen liegen. Aber es genügt ja, für das Vorhandensein einer geistigen Welt einen Weg zeigen zu können, der zwar bei jedem Schritt, den man macht, belauert ist vom Irrtum; man ist aber doch in der Lage, je weiter man vordringt, diesen Irrtum beiseite zu schieben. Also nicht darum handelt es sich, die Frage zu beantworten: Was ist Wahrheit, was ist Irrtum? – sondern es handelt sich darum, dass es einen Weg gibt, über den Irrtum, der überall lauert, allmählich hinauszugelangen und in das Gebiet der Wahrheit zu kommen, so dass die Wahrheit gleichsam wie etwas ist, dem man sich als einem fernen Ziele annähert. Das ist das Wesentliche auf diesem Gebiet.

Worauf es dann ankommt bei dem Fortschreiten auf diesem Wege, das ist, immer mehr zu solchen Experimenten – wenn wir es so nennen wollen – zu kommen, in welchen reinlich ausgeschaltet ist das Individuelle des Bewusstseins, und dass das, was dann noch bleibt, möglichst nur eingeschaltet ist in die objektiven Weltenvorgänge. So ist es das Herabdämpfen, die Möglichkeit der Herabstimmung des Bewusstseins, auf die es ankommt auf diesem medialen Gebiet. Und je mehr es einem gelingt, dieses Bewusstsein herabzustimmen und die mediale Persönlichkeit sozusagen bloß zu einem Instrument zu machen für außer ihr befindliche übersinnliche Weltenvorgänge, desto mehr erreicht man ein Wahres auf diesem Gebiete. Allerdings auf eines muss dabei aufmerksam gemacht werden, das demjenigen bekannt ist, der mit diesen Dingen vertraut ist: Wenn man es mit einer solchen somnambulen Persönlichkeit zu tun hat, die entweder durch ihre Natur zu gewissen Zeiten in solch einen Zustand kommt oder durch gewisse, allerdings oft recht bedenkliche Mittel in einen solchen Zustand versetzt wird, so bekommt man zunächst in ihren Offenbarungen übersinnliche Weltgesetze; es sprechen sich Gesetze der Welt aus; das wird ja in den Offenbarungen der betreffenden Persönlichkeit stark zutage treten. Sollen sich Wesenheiten der übersinnlichen Welt auf diesem Wege kundgeben, so müssen diese Wesenheiten erst selbst gewissermaßen Besitz ergreifen von der medialen Persönlichkeit, und man muss die Möglichkeit haben, durch die Persönlichkeit hindurchzuschauen auf das eigentliche Wesen, das sich kundgibt. Dazu gehört eine geschulte Anschauung solcher Dinge, die nur erworben werden kann auf der einen Seite durch Praxis, auf der anderen Seite durch Einsicht in das, was Geisteswissenschaft im allgemeinen zu geben vermag.

Die imaginative Erkenntnis ist nun das völlige Gegenbild dessen, was eben geschildert worden ist. Ich versuchte heute, sehr verehrte Anwesende, mit diesen skizzenhaften Worten hinzuweisen auf das, was Geisteswissenschaft über das mediale Wesen zu sagen hat, während ich ja sonst es nicht als meine Aufgabe betrachte, die Geisteswissenschaft in dieser Weise für die Öffentlichkeit zu pflegen, sondern das, was hier vertreten wird, soll aus dem stammen, was gerade das Gegenbild des Mediumismus ist, es soll ja stammen aus dem, was die menschliche Seele erkunden kann, die sich durch Entwicklung der in ihr schlummernden Kräfte zu einem Instrument macht, um hineinzuschauen in die imaginative Welt. Inwiefern diese imaginative Welt radikal verschieden ist von der krankhaften, phantastischen Welt der Halluzinationen, Visionen, Wahnvorstellungen und so weiter, davon wurde vorgestern schon gesprochen. Nun fragt es sich: Lauern dem Erkennenden denn auch auf diesem Gebiete Irrtümer gleichsam wie Gegner auf? Gibt es auch hier Quellen des Irrtums? – Das ist durchaus der Fall. Man kann schon, noch bevor man in die übersinnliche Welt eintritt, eine Vorstellung davon erhalten, inwiefern sich Irrtümer überhaupt ergeben können, wenn die Seele so, wie vorgestern geschildert worden ist, sich selbst überlassen, den Weg in die geistigen Welten unternimmt.

Wir haben in der gewöhnlichen Welt alle möglichen Weltanschauungen oder Standpunkte, alle möglichen Gesichtspunkte. Da hat man den Materialismus, den Positivismus, den Individualismus, den Spiritualismus und so weiter und so weiter. Man versuche nur einmal, indem man sich nicht als Fanatiker eines dieser Weltanschauungsstandpunkte fühlt, einen anderen anzuhören, der durch seine ganze Erziehung, sein ganzes Leben sich dazu gedrängt fühlt, alle logischen und sonstigen Gründe aufzubringen, sagen wir für den Materialismus oder Spiritualismus und so weiter; man versuche einmal, objektiv sich solche Menschen anzuhören, die alles vorbringen von ihrem Standpunkte aus, was vernünftigerweise vorgebracht werden kann zur Begründung einer dieser Weltanschauungen, und man wird sich überzeugen, dass es eigentlich niemals ganz berechtigt ist, sich als ein Gegner des Materialismus, des Spiritualismus und so weiter zu fühlen; man wird finden, dass für alle diese Standpunkte unendlich viel Vernünftiges, Belegendes vorgebracht werden kann. Man wird, wenn man unbefangen ist, sogar meistens mit einem Vertreter des betreffenden Standpunktes, wenn er nur vernünftig ist, durchaus einig gehen können. Selbst wenn man durchaus nicht auf dem materialistischen Standpunkt steht, wird man, wenn man einem vernünftigen Materialisten zuhört, sagen können: Ja, es ist doch eigentlich recht wohl begründet, was er für seinen Standpunkt vorbringt. Das Ungemütliche beginnt da, wo die Leute einseitig auf irgendeinen Standpunkt eingeschworen sind und bis zur Unerträglichkeit manchmal sich versteifen und einen anderen, ihnen unähnlichen Standpunkt angreifen und ablehnen. Es wäre sehr wohl denkbar, dass irgend jemand, der Erfahrungen auf diesem Gebiete hat, sagte: Ja, ich kann ganz gut Materialist sein, da, wo der Materialismus berechtigt ist, und Spiritualist da, wo der Spiritualismus berechtigt ist und so weiter. Diese Möglichkeit ist durchaus vorhanden.

Es sollte ja von mir sozusagen eine Probe gegeben werden in zwei Vorträgen, die ich hier im vorigen Winter gehalten habe über die Themen: «Wie widerlegt man Theosophie?» und «Wie begründet man Theosophie?» – eine Probe davon, wie man in der Tat positiv Anzuerkennendes vorbringen kann für entgegengesetzte Standpunkte. Diese Erscheinung des gewöhnlichen Lebens, die kann einen ja schon darauf hinweisen, worauf einsichtige Menschen immer hingewiesen haben, dass eigentlich fanatisch genommen, einseitig betrachtet, kein einziger solcher Standpunkt wirklich die Wahrheit darstellt. Menschen, die nun ein wenig Gefühl sich erwerben für diese Tatsache, sagen dann oftmals: Die Wahrheit liegt zwischen den entgegengesetzten Standpunkten in der Mitte. – Demjenigen allerdings, der tiefer auf diese Sache eingeht, dem kommt diese Aussage ganz genau so vor, wie wenn jemand sagen würde: Wenn ich zwei Stühle vor mir habe, dann setze ich mich nicht auf den einen oder den anderen, sondern das Beste ist es, sich zwischen die beiden Stühle zu setzen. – Goethe, der gute Erfahrungen auf diesem Gebiete hatte, sagte mit Recht, zwischen zwei entgegengesetzten Meinungen liege nicht die Wahrheit, sondern es liege dazwischen die Aufgabe, die uns erst zu den Tatsachen führen soll. –Und die Wahrheit wird sich in der Regel weder der einen noch der anderen Einseitigkeit gleich erweisen. Das zeigt sich in vieler Beziehung schon, wenn wir noch in der physischen Welt stehen und noch gar nicht in die übersinnliche Welt eintreten. Es könnte diese Tatsache schon erschütternd wirken, und sie muss erschütternd wirken für den, der Erkenntnis ernst zu nehmen in der Lage ist, für den Erkennen wirklich eine Lebenssache ist. Denn man kann jede Sache von einer Seite, von einem Standpunkt schildern und gute Gründe dafür vorbringen, und man kann dieselbe Sache mit vielleicht ebenso guten Gründen von der anderen Seite belegen. Das kann in vielen Fällen zu einer Art Zweifel an der Wahrheit führen. Denjenigen, der stark genug ist, wird es allerdings nicht zu einem Zweifel an der Wahrheit führen, sondern zu etwas ganz anderem, es wird ihn führen zu einer Untersuchung darüber, wie der Mensch denn überhaupt zu einem Standpunkt kommt.

Sehr verehrte Anwesende, wenn jemand nicht bloß auf den Materialismus eingeschworen ist, sondern so viel Freiheit sich bewahrt hat, von seiner Betrachtungsweise abzusehen und einige Selbsterkenntnis aufzubringen, dann kann er sich die Frage vorlegen: Wie ist denn eigentlich mein bisheriges Lebens verlaufen? Wie haben sich meine Denkgewohnheiten herausgebildet, die mich zum Beispiel hinneigen lassen dazu, mehr die materiellen Zusammenhänge zu beachten? So kann ein Anhänger des Materialismus fragen. Ebenso kann es der Anhänger einer mehr spirituellen Anschauung machen. Und da findet man schon im gewöhnlichen Leben durch Selbsterkenntnis, wie man den Standpunkt eigentlich selbst macht, wie der Standpunkt etwas Subjektives, etwas von der Individualität Abhängiges ist. Und dadurch lernt man den Wahrheitswert eines Standpunktes erkennen, dass man weiß, wie man selbst dazu gekommen ist, wie eine bestimmte Lebensrichtung einen dazu geführt hat, gerade so zu denken. Nicht dadurch, dass man die Wahrheit in der Mitte sucht zwischen den verschiedenen Standpunkten, sondern dadurch, dass man erkennt, wie dieser Standpunkt zustande gekommen ist und warum man so urteilt, wird man gerecht gegenüber den anderen, und man kommt auch dazu, den anderen Standpunkt in seinem Werte zu erkennen und anzuerkennen, wie wiederum die andere Seele auf ihrer Lebensbahn dazugekommen ist, eben von einer anderen Seite aus die Dinge anzusehen. Durch nichts gleichen sich die verschiedenen Standpunkte der Menschen so sehr aus, als wenn die Träger dieser verschiedenen Standpunkte Selbsterkenntnis in der charakterisierten Weise üben.

Man stelle sich einmal vor, dass eine Anzahl von Menschen mit entgegengesetzten Standpunkten sich wie in einem Kollegium zusammenfinden und sich über ihre verschiedenen Standpunkte furchtbar zanken. Wer so etwas mitgemacht hat, der weiß ja, dass dabei gewöhnlich nichts herauskommt. Wenn die Leute aufstehen nach vielstündiger Diskussion, so ist gewöhnlich jeder noch fanatischer verhärtet auf seinem Standpunkt als vorher. Wenn nun einmal der Versuch gemacht würde, dass ein solches Kollegium eine Stunde schwiege und ein jeder nur eine Stunde lang untersuchte, wie er zu seinem Standpunkt gekommen ist, und wenn sie erst dann wieder zu reden anfingen, dann würden sie sich weniger die Köpfe zerschlagen. Diese Möglichkeit ist durchaus denkbar. Denn Verständnis für den anderen Standpunkt würde man finden durch Selbsterkenntnis, durch Untersuchung des Weges, den man gemacht hat, um zu seinem Standpunkt zu kommen. Schon im gewöhnlichen Leben, schon bevor man die übersinnlichen Welten betritt, zeigt sich, dass Selbsterkenntnis der Weg ist, um an die Wahrheit nach und nach heranzukommen, und dass dann das Wahre sich selber als Tatsache in die Mitte hineinstellt, und dass man aber nicht seine Meinung hineinzustellen hat zwischen die entgegengesetzten Standpunkte.

In einem viel erhöhteren Maße muss diese Selbsterkenntnis stattfinden bei dem, der die Irrtumsquellen auf übersinnlichem Gebiete vermeiden will. Und hier muss gesagt werden, dass für den Geistesforscher nur dann Aussicht vorhanden ist, sich der Wahrheit zu nähern, wenn er damit beginnt, die Selbsterkenntnis auf dem Gebiete des Übersinnlichen aufs äußerste zu treiben. Er hat hinlänglich Gelegenheit dazu, wenn er sich nicht in Besitz nehmen lässt von dem, was zunächst in seiner Seele in Bildern auftritt, sondern wenn er frei und sicher sich zu sagen versteht: Das, was da in deiner Seele auftritt, das bist du selbst; so wie du Bilder siehst, auch wenn sie vielleicht wunderbar sind – das ist keine übersinnliche Welt; das alles bist du selber, hinausprojiziert, hinausgeschattet in den Raum. – So gibt ihm schon der erste Schritt auf dem Weg zur Geistesforschung die Möglichkeit zur Selbsterkenntnis.

Und dadurch, dass man so sich selber kennenlernt, lernt man erst sich auszuschalten von dem, was dann als objektiv gelten kann. Es gibt auf dem Felde der Geistesforschung keinen anderen Weg, das, was unwahr ist, was ein Irrtum ist, auszuschalten, als erst zur vollen Selbsterkenntnis zu kommen, so dass man das, was man selber ist, gleichsam herausschälen kann von dem, was dann übrig bleibt. Und hier kann der Geistesforscher erkennen an einem ganz bestimmten Schritt, den er zu machen hat, dass er hinlänglich weit gekommen ist in der Selbsterkenntnis. Wenn das nicht der Fall wäre, würde man sich vielleicht besser überhaupt nicht in das übersinnliche Gebiet hineinwagen. Denn es ist ja nichts so schwierig für den Menschen wie Selbsterkenntnis, wie objektives Anschauen dessen, was man selber ist. Nichts ist so schwierig, denn alle Interessen, alle Neigungen, alle Sympathien, die man für das eigene Selbst hat, legen sich in den Weg und betrügen uns gewissermaßen dadurch, dass sie uns vorgaukeln, sie stellten etwas Wirkliches dar, während sie doch nur Spiegelbilder der eigenen Wesenheit sind.

Der Schritt, durch den der Geistesforscher wissen kann, dass er die nötige Selbsterkenntnis hat, wird in der Geistesforschung bezeichnet durch etwas, was ja gewiss heute hier wegen der Kürze der Zeit nicht in seinem ganzen Umfang besprochen werden kann, es 'wird bezeichnet durch das Wort «Begegnung mit dem Hüter der Schwelle». Was ist dieser sogenannte Hüter der Schwelle? Man kann sich nur allmählich eine Vorstellung davon machen, was er ist. Nehmen wir einmal an, dass wir in einem bestimmten Lebensalter so recht intensiv zurückblicken auf die ganze Art und Weise, wie wir geworden sind, auf alles das, was wir uns als Lieblingsmeinungen gebildet haben, auf alles das, was wir gelernt haben, auf all die Art, wie wir bisher unsere Behauptungen eingerichtet haben, auf all die Art, wie wir bisher gefühlt haben in bezug auf Sinnliches und Übersinnliches. Wenn diese Dinge auch sehr schwierig sind – wichtig ist, zu wissen, dass man sich gerade solche Fragen vorzulegen und neben den anderen Meditations- und Konzentrationsübungen solche Fragen selbst als Meditationen zu betrachten hat. Das ruft in der Seele schlummernde Kräfte hervor, jene schlummernden Kräfte, gegenüber denen man sagen kann, dass man durch sie gewissermaßen von seinem eigenen Wesen loskommt, dass man in die Möglichkeit kommt, sich selber gegenüberzustehen.

Das zeigt sich in der imaginativen Welt zunächst an einzelnen Symptomen ganz konkret. Wenn man solche Übungen der Selbsterkenntnis macht, wenn man sich die Fragen stellt: Wie hat man sich bisher Meinungen gebildet? Was hat man besonders geliebt in religiöser, sittlicher und sonstiger Beziehung? –wenn man solche Fragen sich vorlegt, dann verspürt man eine gewisse Veränderung in der Seele, die zunächst recht unbehaglich ist. Sie besteht darin, dass man in vieler Beziehung überdrüssig wird des eigenen Wesens. Und der ist eigentlich noch kein rechter Geistesforscher, der nicht einmal stark diesen Überdruss an dem eigenen Wesen hat fühlen können. Denn im Grunde genommen ist man ja das alles selbst, was man bisher sich herangebildet hat als seine Meinungen, Gefühle und Empfindungen; etwas anderes ist man in seinem Bewusstsein selber kaum. Nun ist einem das alles "wie ein Äußerliches geworden. Man wird sich selbst entfremdet. Was man früher als seine Eigenheit angeschaut hat, das wird einem ein Äußerliches; man fühlt sich entleert, wie ein Nichts gegenüber dem, was man eigentlich ist und was einem nun nicht mehr so wertvoll erscheint, wie es einem früher erschienen ist.

Diese Gefühle, die geschildert worden sind, sie können, wenn in so vorsichtiger Weise der Weg in die geistige Welt hinein gesucht wird, wie das angedeutet ist in meiner Schrift «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» – diese Gefühle können alle so subtil durchgemacht werden, dass das Seelenleben weit davon entfernt ist, irgendwelche Gefahr zu erleiden.

Bei demjenigen, der höhere Stufen der geistigen Erkenntnis erreichen will, müssen die geschilderten Empfindungen in einer so starken Weise auftreten, dass sein Seelenwesen in einer ganz erheblichen Weise umgestaltet wird und er sich mit einem Empfindungsgehalt so vorkommt, als wenn er alles, was er in sich gehabt hat, nun außer sich hätte, ein Empfindungsgehalt, der ihm neu und fremd ist und der ihm daher den Eindruck macht, als wenn er vor einem Abgrund stünde. Was er bisher hatte, erscheint ihm als etwas, dessen er sich nicht mehr bedienen sollte. Wenn man intensiv genug eine solche Erfahrung gemacht hat, wird man sehr bald in der imaginativen Erkenntnis eine andere Erfahrung auftreten fühlen, die darin besteht, dass man sich auf eine neue Weise kennenlernt. Das, was man da als sein eigenes Wesen gleichsam aus sich herausgesetzt hat, das lernt man mit allen möglichen, zumeist unsympathischen Eigenschaften kennen. Und daneben treten Bilder von Wesenheiten auf, und die werden jetzt Kritiker oder Beurteiler dessen, was man eigentlich ist. Man sieht sich sozusagen von lauter Bildern anderer Wesenheiten umgeben, die einen belauern, die über alles, was gut oder schlecht an einem ist, richten. Kurz, die Selbsterkenntnis gibt sich dadurch kund, dass man das eigene Wesen gleichsam auf andere Wesenheiten verteilt fühlt. Es ist wirklich etwas, was gut mit dem Bild des Dionysos getroffen wird, dessen Wesen zerspalten und zerteilt wird. Alle Schulung, wie sie in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» beschrieben ist, geht darauf hin, dass man in der richtigen Weise sich zu verhalten weiß in dem Augenblick, wo das eben Geschilderte eintritt, wo sozusagen nicht die eigene Individualität wahrnimmt, sondern wo einen die Welt wahrnimmt und beurteilt. Für diesen Anblick muss man allerdings erst geschult werden, damit er einen nicht irritiert, damit man nicht schockiert wird. Die Tatsache, dass der Mensch des gewöhnlichen Lebens nicht sieht und dass er eigentlich in einem Glashaus sitzt und überall Weltenkräfte und Wesenheiten sind, die ihn bis in seine geheimsten Tiefen durchschauen, diese Tatsache würde im gewöhnlichen Leben überall störend, überall irritierend wirken. Dass man sie nicht sieht, dass man vor ihr geschützt ist, das wird in der Geistesforschung dadurch bezeichnet, dass man sagt: Neben dem Menschen steht der Hüter an jener Schwelle, durch deren Übertreten man in die übersinnliche Welt hineinkommt.

In ausführlicher Weise versuchte ich das in meinem Mysteriendrama «Der Hüter der Schwelle» darzustellen, wo ich die hier mehr theoretisch geschilderte Wahrheit in Handlung umzusetzen versuchte. Nun lernt man erst kennen, wenn man diese Begegnung mit dem Hüter der Schwelle durchgemacht hat, wie überall nicht bloß der Erkenntnisirrtum, sondern der reale Irrtum lauert, wie man sich überall vorsehen muss und die richtige Möglichkeit finden muss, die Dinge anzuschauen, wie sie in Wahrheit sind.

Da nun Selbsterkenntnis schwierig ist, da Selbsterkenntnis sich verhüllt, so ergibt sich die Gefahr eines beträchtlichen Irrtums, dass der Geistesforscher eben nicht bis zu dem Punkt kommt, wo er sich selber überschaut, sich sozusagen neben sich hinzustellen vermag. Nun kann man wiederum nicht sagen: Hier ist die Wahrheit, hier ist der Irrtum – das zeigt sich auch an dieser Stelle –, sondern nur, dass man auf den Weg zur Wahrheit sich begeben kann. Je mehr man dazu gelangt, sich selber als ein objektives Wesen zu überschauen und dadurch sich überall herauszuschälen von dem, was man beachten soll, so dass gar nichts mehr von dem, was in einem selber ist, einfließt in die Tatsachen der übersinnlichen Welt, je mehr man das zustande bringt, desto mehr kommt man an die Wahrheit heran. Muss bei der medialen Persönlichkeit das Bewusstsein herabgedämpft werden, so muss es bei der Geistesforschung, die in die übersinnliche Welt hineinschauen will, gerade so verstärkt werden, dass der Mensch sich nicht über sich selbst täuscht und über das, was er in sich hat. Dass man sein eigenes Selbst konzentriert vor sich hat – gerade das, was bei der medialen Persönlichkeit ausgeschaltet werden muss –, das muss so scharf wie möglich vor die Seele hingestellt werden beim Hineingehen in die übersinnliche Welt. Dadurch schaltet man alles, was persönlich ist, von dem übersinnlichen Wahrnehmen aus.

Nehmen wir an, ein Mensch begibt sich ehrlich und gewissenhaft auf den Weg, der im Vorhergehenden angedeutet worden ist, so kann er vielleicht bis zu einem gewissen Punkt kommen, dann verlässt ihn der Mut oder die Lust, und er geht nicht weiter. Man kann selbstverständlich alles, was man bisher erlebt hat, wieder unterdrücken. Der Geistesforscher ist nicht immer Geistesforscher, sondern nur in gewissen Augenblicken. Wenn er immer in einem solchen Seelenzustand wäre, würde er ja wie eine verrückte Persönlichkeit erscheinen. Derjenige, der nun seine Seele bis zu einem gewissen Grade schon umgewandelt hat und dann die ganze Sache gewissermaßen wieder an den Nagel hängt, kann erleben, dass er nun das, was er bisher erkannt hat durch Hineinblicken in die geistige Welt, chaotisch durcheinandermischt mit dem, was ihm die sinnliche Welt gibt. Die Dinge mischen sich durcheinander, und man kennt sich dann nicht mehr aus. Die Ohren hören, aber auch Übersinnliches mischt sich hinein, und man wird verworren. Das kann natürlich nur geschehen, wenn das in dem genannten Buch «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» Angegebene nicht berücksichtigt wurde. Unrichtige Anwendung der Methoden kann ja in jeder Wissenschaft vorkommen. Derjenige aber, der auf diesem Wege zu Ende gekommen ist – ganz zu Ende wird man ja nicht leicht kommen, aber man bekommt eine Annäherungsmöglichkeit und eine gewisse Sicherheit auf dem Wege in bezug auf das, wie die Dinge sein sollen – derjenige, der zu etwas gekommen ist, der wird folgendes erleben:

Nicht nur, dass er seine Eigenschaften des Gemütes, seine Vorurteile und so weiter überschaut und diese nicht einbezieht in das, was er objektive Erkenntnis nennt, sondern er wird auch niemals Bilder von dem, was die Sinne wahrnehmen, was der an das Physische gebundene Verstand ausdenkt, hineinmischen in die objektive Erkenntnis. Denn seine ganze Persönlichkeit, sein ganzes Selbst auszuschalten, kommt er ja nicht in die Lage. Und hier können wir nun zu einer Art Definition des Irrtums in der übersinnlichen Welt kommen. Dieser Irrtum besteht nämlich darin, dass man noch nicht weit genug in dem Abstreifen der eigenen Subjektivität gelangt ist, und wenn man das nicht ist, wird man immer die eigene Individualität in das Bild der objektiven Wirklichkeit hineinmischen. Wenn oft gesagt wird, das, was die Seher wahrnehmen, das werde ja von jedem etwas anders geschildert, und daher könne man sich auf gar nichts verlassen, so ist das auf der einen Seite ganz natürlich. Eine solche Tatsache kann zugegeben werden, aber die Betonung derselben ist eine Trivialität, weil es eben eine Selbstverständlichkeit ist. Es ist natürlich, dass das Ideal des Geistesforschers kaum je ganz erreicht werden kann und dass daher überall in das, was der Geistesforscher beschreibt, ein subjektives, individuelles Element hineingemischt wird. Wer aber vergleichen kann, der wird schon finden – namentlich wenn er das berücksichtigt, was über die mediale Persönlichkeit gesagt worden ist –, dass, wenn nicht nur auf die Bilder, sondern auf das Erlebnis an sich geschaut wird, sich mehr oder weniger ein Gleiches darstellt.

Auch in bezug auf die moralischen Qualitäten, die für den Seher notwendig sind, ist hervorzuheben, dass er gewissenhaft sein muss, dass er alle jene Eigenschaften ausbilden muss, die schon vorgestern genannt –worden sind. Es ist durchaus richtig, worauf vorgestern ein so großer Wert gelegt worden ist, dass man zwar nur durch die geschilderten Vorgänge in die geistige Welt hineinschauen kann, dass aber, wenn es gelungen ist, die Forschungsergebnisse der geistigen Welt hineinzutragen in die Begriffe des physischen Menschenverstandes, die für jeden Menschen zugänglich sind. Gesucht werden müssen sie in der übersinnlichen Welt, begriffen werden können sie von dem gewöhnlichen gesunden Menschenverstand. Ebenso wahr ist es, dass derjenige, der gut denken kann, der hier in der physischen Welt ein logischer Kopf ist, auch dasjenige richtig zu beurteilen vermag, was er in der geistigen Welt erlebt. Und wer in der Sinneswelt ein Tor ist und nicht logisch denken kann, der wird, auch wenn er noch so viel sehen mag, doch alles falsch und karikiert beschreiben. Die ganze Art, wie man denkt, richtig oder unrichtig, das zieht sich hinein in die Auffassung der übersinnlichen Welt. Ebenso ist es mit den moralischen Qualitäten des Menschen. Wer mit unmoralischer Seelenstimmung in die geistige Welt sich hinaufentwickeln will, der wird in der geistigen Welt – weil in dieser geistigen Welt ja gerade die inneren Qualitäten die Wege bereiten – gerade zu den die Welt störenden, die Welt hemmenden Dingen und Wesenheiten kommen und wird sie durch seine unmoralische Stimmung noch verzerrt, karikiert erkennen. Wer aber mit moralischer Seelenverfassung sich hineinbegibt, namentlich mit selbstloser Seelenverfassung, der wird die Wesenheiten der geistigen Welt finden, die ihm die Dinge in ihrer richtigen gegenseitigen Anordnung und Gewichtigkeit zeigen.

So ist das Maßgebende für Wahrheit oder Irrtum in bezug auf die geistige Anschauung nicht etwas, was man sich als Seher erst erwirbt, sondern etwas, was man sich schon vorher erworben hat sowohl in intellektueller wie in moralischer Beziehung. Namentlich moralische, gemüthafte Dinge spielen stark m die Art hinein, wie man die übersinnlichen Erscheinungen auslegt, interpretiert. Wer in einem bestimmten Glauben befangen ist, wer Sympathien und Vorurteile dafür hat, dass etwas Bestimmtes gerade wahr sein solle, der trägt diese Gesinnung, dieses Vorurteil in die übersinnliche Welt hinein; er deutet danach die Erscheinungen. Und alles, was er aus der geistigen Welt heraus ergründet und verkündet, kann ein Irrtum sein, weil es durch seinen subjektiven Glauben gefärbt ist.

Und hier kommt das Gebiet, wo hingewiesen werden muss – nachdem die Irrtumsquellen der Geistesforschung selbst besprochen worden sind – auf die Irrtumsquellen bei der Verbreitung der Geisteswissenschaft, der Geistesforschung. In einer gewissen Weise ist es mit der Verbreitung der Geistesforschung so wie mit der Verbreitung irgendeiner anderen Forschung. Wie zum Beispiel nicht jeder ein Chemiker sein kann, aber jeder das, was die Chemiker im Laboratorium über die Substanzen erforscht haben, aufnehmen und durchschauen kann, so kann jeder, auch wenn er nicht ein Geistesforscher ist, doch das, was von dem Geistesforscher verkündet wird, beurteilen, und zwar nicht nur bis zu einem gewissen Grade, sondern in seiner Ganzheit, in seinem vollen Umfang. In dieser Beziehung sind die Dinge ähnlich, in anderer Hinsicht wieder unähnlich. Sie sind deshalb unähnlich, weil Chemie oder Mathematik oder andere Wissenschaften etwas sind, dem gegenüber man, wenn es von Forschern verkündet wird, kühl und objektiv, wenn auch mit wahrer Wissbegierde gegenüberstehen kann. Das ist nicht der Fall bei der Geistesforschung. Die Geistesforschung berührt das Intimste unserer Herzen, die großen Lebensfragen und Lebensrätsel. Und wie der Forscher seine Vorurteile, seinen Glauben, seine Sympathien und Antipathien in die geistige Welt hinaufträgt und die Sache dadurch verzerrt und falsch sieht, so bringt das Publikum – gebrauchen wir den Ausdruck –, die Bekennerschaft, dem Geistesforscher bestimmten Glauben, bestimmte Sympathien oder Antipathien entgegen. Es bildet sich etwas heraus, was nicht zu einer objektiven Beurteilung führt, sondern was mit allen möglichen Dingen zusammenhängt, die von Mensch zu Mensch spielen. So notwendig es ist, über diese Dinge etwas zu erfahren, so sehnsüchtig die Seele danach lechzt, über diese Dinge etwas zu erfahren, so lässig ist die Menschenseele zuweilen, den unbefangenen Verstand anzuwenden, um das zu beurteilen, was der Geistesforscher vorbringt, obwohl es restlos beurteilt werden könnte. Da tritt dann gar oft an die Stelle einer unbefangenen Beurteilung der Glaube, weil einem das, was der eine oder andere sagt, vielleicht bloß dadurch zusagt, dass er es in gefälliger oder eindringlicher Form vorbringt oder weil man ihn sonst sympathisch findet. Es tritt an die Stelle der objektiven, gewissenhaften Prüfung der Glaube, man nimmt die Dinge auf Autorität hin an. Und das Schlimmste ist, meine sehr verehrten Anwesenden, wenn der Autoritätswahn zwischen den Geistesforscher und sein Publikum tritt. Und so, wie durch all die Dinge, von denen wir heute gehört haben, dass der Geistesforscher sie beachten soll, er gleichsam neben seinem eigenen Selbst Wache hält, so sollte der Bekenner, derjenige, der den Geistesforscher anhört, Wache halten bei seinem gesunden Menschenverstand und immer erneut auch eine Art von Selbstprüfung unternehmen, um gewahr zu werden, wieviel von bloßem Glauben, von bloßem Vorurteil, von Sympathie, von alledem, was man den Autoritätswahn nennen kann, sich hineinmischt in die Tatsachen, dass man die Mitteilungen des Geistesforschers hinnimmt.

Denn in zweifacher Hinsicht ist das Hinnehmen auf bloßen Glauben von großem Schaden, in zweifacher Beziehung ist das ein Irrtumsquell gerade bei der Verbreitung der Geisteswissenschaft. Das eine ist, dass in dem Bekenner – und die Tatsachen beweisen das hinlänglich – das nicht ausgebildet wird, was am notwendigsten in jedem ausgebildet werden sollte: gesundes Urteil, Wachehalten beim gesunden Menschenverstand. Und da der gesunde Menschenverstand am besten geschult werden kann, wenn die Ergebnisse der Geistesforschung durchdacht werden, so beraubt man sich der besten Gelegenheit dazu, wenn man diese Ergebnisse auf bloßen Glauben hin annimmt. Und das zweite: Dadurch, dass die Dinge wichtig sind, die der Geistesforscher zu sagen hat, dadurch wird er – wenn der Zuhörer nicht Wache hält bei seinem gesunden Menschenverstand – einen gewissen, nicht richtigen Einfluss auf seine Bekennerschaft ausüben können, weil man ihm glaubt, weil man aus Vorurteil heraus das aufnimmt, was man eigentlich prüfen sollte. Dadurch wird der Geistesforscher – statt einen berechtigten Einfluss auszuüben, indem er überzeugt und der Zuhörer einsieht, was er sagt –, stattdessen versuchen zu überzeugen durch eine Art Totdrücken des gesunden Menschenverstandes, durch ein Überwältigen des gesunden Menschenverstandes. Während durch Prüfung und durch den gesunden Menschenverstand die Bildung eines kritischen Urteils gerade erhöht werden sollte, ist es leider nur zu häufig der Fall, dass dieses niedergedrückt wird, teilweise durch die Lässigkeit derer, die Bekenner sein wollen auf rasche Weise, weil ihnen das gefällt, was der Geistesforscher sagt, oder gar, weil er ihnen selber gefällt, und zum andern dadurch, dass der Geistesforscher selber sozusagen in Versuchung kommt, diesen Glauben zu erwecken. Je leichter man ihm glaubt, desto leichter kommt er in Versuchung.

Wenn es auch heute, weil eben zahlreiche Vorurteile der Geisteswissenschaft noch entgegenstehen, durchaus noch nicht zu einem idealen Zustand kommen kann, so muss doch gesagt werden, dass die Bekennerschaft, wenn Wahrheit herrschen soll, es dem Geistesforscher bei der Verbreitung seiner Wahrheiten so schwer wie möglich machen und die höchsten Anforderungen stellen sollte in bezug auf das Hineinprägen der Erkenntnisse der Geisteswissenschaft in Begriffe und Ideen des gesunden Menschenverstandes. Dann wird dem entgegengearbeitet, was ja leider auch eine Tatsache ist und eine immerwährend wiederkehrende Fehlerquelle bei der Verbreitung geistiger Wahrheiten, dass sich so leicht neben gewissenhafte Geistesforschung, neben Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit auf diesem Gebiete Scharlatanerie und alles mögliche Ähnliche mischt. Wenn eben nicht Wache gehalten werden will bei dem gesunden Menschenverstand, kennt man sich nicht mehr aus, wo gewissenhafte Geistesforschung und wo Scharlatanerie und Humbug ist und alles zusammengeworfen wird.

Zwei entgegengesetzte Seelenrichtungen werden Scharlatanerie und gewissenhafte Geistesforschung zusammenwerfen. Die eine Seelenrichtung ist die der im Autoritätswahn befangenen Gläubigen, die leichten Herzens sich aus ihren Sympathien und Vorurteilen heraus zu Bekennern der Geisteswissenschaft machen; die mischen alles durcheinander und nehmen oft das eine so gut hin wie das andere. Es gibt für diese Art von Seelen, die so gerichtet sind, kaum ein anderes Heilmittel als das, dass sich gewissenhafte Geistesforscher finden, die – obwohl sie es leicht hätten, den Irrtum zu verbreiten – dies verschmähen und sich gewissenhaft auf den Boden der Wahrheit stellen. Ob das der Fall ist, das kann nur im einzelnen Falle die Erfahrung, die Tatsächlichkeit lehren. Die anders gearteten Seelen, die auch schwer zwischen Scharlatanerie und Gewissenhaftigkeit auf diesem Gebiete unterscheiden können und auch alles durcheinanderwerfen, das sind diejenigen, die überhaupt nicht auf die Sache eingehen wollen, die mit den paar Begriffen, die sie sich zusammengezimmert haben, oberflächlich über die Sache urteilen, und die, weil es ihnen oft gelingt, Schwindel aufzudecken, nicht nur alles mit diesem Namen bezeichnen, sondern alles in diesen Kasten werfen. Sie können ebensowenig zwischen Scharlatanerie und Gewissenhaftigkeit unterscheiden wie die anderen, sie sind ebenso die Gelegenheitsmacher, dass sich Scharlatanerie und gewissenhafte Geistesforschung in gleicher Weise verbreiten können, weil sie alles in denselben Kasten werfen. Die eine Richtung, die der gläubigen Bekenner, hält oftmals die größte Scharlatanerie für eine unumstößliche höchste Wahrheit, die andere Sorte von Menschen, die befangenen, die Nichtkenner, die hält manchmal auch das, was gewissenhafte Geistesforschung ist, für Scharlatanerie und Irrtum, und man kann ihnen manchmal nicht gram sein, aus dem Grunde, weil man denen überhaupt nicht gram sein kann, da sie nicht besser verstehen, was sie sagen.

So wird, damit Wahrheit und nicht Irrtum bei der Verbreitung der Geistesforschung leben kann, vor allen Dingen notwendig sein – und wer Erfahrung in diesen Dingen hat, der weiß das genau –, dass namentlich bei der Bekennerschaft der Geistesforschung kritischer Verstand, kritisches Urteil, gesunder Menschenverstand und nicht Autoritätswahn sich bilde. Dieser Autoritätswahn wird schon zusammenfallen, wenn eine Erkenntnis unter denjenigen sich verbreitet, die die Geistesforschung mögen und brauchen, eine Erkenntnis, die leider heute noch wenig gerade unter den Bekennern der Geisteswissenschaft verbreitet ist, dass ein Seher, ein praktischer Geistesforscher, der hineinschauen kann in die geistige Welt, dadurch, dass er dies kann, deshalb kein höheres Tier ist, deshalb nichts Besonderes ist, sich durch das gar nichts von anderen Menschen unterscheidet, ebensowenig wie jemand sich dadurch von anderen Menschen unterscheidet, dass er ein Chemiker, ein Botaniker, ein Maschinist oder ein Schneider ist. Den Wert des Menschen macht der Besitz geistiger Erkenntnisfähigkeit nicht aus, sondern nur das, dass sie eben auch dieses Gebiet erforschen und zur Erkenntnis der Menschen bringen können. Den Wert des Menschen macht lediglich sein gesunder Menschenverstand aus, seine Urteilsfähigkeit und seine moralischen Qualitäten. Und gerade die Geistesforschung könnte beweisen, dass über den Wert des Menschen schon durch seine intellektuellen und moralischen Qualitäten entschieden ist, bevor er in die geistige Welt hineintritt, und dass, wenn er da minderwertig ist, auch die Resultate seiner Forschung minderwertig sind. Dies einzusehen ist außerordentlich notwendig. Und noch mehr als die Gegner der Geisteswissenschaft sollten ihre Bekenner auf diesem Felde Einkehr halten und eine rechte Stimmung für die Besiegung des Autoritätswahnes suchen. So versuchte ich heute, meine sehr verehrten Anwesenden, nicht nur die Irrtumsmöglichkeiten in der Auffindung geistiger Wahrheiten zu schildern, sondern auch die Irrtumsmöglichkeit in bezug auf die Verbreitung geistiger Wahrheiten, in bezug auf das Einbürgern von geistigen Wahrheiten in die allgemeine geistige Kultur einer Zeit. Und ich versuchte, eine Empfindung davon hervorzurufen, wie gewissenhafte Geistesforschung erkennt, dass die Gegner derselben oft Recht haben können, dies oder jenes einzuwenden, und dass gewissenhafte Geistesforschung die wie immer gearteten Einwände sich schon selber machen kann, ja, sich sogar machen muss, weil eben wichtig ist auf diesem Gebiete, dem Irrtum ins Auge zu schauen, um die Wahrheit zu erkennen. Für die Bekenner der Geisteswissenschaft hat derjenige, der gewissenhaft sein will, in der Regel ja nur einen Trost, der auch vorhanden sein muss – und darin wollen wir ausklingen lassen, was wir heute betrachtet haben, denn schließlich kommt es doch am meisten nicht darauf an, nicht, was für Begriffe und Ideen sich in die Seele einsenken, sondern welche Stimmung sie in der Seele hervorrufen – für die Bekennerschaft der Geisteswissenschaft gibt es den einen Trost, dass ja die Wahrheit eine starke Kraft hat, und dass, wenn auch der Irrtum sich einschleicht durch den Autoritätswahn, in der Regel durch die Selbstkorrektur der Wahrheit diejenigen kuriert werden, die eine Weile auf bloßen Autoritätswahn hin dem oder jenem angehangen haben. In den meisten Fällen vollzieht sich eine solche Kur ja dadurch, dass es sich gewissermaßen rächt, einen solchen blinden Autoritätsglauben gehabt zu haben. Und oftmals ist es eben geschehen, dass, weil man die Einzelheiten nicht scharf angeschaut hat, sondern dem, was gesagt worden ist, aufs Wort geglaubt hat, dass dann bei einem krassen und radikalen Falle sich zeigt, wie wenig gewissenhaft man vorgegangen ist. Wenn dann der Schmerz und die Enttäuschung umso bedeutsamer sind, dann hat die Kur eben Erfolg.

Für diejenigen aber, die alle Geistesforschung mit Scharlatanerie, mit Täuschung zusammenwerfen, sei es, dass sie es im guten Glauben tun, was ja auch vorkommt, sei es, dass sie es aus bösem Willen heraus tun, für die kann die heutige Betrachtung in einen anderen Trost einmünden, einen Trost, den die menschliche Seele immer dann haben kann, wenn sie überhaupt der Wahrheit gegenüberzustehen sich sehnt, wenn sie überhaupt nach Wahrheit lechzt. Wahrheiten der Geistesforschung, wenn sie neu auftreten, sind ja viel mehr dem Schicksal ausgesetzt, dem aber auch die anderen Wahrheiten ausgesetzt sind, die nach und nach in der Fortentwicklung der Menschheit auftreten. Wie ist zum Beispiel die kopernikanische Weltanschauung aufgenommen worden! Wie hat man Galilei behandelt! Wie hat sich die ganze Welt gewehrt, als Francesco Redi die heute selbstverständliche Wahrheit verbreitete, dass Regenwürmer nicht aus Flussschlamm und anderem Leblosen entstehen können, sondern dass alles Lebendige aus einem vorher vorhandenen lebendigen Keim hervorgeht! Wie haben sich selbst gelehrte Körperschaften erhoben, als die heute selbstverständliche Wahrheit ausgesprochen wurde, dass eiserne Steine aus der Luft auf die Erde fallen können – die Meteoriten! Wie haben sich die Menschen dagegen gewehrt, als eine scheinbar so unbedeutende Sache wie die Briefmarke zuerst eingeführt werden sollte. Damals hat eine maßgebende Persönlichkeit gesagt: Ja, wenn wirklich die Korrespondenzen so zunehmen würden, wie es diejenigen annehmen, die die Briefmarken einführen wollen, dann würden ja die Postgebäude, die wir jetzt in unseren Städten haben, nicht mehr ausreichen! – Zahlreiche andere Beispiele ließen sich dafür anführen, dass die Wahrheit, wenn sie in die Welt tritt, für paradox gehalten und deshalb zurückgewiesen wurde. Der Anblick dieser Schicksale der Wahrheit kann uns den Trost und die Zuversicht gegenüber all denen geben, die die Geisteswissenschaft ablehnen und mit irgendwelcher Scharlatanerie zusammenwerfen, den Trost, den man eben gegenüber der Wahrheit überhaupt in allen Zeitaltern gehabt hat und den man in die Worte kleiden kann, die einer gesprochen hat, der ja vielfach geirrt hat, der aber in ernster und energischer Weise suchte, nach der Wahrheit zu forschen.

Und es dürfen wohl gerade diese beiden Vorträge, die das Wechselverhältnis von Wahrheit und Irrtum in der Geistesforschung behandelten, und das, was sozusagen wie der fortlaufende Strom in allen einzelnen Ausführungen dieser Vorträge war, in die Worte des energischen Wahrheitsforschers Schopenhauer zusammengefasst werden, der ja im Hinblick auf die Schicksale der Wahrheit das trostreiche Wort in seiner Schrift «Die Grundlagen der Moral» gesprochen hat – und damit wollen wir schließen –: In allen Jahrhunderten musste die arme Wahrheit darüber erröten, dass sie paradox war, und es ist doch nicht ihre Schuld. Sie kann einmal nicht die Gestalt des thronenden allgemeinen Irrtums annehmen, und so vermag sie nichts anderes als seufzend hinaufzublicken zu ihrem Schutzgott, der Zeit. Aber dessen Flügelschläge sind so langsam, dass über dem Flügelschlagen das einzelne menschliche Individuum trotz der siegenden Zeit dahinstirbt. – Aber die Wahrheit, sie wird siegen, wenn auch die Individuen dahinsterben und die Schmerzen des Irrtums auch noch so sehr erleben sollten.