1. AN JOSEF KÖCK

Am 13. Januar 1881 12 Uhr mitternachts

Lieber, getreuer Freund!

Es war die Nacht vom 10. auf den 11. Januar, in der ich keinen Augenblick schlief. Ich hatte mich bis 1/2 1 Uhr mitternachts mit einzelnen philosophischen Problemen beschäftigt, und da warf ich mich endlich auf mein Lager; mein Bestreben war voriges Jahr, zu erforschen, ob es denn wahr wäre, was Schelling sagt: «Uns allen wohnt ein geheimes, wunderbares Vermögen bei, uns aus dem Wechsel der Zeit in unser innerstes, von allem, was von außen hinzukam, entkleidetes Selbst zurückzuziehen und da unter der Form der Unwandelbarkeit das Ewige in uns anzuschauen.» Ich glaubte und glaube nun noch, jenes innerste Vermögen ganz klar an mir entdeckt zu haben – geahnt habe ich es ja schon längst –; die ganze idealistische Philosophie steht nun in einer wesentlich modifizierten Gestalt vor mir; was ist eine schlaflose Nacht gegen solch einen Fund! Und der Morgen kam heran – ein eisig kalter .... da war ich denn schnell reisefertig und stand zur Abfahrt bereit – an mich ein Brief war da; daß er von Dir war, entdeckte ich ja gar bald an der Adresse. Ich war im Waggon, und bei einer erbärmlichen Lampe las ich meine augenblicklichen Gefühle zu schildern, ist heute schon ganz unmöglich; ich war außer mir – ungeheuer bewegt; was war zu tun, um beruhigt zu werden offenbar nichts! Ich war den ganzen Tag nicht derselbe des vorigen Tages – natürlich materialiter gemeint, nicht formaliter –. Des Abends beim Nachhausefahren hatte es eine Frau zu büßen; ich stieg in den Waggon – d. h. mein Körper –. Um Dir zu zeigen, daß so was auch möglich ist, flechte ich hier eine kleine Anekdote ein: – Einmal saß ich bis tief in die Nacht hinein bei Jean Paul; ich las und las so fort – des vorigen Tages war dasselbe geschehen –, doch was weiter war, das weiß ich nicht, denn ich hatte mich weder ausgezogen noch schlafen gelegt, doch fand ich mich des Morgens liegend im Bette, meine Bücher, Kleider etc. an den gewohnten Orten –, offenbar war alles im Traume geschehen, und da ich täglich auf ganz bestimmte Weise schlafen gehe, d. h. meine Bücher an einen bestimmten Ort lege, meine Kleider desgleichen etc., etc., so war dieses mit ebenderselben Genauigkeit jetzt im Traume geschehen –. Nun so ging ich desselbigen Tages auch herum und zum Bahnhof bis in den Wagen und setzte mich – nur zum Unglück auf eine Uhr, die eine Frau dort liegen hatte und die auf Scherben hin war. – Den Schaden hatte sie, nicht ich; denn ich habe ihr nichts gezahlt; sie soll ihre Uhr anderswohin legen. – Des Abends schrieb ich diese Zeilen, die auch bei diesem Briefe liegen, nieder –, des anderen Tages einem Freunde - ohne sonstige Andeutung –, als er um den Grund meines Betrübtseins frug, ins Stammbuch die Worte, die sich an der Spitze des Beiliegenden befinden: Unergründlich tief usw. – Nun ist es schon zwei Tage. Nachdem ich nun zwei Tage als Mensch die Sache betrachtet habe, ist es meine Aufgabe, Deine Natur als Philosoph zu betrachten, und da, sage ich Dir ganz offen, bist Du mir die unbegreiflichste der Unbegreiflichkeiten. Kehre vor allem in Dein Innerstes ein und betrachte es als Deine Pflicht, zu erforschen, ob Dein Liebesverhältnis ganz frei war von Selbstsucht – ganz bis aufs Äußerste frei –, denn was Du da vom Verzichten als einem unedlen Handeln sagst, das gestehe ich offen, daß ich's nicht verstehe; noch weniger, warum es besser gewesen, Du hättest nicht verzichtet. – War es ganz frei davon, dann, guter Freund, brauchst Du weiter nichts, Du hast genug, hast Cyane in Dein Herz aufgenommen; da lebt sie drinnen fort, ihr Bild genügt Dir und das kannst Du mit dem Freunde sogar teilen; das ist echte Liebe, wo man mit dem Bilde zufrieden ist und das Fleisch nicht braucht, ja es unterdrückt. Da gibt's kein Grämen, keinen Kummer. Sage das auch dem Freunde! – Und nun, Freund, noch einen Rat: Schlage Dir den Heine, den literarischen Gassenjungen, den Vaterlandsverächter – den Empfindungsentsteller – ganz aus dem Kopfe und lies Goethes «Faust» – da ist Nahrung für jeden denkenden und empfindenden Menschen, der noch mehr erstrebt als das Zwei mal Zwei ist Vier der hausbackenen Alltäglichkeit. Ich danke es Gott und einem guten Geschicke, daß ich hier in Wien einen Mann kennenlernte, der – nach Goethe selbstverständlich – sich als der beste Faustkenner rühmen darf, einen Mann, den ich hochschätze und verehre als Lehrer, als Gelehrten, als Dichter, als Menschen. Es ist Karl Julius Schröer, der Sohn jenes Chr. Öser, der so berühmt in Deutschland, auch teilweise schon bei uns ist, durch seine Dichtungen einerseits, seine «Weltgeschichte für Töchterschulen», «Briefe über die Hauptgegenstände der Ästhetik an eine Jungfrau» etc. etc. etc. Nimm den Namen – er ist ein Pseudonym – Chr. Öser und setze S nach O voraus - ganz voraus – so hast Du Schröer. – Nun da ich doch schon wieder aus dem Geleise bin – K. J. Schröer war es, der den zweiten Teil des «Faust» ins rechte Licht setzte. Glaubte man doch, dieser sei nur ein schwaches Werk des alten Goethe. – Lenau sagte: Goethe hätte den Gedanken des Faust ganz verfehlt. Den Faust müsse der Teufel holen. Doch das ist nicht wahr. Das hat Goethe richtig gesehen. Den Faust des sechzehnten Jahrhunderts, der sich nicht mit der Bibel etc. etc. zufrieden gibt, den muß der Teufel holen, das ist gewiß, doch den Faust des neunzehnten Jahrhunderts, den braucht und darf kein Teufel holen, denn «wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen».

Nun, Freund, dieses Werk, sag' ich Euch, studieret; ich sage es von Herzen, in tiefster innigster Überzeugung, – daraus trinket Mut des neuen Lebens zu neuer Kraft, zu neuen Idealen, und mit dem Heinrich Heine schließt ab und laßt Euch durch ihn nicht um den Verstand bringen. Ich kenne auch einiges Schöne, was Heine geschrieben, doch mir ist leid, daß dieses von Heine geschrieben. Schaue Dir dagegen den lieblichen edlen Müller oder Rückert oder Unland an, diese deutschen edlen Herzen –. Heine der Deutschen-Verächter hole sich Ruhm bei den Franzosen, vielleicht findet er dort Anklang, wo er, verlottert und verbuhlt, frivole und ein edleres Gefühl verletzende Lieder gesungen hat. Dort mag er glauben machen, daß er neben einem Dichter in Deutschland noch als ein Tribüne angesehen wird; bei uns ist er ein Straßenjunge, der manchmal auch witzige Einfälle hat. Verzeih, daß ich mit so harten Worten Deinen Irrtum, den Du damit bezeigest, daß Du Heinrich Heine so hoch hieltest, bespreche, – doch was würde es heißen, wenn ich anders sagte, als ich denke, – ist das einer edeln Seele einem Freunde gegenüber würdig? Ich gestehe Dir offen, daß es meine feste Überzeugung ist, daß, wenn Schiller noch gelebt hätte, als Heines Lieder erklangen, er dieselben ebenso beurteilt hätte. – Du hast doch auch Plato studiert! – Und wahrscheinlich auch seinen «Staat»! Studiere ihn gelegentlich noch einmal; vielleicht bekommst Du andere Ansichten. Was soll's mit der Wanderlust? Nur gerade direkt herausgesagt! Nur kein Romanheld sein, der nicht weiß, was er will, weil der Dichter auch nicht gewußt hat, was er will...


2. AN JOSEF KÖCK

Wien, 27. Juli 1881

Lieber Freund!

Was Du verbrochen hast? Du würdest es ja wohl selbst wissen, wenn Du etwas verbrochen hättest. Wenn Du aber erst fragst, so weißt Du wahrscheinlich von nichts. Nun was ist die Folge? Der Grund meines Nichtschreibens liegt auch gar nicht darinnen. Er liegt vielmehr darinnen, daß ich gar zu derlei Sachen nicht kommen kann. Kommst Du einmal zu dem guten Schober, so kannst Du ihn fragen: wie wenig ich zu sehen bin. Es ist dies sehr natürlich. Ich bin durchaus kein Mensch, der in den Tag hinein lebt, wie ein Tier in Menschengestalt, sondern ich verfolge ein ganz bestimmtes Ziel, ein ideales Ziel, die Erkenntnis der Wahrheit. Nun kann man diese aber keineswegs im Sprunge erhaschen, sondern es bedarf dazu gerade des allerredlichsten Strebens von der Welt, eines Strebens, das frei von Selbstsucht, aber eben auch frei von Resignation ist. Und Du weißt es wohl, daß auch Lessings Streben von der letzteren keineswegs frei war. Die Hindernisse zur freien Vollkommenheit und zur echten Weisheit sind so große, daß man sich dieselben kaum vorstellen kann. Die Wissenschaften sind voll von Schnörke-leien und Pedanterien, die einen gesunden Geist abstoßen. Denn, das weißt Du ja wohl, daß Bücher nicht immer aus Neigung geschrieben werden, um die Wahrheit zu erkennen und zu verbreiten, und ich versichere Dich, wenn der leiseste Zug von einem Nicht-nach-Wahrheit-Streben vorhanden ist, dann ist alles Reden von derselben ein Kauderwelsch und eine Narretei. Das Böse ist nur, daß die sozialen Zustände derart sind, daß man sich die Schnörkeleien neben dem Wahren auch aneignen muß; übrigens verlangt's ja auch das Pflichtgefühl, denn man kann was nur dann beurteilen, wenn man's kennt. Will man behaupten, daß etwas stinkt, so muß man dazu gerochen haben.

Womit beschäftigst Dich denn Du jetzt? Ich bitte Dich, quäle Dich nicht mit unerreichbaren Idealen ab, sondern strebe nach erreichbaren. Denn ich versichere Dich, es ist bei dem Faseln von unerreichbaren Idealen immer etwas kurioses Selbstgefälliges dabei. Ich strebe auch nach Idealen – dieses Wort im edelsten Sinne verstanden –, aber wohl gemerkt, nach erreichbaren. Oben deutete ich es an. Fluche Du auch nicht viel über die Menschen und sei nicht Pessimist. Ich kann Dir nur sagen, daß es oft ganz unbegründet ist, über die Bosheit der Menschen zu schelten, denn meist ist es nicht Bosheit, durch was uns Leid bereitet wird, sondern reine Dummheit, und die können wir niemandem als Schlechtes anrechnen.

Schreibe mir bald, und zwar mit der Adresse: k.k. Technische Hochschule, Wien.

Indessen sei gegrüßt.

Dein unveränderlicher

Rudolf Steiner


6. AN RUDOLF RONSPERGER

Oberlaa, 16. August 1881

Mein lieber Freund!

Ihr «Ausblick und Rückkehr» überrascht mich sonderbar. Ist das Ihr Ernst? Das kann ich nimmermehr glauben. Ich gehe im Zimmer auf und ab und suche mein Entsetzen zu bemeistern. Das ist ja die Poesie des krassesten Materialismus. Von neuem wendet sich mein ganzer Groll gegen den letzteren. Mich berührt das Gedicht so unangenehm, mir ist das Hineinträumen eines so düstern Pessimismus in die jugendliche Herrlichkeit so zuwider, daß ich gar nicht weiter über das Gedicht zu sprechen vermag. Erst jetzt fällt mir ein, daß ich ein solches Urteil hätte vielleicht nicht aussprechen sollen, doch ich kann ja annehmen, daß Ihnen bare Münze das liebste ist.

Das zweite Gedichtchen versöhnt mich einigermaßen, nur fühle ich darinnen zu viel des jungen Schiller; gebe Gott, daß ich dereinst etwas dem späteren Ähnliches bei Ihnen bewundern und mich daran freuen könnte. Bezüglich des «Herbsttraumes» haben Sie mich mißverstanden. Ich tadle ja nicht die Art und Weise, wie Sie die Unbefriedigtheit ausdrücken; ich sage ja eben, daß es sieht nicht gebührt, in solcher Lage eine Unbefriedigtheit auszudrücken. Sie fragen: «soll er nicht die Unbefriedigtheit ausdrücken?» und dazu sage ich: Nein.

Denken Sie nur, was würden wir denn sagen, wenn uns Jules Verne alle Einrichtungen und Vorkehrungen ausführlich beschriebe und dann, wenn es zur Abfahrt nach dem Monde käme, sagte: es geht nicht. Ich für meinen Teil würde über J. Verne rasend werden. Und dann, warum sollte das höchste Glück jeder Beschreibung spotten. Man braucht die bloßen Tatsachen [nur] anzuführen und die entsprechenden Saiten werden in dem mittönenden Herzen des Mitmenschen erregt werden. Kann der Dichter so nicht auch den tiefsten Schmerz darstellen? Denken Sie an Werther.

Und nun zu was anderem. Den eigentlichen Begriff und das Wesen des Menschen macht aus: die Sehnsucht nach dem Absoluten, Ewigen, Unsterblichen. Dieses zu beweisen unternehmen ist ein Unsinn. Es verrät vielmehr das Stecken in dem tiefsten Unsinn, daß man jemals darnach Beweise verlangte. Dem Absoluten allein kommt die höchste Wirklichkeit zu. Alles was nicht im Absoluten aufgeht ist Schein, Täuschung, Irrtum, «des Sterblichen Meinung», wie Parmenides sagte. Das Streben nach dem Absoluten, diese Sehnsucht des Menschen ist Freiheit. Jedes andere Ziel bringt Irrtum, Täuschung, Schein hervor und verdankt nicht der Freiheit, sondern der Willkür den Ursprung. Solche willkürlichen Ziele sind: die Natur, das Ich, die Materie usw. Der Schein muß zerstört, der Schleier gehoben werden, und die Wahrheit, die Gottheit steht vor uns; die Welt steht im neuen Lichte vor uns. Wie töricht waren wir, da wir das nicht erkannten. Mit der Willkür streifen wir auch alle uns noch anhaftenden Züge der seichten Weltanschauung ab; wir erkennen, daß wir uns mißverstanden haben. Wir verstehen uns jetzt erst, wir verstehen Religion, Kunst und Philosophie in ihrem Zusammenhange. Wir streifen die gewöhnlichen landläufigen Anschauungen von Ewigkeit, Unendlichkeit ab und ein ganz neues Gebäude steht vor uns. Es geht uns der Sinn für eine Unendlichkeit auf, von der wir keine Ahnung hatten, ja nicht haben konnten. –

Dies sind alles keine Metaphern, sondern der höchste Ernst. – Das Fatale bei dem Niederschreiben der höchsten Wahrheiten ist nur das, daß man sich der gewöhnlichen Sprache bedienen muß und in dieser die Worte meist Zeichen für sinnliche Gegenstände sind, die Leute aber dann nur immer an das nächste denken, und von dem, was man sagen will, keine Ahnung bekommen. Manche kommen gar mit den Trivialitäten der Logik, ohne zu wissen, daß man mit diesem abgeschmackten und faden Formalismus alles mögliche beweisen kann. Und nun weiter. Nennen wir dieses Erkennen der höchsten Wahrheiten: das Zusammengehen des Menschen mit dem Absoluten, so finden wir, daß in diesem Zusammengehen seine höchste Freiheit erblüht. Er findet sich in einem Punkte des Universums und nun hat er seinen Standpunkt – jetzt kommt, was wir im Winter schon einmal besprachen –, von da aus überblickt er die Welt. Er beurteilt sie, beurteilt sich und ist zufrieden mit sicby der Welt und allem. In der höchsten Freiheit manifestiert sich das höchste Glück, die vollste Zufriedenheit. Der Mensch hat seine Bestimmung erkannt; er ist mit allem versöhnt.

Halten Sie das nicht für Schwärmerei und Irrtum, sondern für einen matten Abdruck von wirklichen Wahrheiten. Bezüglich der Seltsamkeit mache ich Sie aufmerksam, daß man gerade im 19. Jahrhundert nicht beim großen Haufen die Wahrheit finden kann. Sie wissen ja, um was gewöhnlich gedacht wird, und es ist weiser Weise eine Notwendigkeit, daß nur der die Wahrheit finden kann, der nicht um Brot, «Äpfel» denkt, sondern um der Wahrheit willen. Dies ist nicht Fatalismus, sondern eine ebenso schöne wie durchaus begreifliche Gerechtigkeit.

Für heute müssen Sie wohl entschuldigen, daß ich einen weiteren Bericht über den Dorfschullehrer nicht anschließen kann. Ich werde sehr bald diese angenehme Pflicht erfüllen. Ich hoffe baldigst nach Münchendorf, Trumau etc. zu kommen, wo ich manches erfahren werde.

Vorläufig nur einige von seinen Sinngedichtchen:

An einer duftgen Wiese
Da stand ein Hirtenknab'.
Er freute sich der Blumen,
Der schönen Gottesgab'.

Am andern End' ein Ochs stand,
Der fraß die Blumen ab;
Auch er hatt' seine Freude
An dieser Gottesgab'.
_ _ _ 

Der Früchte dreierlei vom Baume fallen:
Die einen angefressen von dem Wurme,
Die andern abgerissen von dem Sturme,
Die dritten endlich fallen reif von Allen.

Die Früchte treu der Menschen Schicksal zeigen:
Der Eine fällt zernagt vom Herzenswurme,
Geknickt der And're von des Unglücks Sturme,
Der Dritte reif von Lebensbaumes Zweigen!
_ _ _ 

Es schrieen so viele nach Freiheit!
Man wollte sie erretten.
Doch als sie Freiheit hatten,
Schlugen andere sie in Ketten.

Ich schreibe so morgen abends wieder, dann die Fortsetzung von dem.

Bezüglich Ihrer Angelegenheit glaube ich folgendes: Es ist mir unbegreiflich, auf welche Weise Sie zuerst Ihrem Vater so was beibringen konnten; überhaupt sind da manche Schwierigkeiten, ich überlege mir die Sache morgen noch reiflich und sollte [es] das Beste sein, Ihrem ersten Willen zu folgen, so tue ich es und berichte Sie sofort morgen abends.

Sind Sie überzeugt, daß ich den besten Willen zur Sache habe und von diesem durchdrungen handeln werde.

Vorläufig sind Sie der stets unveränderlichen Hinneigung versichert Ihres

Rudolf Steiner


10. AN RUDOLF RONSPERGER

Oberlaa, 26. August 1881

Mein lieber Freund!

Sie scheinen sich ganz gewaltig für jenes Problem vom «Sich Stellen zur Zeit und zur Geschichte» zu interessieren. Daß der Verfasser der «Chemischen Elemente» Sie angeregt hat, wundert mich eben gerade nicht, denn gerade diejenigen, die von derlei Sachen nichts verstehen, schwätzen darüber am meisten. Wenn dem Kletzinsky jemand etwas aus der Chemie sagen würde, was nicht fachmännisch aussieht, da gäbe es ein Schreien und Wettern über die Dilettanten, doch über literarhistorische und philosophische Gegenstände glaubt sich auch ein Chemiker wohlberechtigt zu urteilen. Ich bitte Sie, hören Sie Urteile von solchen Leuten gar nicht an; sie sind ja nicht der Rede wert. Nun zu unserem Probleme. Ich glaube schon im letzten Briefe gesagt zu haben, daß in einer Epigonenzeit von jenem Stehen auf der Höhe der Zeit nicht die Rede sein kann, bei dem wahren Dichter nämlich. Übrigens gilt das auch für den Philosophen. Um einmal von dem letzteren anzuheben, bemerke ich, daß z.B. Schiller, vielleicht einer der gedankenreichsten und tiefsten Philosophen aller Zeiten – denn was Hegel und Schelling betrifft, so sind sie zwar sehr scharfsinnig, aber nicht besonders reich –, von der fachmännischen Zeitphilosophie außer dem Systeme des Königsbergers nichts wußte. Das ist eben das Charakteristische des Genies, daß es nicht empfänglich ist für die Willkür der Schulkrampusse, sondern schnurstracks auf die unwillkürlichen und ewigen Probleme der Menschheit loseilt. Was kümmert Lessingen die Ästhetik seiner Zeit; er rang sich empor zu den höchsten Problemen und gab zu ihnen die höchsten Lösungen. Das Große bei Lessing bestand eben darinnen, daß er das Nichtige jener Schulprobleme und Schullösungen erkannte.

Ich habe vor einigen Tagen, ich weiß jetzt nicht wo, den sonderbaren Satz gelesen, der Dichter der Zukunft - schon der Ausdruck erregt Lachen – wird mit dem gesamten Schatze der modernen Bildung eine angeborene Naivität vereinigen müssen. Ich weiß fast nicht, an was ich bei «moderne Bildung» denken sollte. Wird damit die in den poetischen Erzeugnissen der Gegenwart niedergelegte verstanden, dann mag ich noch eher befriedigt sein; ist aber etwa gar an wissenschaftliche Bildung - und das scheint der Fall zu sein – gedacht, so möchte einem wohl die Geduld bei dem Lesen solchen Unsinnes vergehen. Was für eine Bildung? Ist das Tradieren der Dichter mit Zitaten pedantischester Art Wissenschaft, ist eine Literaturgeschichte, die nichts zustande bringt, als die Geister der Zeit nach aneinanderzureihen und aus ihren Werken schwache Auszüge zu geben, Wissenschaft; ist eine Geschichte, welche die Ereignisse nach Raum, Ort und wenn's hoch kommt nach Ursache und Wirkung gliedert, Wissenschaft? Von der Naturwissenschaft mag ich gar nicht reden, denn es wäre Ironie auch nur die Frage aufzuwerfen, ob eine mit ein bißchen Molekularmechanik durchschossene, unsystematische Physik Wissenschaft sei. – Was möchte Lessing zur Zimmermannschen Ästhetik, was Schiller oder Hegel zu «Kraft und Stoff» sagen, wenn sie hörten, daß deutsche Bücher mit solchem Inhalte existieren?

Die edlen Veteranen aus der besseren Zeit, Kuno Fischer, Carriere, Friedr. Theod. Vischer, Rosenkranz etc., stehen so kampflos gegenüber der ungeheuren Oberflächlichkeit, daß sie verschwinden. Kuno Fischer macht übrigens an Kant zu große Konzessionen und neigt so immer mehr und mehr zur Zeit hin. Das merkwürdigste Beispiel des wissenschaftlichen Niederganges gibt Prof. Kirchmanns «Lehre vom Wissen» und dessen Erläuterungen zu verschiedenen Philosophen. Soll man also, um auf der Höhe der Zeit zu stehen, alle diese Irrtümer sich aneignen? So halte ich es mit dem «Sich Stellen zur Zeit und Geschichte». –

Mit der zweiten Gattung des Genies scheinen Sie an Grillparzer zu denken. Ihn für ein besonderes Genie zu halten, scheint mir doch ein wenig zu stark.

Mein lieber Freund! Was mir an Ihren Gedichten nicht behagt, das ist ein Besingen des sinnenfällig Wirklichen. Es hängt das innig mit dem Materialismus zusammen. Ich kann Sie versichern, an der Hand des Materialismus wird sich nie ein Dichter heranbilden. Denken Sie nur, was es außer dem Sinnenfälligen noch alles zu besingen gibt, welchen Spielraum die angeborene Naivität des Gemüts läßt, was durch das Auge spricht; muß es denn dann das Auge als Auge sein, was der Dichter besingt? Sie sind formgewandt, wenn Sie es nur bald zu einem edleren, göttlicheren, idealeren Inhalte bringen möchten! Ferner erscheint mir das angewendete Bild doch zu gewagt, zu unnatürlich.

Wir haben überhaupt viel zu sprechen; ich werde am 31. August oder 1. Sept. nach Wien kommen; vielleicht könnten wir uns irgendwo vormittags treffen; schreiben Sie mir wo.

Ich komme gerade jetzt aus Münchendorf, ich habe von dort aus den Weg nach Trumau hin et retour zu Fuß zurückgelegt; ein Weg von einer Stunde hin und ebensoviel wieder zurück. Ich lerne dabei das niederösterreichische Volk kennen und zugleich liebgewinnen. Diese Leute kommen einem mit einer erstaunlichen Aufmerksamkeit entgegen und werden bald recht zutraulich. Ich bin eben daher ermüdet und kann heute nur mehr ein klein wenig über Ihre Bemerkungen bezüglich des mir vom Grunde aus verhaßten Materialismus anfügen. Wenn ich Ihre Worte zusammenfasse, so kommt folgendes heraus. Da es Menschen gibt, welche die Wahrheiten der höheren Philosophie durchaus nicht verstehen können und die eben nichts zu sehen vermögen, als so etwas, was sinnenfällige Wirklichkeit hat und auch Leute, die aus Unverstand, Eitelkeit und Bosheit nichts anderes beschreiben mögen, so schufen sich diese den Materialismus. Die wichtigste Wahrheit für diese «Winkelphilosophen» ist das, daß ein Kopf ohne Gehirn nicht denken kann. Wir können dieser Sorte von Leuten zwar versichern, daß wir das ohne ihre materialistische Wissenschaft wissen, daß es uns aber kleinlich dünken würde, so was zu sagen. Dies ist allerdings eine Erklärung des verfluchten Materialismus, aber keine Rechtfertigung. Sie entschuldigen schon meine Worte, doch ich schreibe in dieser Sache wirklich leidenschaftlich erregt. In der Philosophie soll [es] eben keine Winkelgelehrten geben, diese Profanen sollen sich mit anderen Dingen beschäftigen, die für derlei schwachen Verstand geschaffen sind, aber nicht mit der Philosophie. Hier, wo Schiller, Fichte, Schelling, Hegel gewirkt haben, ist es ein unzurechtfertigender Frevel, wenn sich solche Winkelphilosophen über dieselbe Sache machen. Begreiflich ist die Philosophie für jeden Menschen, wenn er Eifer und guten Willen hat; aber gerade die letzteren Tugenden gehen den sämtlichen Materialisten ab. Wackere und wirkliche Naturforscher sind nie Materialisten. Ein mir persönlich bekannter und von mir hochverehrter Geologe und Botaniker in Wiener Neustadt, Dr. med. Lorenz, ist ein ausgemachter Feind des Materialismus, und Prof. Hyrtl weist ihn entschieden zurück, weil er die höheren Gefühle des Menschen beleidigt. Das sind allgemein anerkannte Naturforscher und, daß ich fortfahre, Kepler machte seine großen Entdeckungen nur deshalb, weil er Idealist war, weil er glaubte, daß Vernunft in der Anordnung und Bewegung der Himmelskörper sei. Vor solchen Dingen verstummt wohl zuletzt alle materialistische Regung.

Und ich frage Sie, was hat Büchner als wirklicher Naturforscher geleistet, außer dem Geschwätze seiner Bücher?

Und Dühring, der ein Genosse Büchners ist, welche Früchte trägt seine materialistische Philosophie? Seit ich in dessen «Philosophie der Wirklichkeit» hineingeblickt habe, geht mir ein Licht auf, wie dieser «Nichtwisser» über Lessing so urteilen konnte. Dühring hat nicht das geringste Interesse für und keinen blauen Dunst von der Kunst. Das «Tragische» existiert für diesen Frevler gar nicht. Er fordert von der Kunst, daß sie «angenehmer Sinnenreiz» sei, daß sie künstlich angenehme Affekte erregen soll. Solch barbarischen Unsinn redet ein Materialist. Er will die Ästhetik auf die Physiologie der Sinnesorgane gründen. Solchen Blödsinn fördert der Materialismus zu Tage. Wenn man diese Dinge liest, so glaubt man sich zuweilen in Australien, nicht unter Deutschen. Deutsche können denken, die Materialisten können nicht [denken] und sind zu faul dazu. Um Hegel zu verstehen, muß man Lust zum Denken haben, wie er es selbst hatte; man muß aber auch dem freien fortschrittlichen Denken, dem kulturfreundlichen Lichte gewogen sein und nicht mit den Banden des hergebrachten traditionellen Dogmas gefesselt sein, wie es die Materialisten alle sind. Alle materialistischen Bücher sind würdig, daß man sie insgesamt auf einem Scheiterhaufen verbrennt. Die armseligen Verfasser lasse man leben, denn was können sie für ihre geringen Fähigkeiten. Prof. Schröer sagte einmal, als vom Pessimismus die Rede war, «Dummsein» sei keine Schlechtigkeit, also Erbarmung üben an diesen Geistesschwachen, doch ihre Bücher verpesten die Welt, stecken alle Kreise mit Seichtigkeit an, verhindern den geistigen Aufschwung, vernichten Poesie und Idealismus, überhaupt jeglichen Aufschwung des Geistes, denn wer könnte wider solches Geschwätz schreiben, wie es im Kapitel «Würde des Stoffs» geschehen ist; daher Fluch über diese teuflische Literatur, fort mit ihr ins Feuer. –

Das letztere mir Ihrem materialistischen Buche, falls Sie ein solches besitzen, zu tun bittet Sie recht sehr, indem er Ihnen herzlich freundschaftlichst die Hand drückt, Ihr

Rudolf Steiner

Bern.: Lesen Sie Herder: Ideen zur Geschichte der Menschheit, dessen Briefe zur Beförderung der Humanität statt Büchner; da wird Ihr dichterisches Gemüt Anregung bekommen.

NB. Sie werden wohl aus dem gestern an Sie gerichteten
Schreiben ersehen haben, daß ich Ihren letzten Brief erst
heute (26. VIII.) bekam.