Konstellationen des I. Weltkriegs | 1917

Rudolf Steiner. Vortrag, 8. Januar 1917 (Dornach 2010) GA 173b, S. 253-270

Nun, meine lieben Freunde, nachdem wir eben Betrachtungen angestellt haben, die in die Vorträge der letzten Wochen eingefügt worden sind, wird es möglich sein, heute einiges Zusammenfassende zu sagen, um Licht zu verbreiten über diese oder jene Zusammenhänge, die uns zum Verständnis der Gegenwart helfen können. Ich werde zuerst ganz trocken, ich möchte sagen in aller-, alleräußerlichster Weise versuchen, die historischen Ereignisse zu erzählen, die sich zugetragen haben, um dann auf der Grundlage der in den letzten Wochen gewonnenen Einsichten auf einige tieferliegende Ursachen hinzuweisen. Ich möchte ausdrücklich bemerken, dass ich gerade heute versuchen werde, in der Darstellung jedes Wort sorgfältig abzuwägen, damit gewissermaßen jedes Wort die Begrenzung gibt, innerhalb welcher die Anschauung, die vertreten wird, zutage treten soll. Wie gesagt, ich will nur historische Ereignisse und Gesichtspunkte, historische Impulse zusammenstellen – zunächst ganz kurz, in ganz äußerlicher Weise.

Aufgetreten sind die gegenwärtigen schmerzlichen Ereignisse – wie Sie ja alle wissen – im Zusammenhange mit der Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand im Juni 1914. An dieses Attentat schloss sich in ganz Europa eine Zeitungskampagne an, die in verschiedenen, ich möchte sagen aufspritzenden Wogen zeigte, bis zu welchem Grade gewisse Leidenschaften überall innerhalb Europas entfesselt waren. Das Ganze führte dann – wie sie ja auch wissen – zu dem bekannten Ultimatum der österreichisch-ungarischen Monarchie an Serbien, welches [äußerlich in vielen Punkten zwar angenommen], im wesentlichen aber von Serbien abgelehnt worden ist; und schließlich zu dem österreichisch-serbischen Konflikt, der nach den Intentionen der leitenden österreichischen Staatsmänner bestehen sollte in einem militärischen Einmarsch in Serbien – mit der ausdrücklichen Absicht, kein serbisches Gebiet zu erobern, sondern nur durch die militärische Pression die Annahme jenes Ultimatums zu erzwingen. Das Ultimatum bezog sich darauf, solche Vorsichtsmaßregeln zu treffen, dass nicht von Serbien aus eine Agitation gegen den Bestand der österreichisch-ungarischen Monarchie sich geltend machen könne auf dem Wege über die österreichischen Südslawen.

Österreich hat ja – wie ich Ihnen angedeutet habe, umfasst es eine ganze Reihe von Völkerschaften, dreizehn anerkannte Sprachen gibt es, aber viel mehr Völkerstämme –, Österreich hat in seinen südlicheren Partien eine slawische Bevölkerung, mehr im Westen die slowenische Bevölkerung, dann angrenzend nach [Süden], [Süd]osten die dalmatinische, kroatische, slowenische, serbische Bevölkerung, die serbokroatische Bevölkerung, dann die verschiedenen Bevölkerungsgruppen, welche sich in den von Österreich 1908 annektierten, ihm aber viel früher als Okkupationsgebiet zugewiesenen Landesteilen Bosnien und Herzegovina befinden. An diese österreichischen Südslawen grenzt Serbien. Und man glaubte in Österreich, nachweisen zu können – und die Nachweise sind ja überall, wenn man sie suchen will, zu finden, für jeden sind sie zu finden –, dass von diesem Serbien eine Agitation ausgeht, die darauf hinausläuft, ein südslawisches Reich unter serbischer Oberherrschaft zu begründen mit Losreißung der südslawischen Bevölkerung Österreichs.

Mit diesen Dingen musste das Attentat auf Franz Ferdinand unbedingt in Zusammenhang gebracht werden, und zwar aus folgendem Grunde: Die österreichisch-ungarische Monarchie ist seit dem Jahre 1867 ein dualistischer Staat, der nach einem ja wenig prägnanten Ausdruck als erstes Gebiet »die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder« umfasst und als zweites Gebiet die »Länder der Heiligen Stephanskrone«. Zu den im Reichsrat vertretenen Ländern gehören Oberösterreich, Niederösterreich, Salzburg, Steiermark, Kärnten, Krain, Istrien, Dalmatien, Mähren, Böhmen, Schlesien, Galizien-Lodomerien und die Bukowina. Zu den Ländern der Heiligen Stephanskrone gehört vor allen Dingen das magyarische Gebiet, dann einverleibt das frühere Siebenbürgen, das wiederum von den verschiedensten Völkerschaften bewohnt wird, sodann Kroatien und Slawonien, die eine Art eingeschränkter Selbstverwaltung innerhalb des ungarischen Staates haben. Also eine dualistische Monarchie. Nun ging der Thronfolger Franz Ferdinand, wie man wissen konnte, darauf aus, die Mängel des Dualismus in Österreich-Ungarn zu überwinden und an die Stelle des Dualismus einen Trialismus zu setzen. Der Trialismus sollte dadurch zustandekommen, dass die südslawischen Gebiete, insofern sie zu Österreich gehören, in einer ähnlichen Weise selbständig gemacht werden sollten, wie die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder und die Länder der Heiligen Stephanskrone bereits selbständig in sich geschlossen waren. Somit wäre also statt eines Dualismus ein Trialismus da gewesen. Wer das bedachte, was der Thronfolger Franz Ferdinand wollte, der konnte sich die Vorstellung machen, dass eine Verwirklichung [dieser Absicht] zu ähnlichen Verhältnissen geführt hätte wie im übrigen Österreich, wo bis zu einem hohen Grade die einzelnen Völkerschaften schon jetzt selbständig sind, denn Österreich besitzt eine durchaus föderalistische Staatsgestaltung – nicht eine zentralistische!

Es hatte vor dem Kriege nämlich durchaus die Tendenz, den einzelnen Völkerschaften den Föderalismus immer mehr und mehr zu vermitteln und nicht auf einen Zentralismus hinzuarbeiten, auf den man zwar in den Jahren zwischen 1867 und 1879 losgesteuert war, der aber schließlich scheiterte. Von 1879 an konnte der Zentralismus als gescheitert betrachtet werden. Und von da an steuerte der österreichische Staat dem Föderalismus zu, das heißt der Individualisierung der einzelnen Völkerstämme. In diesem Sinne sollte – nach den Ideen von Franz Ferdinand – eine Art südslawische Gemeinschaft der österreichisch-slawischen Gebiete aufgerichtet werden. Und dadurch wäre man dem Ziele, die westlichen Slawen gewissermaßen zu amalgamieren mit der westlichen Kultur und dadurch dem, was ich in diesen Betrachtungen Russizismus genannt habe, entgegenzuarbeiten, einen Schritt näher gekommen. Diesem Ziel stand gegenüber, dass von Serbien, nicht vom serbischen Volke – ich habe ja charakterisiert, wie die Völker in einer gewissen Weise eben einfach geführt werden, indem [ihnen bestimmte Vorstellungen] suggeriert werden –, das Bestreben ausging, eine südslawische Konföderation zu begründen unter der Hegemonie von Serbien. Dazu müssten natürlich die südslawischen Gebiete Österreich-Ungarns losgerissen werden, das heißt, [um die Bevölkerung aufzubringen], müsste mit einer Kundgebung für den Zentralismus [und gegen den Föderalismus] in Österreich-Ungarn begonnen werden.

Damit habe ich Ihnen, meine lieben Freunde, kurz umgrenzt, was dem österreichisch-serbischen Konflikt zugrunde liegt. Denn innerhalb dessen, was ich jetzt versuchte zum Ausdruck zu bringen, haben wir es zu tun mit dem österreichisch-serbischen Konflikt. Dieser österreichisch-serbische Konflikt – es wäre denkbar gewesen, dass er - ich habe den Ausdruck schon einmal gebraucht – »lokalisiert« worden wäre. Dann wäre – hypothetisch sei es gesagt – der europäische Krieg, der Weltkrieg vermieden worden. Was wäre geschehen, wenn die Intentionen, die streng umgrenzten Intentionen der österreichisch-ungarischen Staatsmänner sich verwirklicht hätten? Es wäre das geschehen: Ein Teil der österreichisch-ungarischen Armee wäre in Serbien einmarschiert und so lange dort geblieben, bis Serbien sich bereit erklärt hätte, jenes Ultimatum anzunehmen, wodurch es unmöglich gemacht worden wäre, dass sich unter der Hegemonie Serbiens eine südslawische Konföderation – selbstverständlich unter russischer Oberherrschaft – hätte bilden können.  Hätte sich keine der europäischen Mächte in diese Angelegenheit hineingemischt, hätten alle gewissermaßen Gewehr bei Fuß gestanden, so wäre nichts anderes erfolgt als die Annahme jenes Ultimatums, denn das war garantiert, dass unter keinen Umständen eine irgendwie geartete Annexion von serbischem Gebiete stattfinden sollte; es sollte nur die Annahme des Ultimatums erzwungen werden. Die Folge wäre dann gewesen, dass solche Dinge, wie sie mehrfach vorgekommen sind – das Attentat auf Franz Ferdinand war ja nur der Abschluss einer ganzen Reihe von Attentaten, die von serbischen Agitatoren angestiftet waren –, dass solche von serbischen Agitatoren angestiftete Attentate nicht mehr stattgefunden hätten, und ohne solche Agitationen geht oder ging ja selbstverständlich die Errichtung der südslawischen Konföderation unter Rußlands Oberaufsicht nicht. Wären die Dinge so verlaufen – noch einmal sei es hypothetisch gesagt –, so hätte es niemals zu diesem Kriege kommen können.

Wie hängt nun, meine lieben Freunde, dieser österreichisch-serbische Konflikt mit dem Weltkriege zusammen? Wie hängen diese beiden Dinge zusammen? Da muss man schon, wenn man diesen Zusammenhang erkennen will, durch die Erkenntnis der äußeren Verhältnisse in die, ich möchte sagen tieferen Geheimnisse der europäischen Politik hineingehen. Wir wollen nicht Politik treiben, sondern uns die Erkenntnis vor die Seele führen, was in dieser Politik gelebt hat. Also, ich möchte Ihnen die Frage beantworten: Wie wurde aus dem österreichisch-serbischen Konflikt ein europäischer Konflikt? Wie hängt die österreichisch-serbische Frage an der europäischen Frage?

Da müssen wir in unsere Umschau hereinnehmen das, was ich eben gesagt habe über die südslawische Konföderation – darauf müssen wir unsere Aufmerksamkeit hinlenken. Diese südslawische Konföderation, unabhängig von Österreich, aber im Zusammenhange mit russischer Oberaufsicht – sie lag vor allen Dingen im Interesse des britischen Imperiums, und sie lag um so mehr im Interesse des britischen Imperiums, je mehr dieses Imperium bewusst Gestalt annahm. Gerade die Aufrichtung – wie man es damals nannte – der Donau-Konföderation, womit man diese südslawische Konföderation meinte, welche [nicht nur] die südslawischen Völker zusammen mit Rumänien umfassen sollte, sondern [letztlich] auch die österreichischen Südslawen, diese südslawische Konföderation führte man ausdrücklich an in jenen Gemeinschaften, von denen ich gesprochen habe, so dass wir in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts überall in den okkulten Schulen des Westens, aber unter dem unmittelbaren Einfluss der britischen Okkultisten, den Hinweis darauf finden, dass eine solche Donau-Konföderation entstehen müsse. Man suchte mit allen Mitteln die ganze europäische Politik so zu lenken, dass eine solche Donau-Konföderation mit Abtretung der österreichisch-slawischen Gebiete entstehen sollte.

Warum lag diese österreichfeindliche, rußlandfreundliche Donau-Konföderation im Interesse des britischen Imperiums? Diejenigen Mächte, welche in der letzten Zeit aufgrund des über die Welt hereingebrochenen Imperialismus am intensivsten zusammenstießen, weil sie innerhalb des in Betracht kommenden Territoriums die größten Mächte sind, jene Imperien, die in Wirklichkeit in der stärksten Feindschaft miteinander leben – solche inneren Feindschaften können sich ja äußerlich als Freundschaften dokumentieren, als Allianzen, wie man besser sagt –, sind das britische Imperium und das russische Imperium. Und wenn man sich so spinnefeind ist, aber doch in der Welt nebeneinander ist, so folgt, weil unsere Erde eine ganz bestimmte Eigentümlichkeit hat, aus solchem feindlichen Nebeneinandersein etwas ganz Bestimmtes. Die Eigentümlichkeit unserer Erde, die ich meine, meine lieben Freunde, ist ihre Kugelgestalt. Wäre unsere Erde eine überallhin ausdehnbare Ebene, so könnten solche Konflikte nicht zustande kommen. Aber da unsere Erde Kugelgestalt hat, so ist nicht nur das der Fall, dass man, wenn man von einem Punkt der Erde ausgeht und in gerader Richtung immer fortgeht, bis zu diesem Punkt wieder zurückkommt, sondern es ist auch der Falli, dass sich ausbreitende Imperien an einem gewissen Punkt stoßen, dass sie zusammenkommen und beim Aufeinanderprallen ihre entgegengesetzten Interessen ausleben müssen. Das geschah zwischen dem britischen und dem russischen Imperium, und das trat neben vielem anderem in der präzisesten Weise bei dem Zusammenprallen in Persien zutage, wo man eben hart aneinanderstieß. Und die Frage war: Soll Rußland sich gegen Indien hinunterbewegen und dort das britische Imperium [in seinem Wachstum] allmählich begrenzen? oder aber: Kann das britische Imperium [dem russischen Vordringen] einen Riegel vorschieben?

Wenn man Ziele verfolgt, Herrschaftsziele, so kann man diese durch Krieg oder auf andere Weise verfolgen, je nachdem einem das eine oder das andere günstiger erscheint. Nun, für das britische Imperium schien es zunächst günstiger, Rußland vorläufig – bei Staaten rechnet man ja immer mit Zeiträumen – abzuhalten, sich gegen Indien hin vorzuschieben, indem man ihm einen andern Auslaufkanal gab. Es schien günstiger, es nach einer andern Richtung hin zu beschäftigen, um den selbstverständlichen Ehrgeiz des russischen Imperiums – Imperien sind immer ehrgeizig – zu sättigen. Und das sollte dadurch geschehen, dass man Rußland die Oberherrschaft über die sogenannte Donau-Konföderation zugestand, das heißt, es bestand ein indirektes Interesse für das britische Imperium, die Donau-Konföderation so groß wie möglich zu gestalten, was den Slawen im Süden entgegenkam, denn sie wollten zusammengehören. Und dieses Zusammengehörigkeitsgefühl der Südslawen wurde geschürt auf die Weise, wie ich Ihnen ja erzählt habe. Es sollte also diese südslawische Konföderation Rußland in die Hände gespielt werden, damit es in andern Bereichen seine Fühlhörner zurückzieht. Dadurch lag die unter russischer Oberaufsicht herzustellende südslawische Konföderation im britischen Interesse. Das Ganze hat eine lange Geschichte, die von langer Hand vorbereitet worden ist.

So sehen wir einen der Fäden, durch welche die österreichisch-serbische Frage angeknüpft wird an die Frage der großen Herrschaftsgestaltung, der Weltherrschaftsgestaltung, denn dadurch wurde unmittelbar das ganze Verhältnis des britischen Imperiums zum russischen in die Sache hineingezogen. Es handelte sich da nicht um eine auf Österreich und Serbien beschränkte Frage, sondern die österreichisch-serbische Frage wurde nun selbstverständlich zu der Frage: Soll von Österreich ein Schritt weiter gemacht werden, ein Schritt zum Trialismus hin, wodurch das Ziel einer südslawischen Konföderation von ihrem Wege abgebracht worden wäre, oder soll ein Schritt gemacht werden in Richtung einer russifizierten südslawischen Konföderation? – Damit haben Sie die österreichisch-serbische Frage gewissermaßen angekoppelt an die europäische Frage. Nun, wenn so etwas vorhanden ist – und das, was ich jetzt auseinandersetze, sind durchaus reale, in den Menschen lebende Impulse gewesen–, wenn so etwas vorhanden ist, dann ist es wie eine elektrische Ladung, die sich einmal entladen will. Also auf einen der Fäden haben wir dadurch hingewiesen.

Nun ist ja allerdings noch die Frage, stark die Frage, ob der österreichisch-serbische Konflikt zu dem Weltkrieg geführt hätte, wenn nichts anderes vorhanden gewesen wäre als das, was ich bis jetzt besprochen habe. Es ist sogar im höchsten Grade unwahrscheinlich, dass dieser österreichisch-serbische Konflikt zu dem Weltkrieg geführt hätte, wenn nichts anderes als dieses vorhanden gewesen wäre, aber es waren genügend andere Impulse da, welche verstärkend wirkten auf diesen Konflikt. Vor allen Dingen war innerhalb der europäischen Verhältnisse seit den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts das französisch-russische Bündnis vorhanden – die französisch-russische Allianz, eine Allianz, die, wenn man die Verhältnisse objektiv betrachtet, so unnatürlich wie nur möglich ist. Dass diese Allianz von seiten Frankreichs selbstverständlich unter dem Gesichtspunkt abgeschlossen worden war, Elsaß-Lothringen wieder zurückzugewinnen, das wird ja kaum irgend jemand bezweifeln können, denn man kann sich ja gar nicht denken, dass es irgendeinen anderen Grund zu dieser Allianz hätte geben können – alle andern Gründe hätten nur gegen eine solche Allianz gesprochen. Aber schließlich kommt es auf solche Gründe bei den treibenden Impulsen auch nicht so sehr an, sondern es kommt darauf an, dass eine solche Allianz vorhanden ist, denn als solche ist sie eine reale Macht: Sie ist da! Und viel wichtiger als das Ziel dieser Allianz ist schließlich, dass man es mit einem westlichen und einem östlichen Staate zu tun hat, die in ihrer militärischen Macht zusammen etwas Ungeheures darstellen, weil sie Deutschland mitten drinnen zwischen sich haben. Selbstverständlich musste sich dieses in bezug auf seine militärische Macht gegenüber der überwältigenden vereinigten militärischen Macht von Frankreich und Rußland fortwährend gefährdet fühlen. Dieses Eingeschlossensein von Deutschland zwischen Westen und Osten, das ist es, was durch die französisch-russische Allianz zu einer treibenden europäischen Kraft geworden ist.

Nun, wenn man noch nach anderen Impulsen suchen will, die in Betracht kommen, so muss man auch auf folgendes sehen: Der Imperialismus der letzten Jahrzehnte hat zu einer allgemeinen territorialen Expansion geführt, hat zu einer gewissen Expansionslust geführt. Man muss zum Beispiel nur sehen, in welch ungeheurem Maße das britische Imperium gewachsen ist. An territorialer Ausdehnung ist auch das Frankreich der letzten Jahrzehnte ungleich bedeutsamer gewachsen als Frankreich zu irgend einer früheren Zeit, als es – wie es sich ausdrückte – »an der Spitze der Zivilisation von Europa« marschierte.

Nun hängen die Ereignisse der letzten Jahrzehnte kettenartig zusammen; die Dinge verliefen in der Tat immer so, dass das Folgende ohne das Vorhergehende nicht hat eintreten können. Der nächste Ausgangspunkt – selbstverständlich könnte man auch noch weiter zurückgehen –liegt in der Ergreifung der Oberherrschaft über Ägypten durch das Britische Reich. Solche Dinge rechtfertigt man in dem heutigen Denken dadurch, dass man sagt, man müsse seinen Besitz in einer gewissen Weise abrunden und sichern. Dieses Ausdehnen der englischen Herrschaft über Ägypten rechtfertigte man damit, dass man sagte, man müsse nach Indien hin eine Vermittlung haben. Man hoffte, auch Arabien dazu zu haben, so dass also eine unmittelbare Verbindung mit Indien vorhanden gewesen wäre. Dass das Britische Reich sich Ägypten angeeignet hatte, das war, meine lieben Freunde, gewissermaßen schon eine Art Wall gegen eine unangenehme Ausdehnung des russischen Imperiums nach Westen, denn allzuviel konnte die Ausdehnung des russischen Imperiums nach Westen dem britischen Imperium nicht anhaben, solange diese Verbindung durch Ägypten, über Ägypten hinüber nach Indien vorhanden war.

Nun, ich möchte sagen mit einer gewissen Notwendigkeit – weil ja die Erde eben eine Kugel ist und man nicht endlos Land finden kann, so dass man schließlich zusammenstoßen muss –, erzeugt die Ausdehnung des einen Imperiums die Lust des andern, [sich gleichfalls auszudehnen]. Und so war die Ausdehnung der französischen Herrschaft über Marokko in zwei Etappen, in den Jahren 1905 und 1911, nur die Folge der Ausdehnung der britischen Herrschaft über Ägypten. Dadurch, dass man gegenseitig diese Herrschaft anerkannte – Frankreich billigte die britische Herrschaft in Ägypten, das Britische Reich anerkannte die französische Herrschaft über Marokko –, waren bereits die Fäden gezogen zu einer politischen Allianz zwischen dem Französischen und dem Britischen Reich. Aber weil das Deutsche Reich eingeschlossen war in der Mitte, suchte man, wie Ihnen ja auch bekannt ist, den Dreibund aufzurichten: Deutschland-Österreich-Italien. Bei dieser Verteilung von Marokko und Ägypten und bei dem, was daraus folgte, gelang es, namentlich mit Hilfe eines alten italienischen Politikers, der in diese Dinge gut eingeweiht war, auf der sogenannten Konferenz von Algeciras schon dazumal, Italien in den Bereich der Herrschaftsverhältnisse des Westbundes Frankreich-England zu ziehen, so dass vernünftige Leute in Mitteleuropa nach der Algeciras-Konferenz nicht mehr daran geglaubt haben, dass Italien weiterhin zum Dreibund halten könnte. Denn für Italien musste sich etwas als Entgelt ergeben; nach der ganzen Art, wie es sich [damals auf der Konferenz von Algeciras] verhalten hat, musste etwas folgen aus der französischen Besitzergreifung von Marokko. Und was folgte, war die Erlaubnis an Italien, sich in Tripolis festzusetzen. Damit aber hatte Italien gewissermaßen die Erlaubnis des Westens erhalten, gegen die Türkei Krieg zu führen. So ergab sich aus Ägypten Marokko, aus Marokko folgte Tripolis, und da durch Tripolis die Türken neuerdings geschwächt wurden, folgte aus Tripolis der Balkankrieg. Diese Ereignisse gehören kettenartig zusammen, eines ist ohne das andere nicht denkbar: Ägypten – Marokko – Tripolis – Balkankrieg.

Da die Türkei geschwächt war durch den italienisch-türkischen Krieg, den Tripoliskrieg, glaubten sich die südslawischen Völker, die die Griechen mit sich zogen, stark genug, nun die Balkanhalbinsel für sich zu gewinnen. Dadurch aber verkoppelte sich die Tendenz zur Bildung einer südslawischen Konföderation, die ich Ihnen charakterisiert habe, mit den nationalen Aspirationen der Balkanländer. Und jetzt schließen Sie diese beiden Ketten zusammen, und Sie werden finden: Der Balkankrieg ist so verlaufen, dass Serbien dadurch ganz besonders viel gewonnen hat. Serbien ist sehr mächtig geworden – ungleich mächtiger, als es vorher war. Dadurch wurde jenes Ideal, eine südslawische Konföderation unter der Hegemonie Serbiens und unter der Oberherrschaft Rußlands zu gründen, neu belebt. Daraus entstanden jene Agitationen, die in dem Attentat auf Franz Ferdinand gipfelten. Und daraus entstand der österreichisch-serbische Krieg. Jetzt haben wir die beiden Glieder ganz zusammengeschlossen. So war die österreichisch-serbische Frage an die europäische Frage durch den ganzen historischen Hergang angeschlossen.

Diejenigen Menschen nun, welche die Dinge verfolgt haben, so wie sie sich entwickelt haben, sahen natürlich angesichts dieser Verhältnisse den kommenden Krieg schon viele, viele Jahre voraus wie ein Damoklesschwert über der europäischen Kultur hängen. Man war sich klar darüber – man konnte es überall hören, wo die Dinge besprochen wurden, unzählige Male konnte es gehört werden –, dass aus den Prätentionen Rußlands ein Konflikt zwischen Mittel- und Osteuropa hervorgehen müsse. Dieser Konflikt – er musste sich ergeben, er war eine Notwendigkeit. Niemand, der Geschichte in ihrer Wirklichkeit studiert, wird sagen, dass diesem Konflikt zwischen Mittel- und Osteuropa nicht eine – man könnte sagen – »geistige Naturnotwendigkeit« zugrunde lag. Geradeso wie sich in alten Zeiten ein Konflikt ergab zwischen den römischen und den germanischen Völkern, so musste sich in der neueren Zeit der Konflikt zwischen Mittel- und Osteuropa ergeben. In welcher Form er zutage treten würde, das konnte in der mannigfaltigsten Weise variieren, aber dieser Konflikt musste sich ergeben. Die andern Dinge waren, soweit sie sich nach dem Osten hinüber erstreckten, in diesen Konflikt eingeschlossen.

Also, man hat es zu tun mit den Prätentionen des Russizismus.

Und nun sagte man sich: Irgendwo wird sich etwas ergeben, das dazu führen wird, dass Rußland seine Prätention, seine Oberherrschaft über den Balkanbund auszudehnen, geltend machen wird. – Das konnte man erwarten. Nach den geographischen Verhältnissen musste das einen Zusammenprall zwischen Rußland und Österreich geben. In dem Augenblick des Zusammenpralls zwischen Rußland und Österreich musste sich alles andere – so sagte sich seit langen Jahren jeder, der über diese Dinge nachdachte – automatisch ergeben. So fragte man sich, wie nach den bestehenden Bündnisverhältnissen [sich die Lage gestalten] würde für den Fall, dass Rußland Österreich angreift. Dass Österreich von sich aus Rußland angreifen würde, daran dachte natürlich niemand, und man konnte es sich auch nicht denken – Österreich konnte gar nicht in die entsprechende Lage kommen, um Rußland anzugreifen. Also musste man denken, dass die Dinge irgendwie so kommen, dass Österreich angegriffen wird von Rußland. Nun schön. Vermöge des Bündnisses zwischen Österreich und Deutschland müßte – [so sagte man sich] – Deutschland zu Österreich stehen und seinerseits Rußland angreifen. Dadurch, dass Rußland angegriffen würde von Deutschland – ich erzähle jetzt nur, was man voraussetzte –, dass Rußland also angegriffen würde, müßte das russisch-französische Bündnis in Aktion treten: Frankreich müßte an der Seite Rußlands Deutschland angreifen. Durch die Beziehungen zwischen Frankreich und England – ob sie nun vertragsmäßig aufgeschrieben sind oder nicht – müsste England an der Seite Rußlands und Frankreichs [Deutschland] angreifen. Diese Dinge sah man voraus: Die Bündnisverhältnisse – die Allianzen – würden sozusagen automatisch wirken.

Nun, ganz so, wie man es jeden Tag hören konnte von den Leuten, die sich Sorgen machten um die europäische Zukunft, verliefen die Dinge allerdings nicht. Aber wie verliefen sie – ja, wie verliefen sie denn eigentlich? Im wesentlichen verliefen sie doch so: Nun, die Geschichte des Ultimatums – die Ablehnung des Ultimatums, das konsequente Bestehen auf der Annahme des Ultimatums von seiten Österreichs in jedem Fall –, das habe ich ja geschildert. Was nun eintrat, das war nicht etwa, dass die europäischen Mächte unbeteiligt geblieben wären, sondern es trat sogleich hervor, dass Rußland seine Prätention erhob, als Protektor Serbiens aufzutreten. Damit aber war an eine Lokalisierung der österreichisch-serbischen Frage nicht mehr zu denken. Von seiten des Britischen Reiches kamen allerlei Vorschläge, unfruchtbare Vorschläge – Vorschläge, die man dann macht, wenn man entweder gedankenlos in Ereignisse eingreifen will oder wenn man sich von vornherein den Ruf in der Welt vorbereiten will, man habe auf friedlichem Wege die Sache beilegen wollen, trotzdem man es gerade nicht will, aber es später doch so sagen können will.

Es kam der ganz unfruchtbare Vorschlag, eine Konferenz zusammenzurufen – ausgerechnet aus England, Deutschland, Frankreich und Italien –, um über die schwebenden Fragen zu entscheiden. Nun denken Sie sich, was dabei herausgekommen wäre! Man hätte durch eine Majorität entscheiden sollen, ob die österreichischen Forderungen an Serbien berechtigt sind oder nicht. Stellen Sie sich die Abstimmung vor, die nun herausgekommen wäre, aber aus den realen Verhältnissen bitte! Italien war innerlich abgefallen, Frankreich war an der Seite Rußlands, Rußland hätte sich selbstverständlich nur befriedigt gezeigt, wenn Österreich das Recht abgesprochen worden wäre, die Erfüllung seines Ultimatums zu fordern, England war für die Donau-Konföderation. Unter Ausschluss von Österreich hätte sich eine klare Majorität Italien-Frankreich-England ergeben; Deutschland wäre selbstverständlich unter allen Umständen überstimmt worden.

Also, diese Konferenz hätte zu nichts anderem führen können, als dass unter keinen Umständen erfüllt worden wäre, was Österreich von seinem Standpunkte aus notwendigerweise fordern musste. Das heißt, man hätte diese Konferenz abhalten können, aber sie wäre eine Komödie geblieben, denn entweder hätte Österreich seine Forderungen aufgeben müssen oder aber es hätte auch nach der Konferenz, wie auch immer sie ausgefallen wäre, auf der Annahme seines Ultimatums beharren müssen. Also dieser Konferenzvorschlag – der war ein bloßer Bluff, wie man so sagt. Wenn Sie dagegen die Dokumente genau verfolgen, sehen Sie, dass von Anfang an von seiten Rußlands die Prätention bestand, sich in die serbisch-österreichische Frage einzumischen, und ob es nun auf dem vorhin geschilderten automatischen Wege zu dem Weltkriege kam oder dadurch, dass man eine Situation erzeugte, die notwendigerweise zum Kriege führen musste, das ist ja schließlich einerlei.

Und diese Situation wurde ja mit Absicht erzeugt, denn unter den verschiedenen Impulsen müssen Sie auch eine ganz bestimmte Stimmung ins Auge fassen, und vielleicht kein Weltereignis, kein historisches Ereignis, war so abhängig von einer ganz bestimmten Stimmung wie gerade dieses Ereignis. Also, eine ganz bestimmte Stimmung müssen Sie ins Auge fassen. Die [seelische] Verfassung der Menschen, welche beteiligt waren an dem Ausbruche des Krieges Ende Juli 1914, diese Verfassung gehört durchaus zu den höchst wichtigen Ursachen. Es mag auch bei früheren Kriegsausbrüchen Aufregungen gegeben haben, gewiss, aber sie brachen nicht so orkanartig, so stürmisch herein wie die Tatsachen, die sich zwischen dem 24. Juli und dem 1. August 1914 abspielten. In wenigen Tagen schob sich für die beteiligten Personen eine ungeheure Aufregung zusammen, in der alles konzentriert war, was seit Jahren sich angesammelt hatte an Besorgnis vor diesem kommenden Ereignis. Und diese Stimmung muss durchaus ins Auge gefasst werden. Wer diese Stimmung nicht ins Auge fassen will, der wird immer nur in Phrasen reden.

Nun, wenn man die Stimmung etwas charakterisieren will, so könnte man ja die allerverschiedensten Gesichtspunkte angeben. Ich will aber nur auf einen aufmerksam machen. Nicht wahr, vorangegangen war ja ein mit dem Kriegsausbruche zwar nur indirekt, aber doch sehr stark zusammenhängendes Ereignis – ein Ereignis, das ganz im Rahmen der andern europäischen Ereignisse angesehen werden soll und muss, wenn man es richtig werten will. Das ist die nach dem Balkankrieg beschlossene deutsche Wehrvorlage, wo durch einen einmaligen großen Wehrbeitrag gesorgt wurde für eine Vergrößerung der deutschen Armee. Nun, diese Vergrößerung der deutschen Armee, die übrigens noch nicht durchgeführt war bei Kriegsausbruch – nicht im entferntesten durchgeführt war –, diese Vergrößerung der deutschen Armee kann jeder studieren im Zusammenhange mit den Ergebnissen des Balkankrieges, denn diese Ergebnisse zeigten eben, dass in die Überlegungen gewissermaßen hereingeschoben wurde der Zusammenprall zwischen Rußland und Österreich in einer noch unbestimmten Zukunft.

Nur durch Verhältnisse, die ich hier nicht schildern will, ist 1913 verhindert worden, dass Rußland schon dazumal Österreich angriff, um sich die Oberherrschaft und Oberaufsicht über die Balkan-Konföderation zu sichern. Der Beschluss zur Vergrößerung der deutschen Armee war unter keinem andern Gesichtspunkte erfolgt – wie gesagt, ich will heute meine Sätze sehr genau stellen –, als unter dem einer drohenden Auseinandersetzung mit dem Osten. Dennoch erfolgte darauf prompt die französische Reaktion: Vergrößert Deutschland seine Armee, müssen auch wir etwas tun, um die Armee zu verstärken. – Das heißt aber nichts anderes, als dass dasjenige, was für Mitteleuropa Schicksal war, unabänderlich notwendig war, nämlich nach Osten hin vorzusorgen, dass das immer Verstärkungen im Westen erzeugte, was natürlich wiederum zurückwirkte. Und so entwickelten sich eben dann die Dinge. Gerade alles das, was mit dieser Wehrvorlage nach dem Balkankriege zusammenhing, erzeugte furchtbare Besorgnis in Mitteleuropa, denn man sah die ganze europäische Peripherie gegen Mitteleuropa gerichtet. Der Unterschied war nur der, dass zwar einige glaubten, Italien würde mit Mitteleuropa in irgendeiner Weise mitgehen trotz allem, was ich angedeutet habe, dass aber die andern das schon nicht mehr voraussetzten.

Nun konnte man sich immer noch denken, dass – hypothetisch der Weltkrieg nicht ausgebrochen wäre. Das hätte aber nur unter der einen Voraussetzung geschehen können, dass Rußland nicht sogleich mit drohenden Kriegsmaßregeln geantwortet hätte, das heißt mit der Mobilisierung, die unter den obwaltenden Verhältnissen eine drohende Kriegsmaßregel darstellte. Nun war für Mitteleuropa gar nicht daran zu denken, dass Frankreich nicht mit Rußland gehen könnte, sondern man musste damit rechnen, dass ein Angriff von zwei Fronten her erfolgen werde. Diesem Angriff gegenüber konnte bei den dafür Verantwortlichen natürlich nur der Gedanke aufkommen, ihn in irgendeiner Weise zu paralysieren – ihn in irgendeiner Weise zu paralysieren! Niemand, der in diesen Dingen verantwortlich drinnen gestanden hat, konnte etwa denken: Wir können vierzehn Tage lang konferieren. – Abgesehen davon, dass, wie ich Ihnen bereits gezeigt habe, bei dieser Konferenz gar nichts hätte herauskommen können, konnte niemand in Mitteleuropa denken, dass man vierzehn Tage lang konferieren könnte, denn vierzehn Tage konferieren hätte die sichere Niederlage bedeutet. Aber von vornherein mit einer sicheren Niederlage rechnen – das kann man nicht. Die einzige Möglichkeit war diese: durch Schnelligkeit die ungeheure militärische Übermacht des Westens und des Ostens auszugleichen.

Diese Schnelligkeit war aber auf keinem andern Wege zu erreichen, als – wie ich Ihnen schon angedeutet habe – durch einen Völkerrechtsbruch, nämlich durch den Durchmarsch durch Belgien. Auf einem andern Wege hätte man unmöglich etwas anderes erreichen können, als den größten Teil der deutschen Armee im Westen in einem langen Defensivkriege aufzubrauchen und zugleich die Invasion vom Osten her zu haben. Da trat eben einer jener historischen Momente ein, wo – man mag das nun mehr oder weniger geschickt oder mehr oder weniger ungeschickt ausdrücken – ein Staat gezwungen ist, einen Rechtsbruch in Szene zu setzen zu seiner Selbsterhaltung. Wer für einen solchen Staat verantwortlich ist, kann ja dann nicht anders handeln. Aber – und ich wäge heute meine Worte so ab, dass sie, wie gesagt, scharf begrenzt sind – es war in Mitteleuropa für manche Leute, auf die es ankam, im höchsten Maße ungeheuerlich, es nach zwei Fronten aufzunehmen.

Und so machte man den Versuch, vielleicht bloß mit einer Front auszukommen. Sorgfältige oder mindestens sorgfältig gemeinte Versuche wurden gemacht, Frankreich neutral zu halten, und der Glaube war vorhanden, dass es gelingen könnte, Frankreich neutral zu halten. Frankreich irgend etwas anzutun: daran dachte ja kein Mensch in Mitteleuropa. Das kann man, meine lieben Freunde, mit einem Gefühl von großer Verantwortlichkeit sagen: Frankreich irgend etwas antun, wollte in Mitteleuropa wirklich niemand, in Deutschland niemand. Was dann geschehen ist, ist ja nur geschehen unter dem Gesichtspunkte, so schnell wie möglich im Westen fertig zu werden, um die drohende Invasion im Osten verhüten zu können. Und man muss sich daher fortwährend wundern, meine lieben Freunde, dass so viel in der Welt geredet wird von all dem Terrorismus, der von seiten Deutschlands nach dem Westen hin entwickelt worden ist. Der ganze Terrorismus wäre ja unterblieben, wenn Frankreich seine Neutralität erklärt hätte. Frankreich hatte es ja in der Hand, Belgien und sich vor jedem Angriff, vor jeder Attacke zu schützen. Dass Frankreich gezwungen war, seinen Vertrag gegenüber Rußland zu halten, das ist Frankreichs Sache, das darf man nicht ins Feld führen, wenn man gegen den Terrorismus von Deutschland spricht, denn – die Allianzen mit den andern Staaten gehen ja die feindlichen Staaten nichts an.

Da es direkt nicht möglich war, Frankreich neutral zu halten, versuchte man es auf dem Umwege über England, aber auch da war nichts zu erringen, und die diesbezüglichen Verhältnisse habe ich ja schon mehrfach berührt: wie es England wiederum in der Hand gehabt hätte, Belgien zu retten, aber ebensogut Frankreich zu retten. Diese Dinge müssen wirklich sachlich und durchaus objektiv ins Auge gefaßt werden, denn das bitte ich Sie als eine ganz objektive Feststellung zu betrachten: Alle Mühe hat man sich gegeben – nachdem der Krieg nicht zwischen Österreich und Serbien zu lokalisieren war, da Rußland dies nicht zuließ –, ihn wenigstens nach dem Osten hinüber zu lokalisieren. Der Wahnsinn, sich nach zwei oder später sogar nach drei Fronten hin schlagen zu wollen, dieser Wahnsinn hat wirklich die Leute in Mitteleuropa nicht befallen.

Aber dass sich dann alles übrige angeschlossen hat an Weltunwahrheit, darüber braucht man sich ja nicht zu verwundern in unserer heutigen Zeit, meine lieben Freunde, wo man wirklich mit jedem Tage neuerdings erstaunt sein kann, was denn nun eigentlich heute alles gesagt, geschrieben und gedruckt werden kann. Als ich vorhin hier hereinkam, fand ich auf dem Tisch eine Broschüre von William Archer, einem der Beteiligten an der Neutralitätsdebatte mit Georg Brandes – er hat [in dieser Debatte] die englische Seite vertreten. In dieser Broschüre liest man nebeneinander gestellt von der schwarzen Verruchtheit von »Germany« und von der vollständigen Unschuld von »the Allies«, den Alliierten. Da sind die schwarzen Verruchtheiten von »Germany– und die engelhafte, völlige Unschuld der Alliierten in zehn Punkten zusammengestellt, aber es genügt, wenn man nur einen Punkt, den zweiten Punkt, ins Auge faßt, meine lieben Freunde. Im zweiten Punkte heißt es mit Bezug auf Deutschland, dass dort jedenfalls eine beträchtliche Partei sei, welche offen für weitere Territorialexpansionen agitiere, sei es innerhalb oder außerhalb von Europa. Dem sei gegenüberzustellen, dass auf seiten der Alliierten – in englischer Sprache bitte, »of the Allies« – kein Wunsch nach irgendeiner territorialen Expansion bestehe, am wenigsten auf Deutschlands Kosten; selbst Frankreichs Gefühl für Elsaß-Lothringen sei ein ausschließlich friedliches. Also, meine lieben Freunde, es ist in der heutigen Zeit viel möglich, zu drucken und zu sagen! Die andern neun Punkte sind von der gleichen Couleur. Man werfe einmal die Frage auf [oder besser], man stelle sich einmal vor, was in den letzten Jahrzehnten zur Expansion von England und Frankreich geschehen ist und lese dann: Diese Länder haben keinen Wunsch nach territorialen Expansionen. – Es ist eben heute durchaus möglich, dass das genaue Gegenteil der Wahrheit gesagt beziehungsweise gedruckt wird und dass die Leute es glauben – unzählige Menschen es glauben. Die Leute glauben ja einfach die [widersprüchlichsten] Dinge.

Sehen Sie, so liegen die Dinge rein äußerlich, geschichtlich.