Skizze eines Lebensabrisses | 1913

Autobiographischer Vortrag über die Kindheits- und Jugendjahre bis zur Weimarer Zeit

Berlin, 4. Februar 1913

Der Vortrag war veranlasst durch die von Annie Besant gegen Steiner erhobene Beschuldigung, ein Jesuitenzögling zu sein. Er fand während der ersten Generalversammlung der Anthroposophischen Gesellschaft nach Ausschluss aus der Theosophischen Gesellschaft Adyar statt.


Meine lieben theosophischen Freunde!

Es ist meine ganz ehrliche Überzeugung, dass es im Grunde genommen eine arge Zumutung ist, vor einer solchen Versammlung das vorzubringen, was ich nun werde darzustellen haben. Sie können wirklich überzeugt sein, dass ich, dieses fühlend, nur aus dem Grunde zu dieser Schilderung meine Zuflucht nehme, weil in der letzten Zeit Dinge zutage getreten sind, die gewissermaßen unserer Sache wegen die Zurückweisung von Verdächtigungen und Entstellungen zur Pflicht machen.

Ich werde mich bemühen, so objektiv wie möglich das darzustellen, was darzustellen ist, und ich werde mich bemühen – da ich ja selbstverständlich nicht alles vorbringen kann –, das, was ich vorbringe, subjektiv höchstens insoweit zu beeinflussen, als die Auswahl des Vorzubringenden in Betracht kommt. Hierbei soll mich der Grundsatz leiten, das zu erwähnen, was auf meine ganze Geistesrichtung irgendwie von Einfluss gedacht werden kann. Betrachten Sie die Art, wie ich versuchen werde darzustellen, nicht als eine Koketterie, sondern als etwas, was mir in vielen Punkten doch als die natürliche Form erscheinen muss.

Wenn sich jemand zu einem ganz modernen Leben, zu einem Leben in den modernsten Errungenschaften der gegenwärtigen Zeit hätte anschicken wollen und sich dazu hätte aussuchen wollen die entsprechenden Daseinsbedingungen der gegenwärtigen Inkarnation, so, scheint mir, hätte er in bezug auf seine gegenwärtige Inkarnation diejenige Wahl treffen müssen, die Rudolf Steiner getroffen hat. Denn er war von allem Anfange an eigentlich umgeben von den allermodernsten Kulturerrungenschaften, war umgeben von der ersten Stunde seines physischen Daseins an vom Eisenbahn- und Telegraphenwesen.

Geboren ist er am 27. Februar 1861 in Kraljevec, das jetzt zu Ungarn gehört. Er hat nur die ersten anderthalb Jahre an diesem Orte, der auf der sogenannten Mur-Insel liegt, zugebracht, dann ein halbes Jahr in einem Orte [Mödling] in der Nähe von Wien und dann eine ganze Anzahl von Knabenjahren in einem Orte [Pottschach] an der Grenze von Niederösterreich und Steiermark, mitten drinnen in jenen österreichisch-steierischen Verhältnissen einer Gebirgsgegend, die einen gewissen tiefergehenden Eindruck machen können auf das Gemüt eines Kindes, das für solche Sachen empfänglich ist.

Sein Vater war ein kleiner Beamter der österreichischen Südbahn. Die Familie hatte immerhin zu tun mit denjenigen Verhältnissen, die nach Lage der Sache dazumal nicht anders charakterisiert werden können als ein «Ankämpfen gegen die schlechte Bezahlung solcher kleiner Eisenbahnbeamter». Die Eltern haben – das muss ausdrücklich hervorgehoben werden, damit nicht ein Missverständnis entsteht – stets die Bereitschaft gezeigt, ihre letzten Kreuzer für das hinzugeben, was dem Wohle ihrer Kinder entsprach; aber es waren nicht sehr viele solcher letzter Kreuzer vorhanden.

Was der Knabe – man könnte sagen – stündlich sah, waren auf der einen Seite die hereinblickenden, oftmals in so schönem Sonnenschein erstrahlenden, oftmals von den herrlichsten Schneefeldern bedeckten steirisch-österreichischen Berge. Auf der anderen Seite waren da zum Erfreuen des Gemütes die Vegetations- und sonstigen Naturverhältnisse einer solchen Gegend, die dort, als am Fuße des österreichischen Schneeberges und des Sonnwendsteins gelegen, vielleicht zu den schönsten Flecken des österreichischen Landes gehören. Das war einerseits dasjenige, woraus man die Eindrücke bestimmen kann, die an den Knaben herankamen. Das andere war, dass stündlich der Blick gerichtet sein konnte eben auf die modernsten Kulturverhältnisse und -errungenschaften: auf die Eisenbahn, mit deren Bedienung ja sein Vater zu tun hatte, und auf das, was dazumal schon die Telegraphie im modernen Verkehr hat leisten können. Man möchte sagen, dass dasjenige, was da an den Knaben herantrat, ganz und gar nicht moderne Stadtverhältnisse waren. Denn der Ort, zu dem der Bahnhof gehörte, wo er aufwuchs, war ein sehr kleiner Ort und bot nur insofern moderne Eindrücke, als zu dem Orte eine Spinnfabrik gehörte, so dass man fortwährend einen recht modernen Industriezweig vor Augen hatte.

Diese Verhältnisse müssen alle erwähnt werden, weil sie tatsächlich bildend und herausfordernd auf die Kräfte der Seele des Knaben einwirkten. Stadtverhältnisse waren sie wirklich durchaus nicht; aber der Schatten der Stadtverhältnisse kam in diesen abgelegenen Ort herein. Denn es war nicht nur – mit all den Wirkungen, die so etwas hat – eine der kunstvoll angelegten Gebirgsbahnen in unmittelbarer Nähe, die Semmeringbahn, sondern es waren auch in der Nähe die Quellen, aus welchen gerade in der damaligen Zeit die Wasser der Wiener Hochquellenwasserleitung entnommen wurden. Außerdem war die ganze nähere Umgebung viel von Leuten aufgesucht, die ihren Sommeraufenthalt von Wien und anderen österreichischen Orten aus in dieser Gebirgsgegend verleben wollten. Aber man muss sich dabei vorstellen, dass in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts solche Orte noch nicht so übersät waren mit Sommerfrischlern, wie es in späteren Zeiten der Fall war, und dass man auch als Kind in gewisse persönliche Beziehungen trat zu den Leuten, die solche Sommerfrischen aufsuchten, so dass man dadurch eine Art intimen Verhältnisses gewann zu dem, was in der Stadt vorging. Wie der Schatten der Stadt erstreckte sich das, was sich da zeigte, in diese kleine Ortschaft hinein.

Was noch in Betracht kam – wer sich ein wenig psychologischen Blick angeeignet hat, wird schon sehen, dass so etwas doch in Betracht kommen kann –, waren gewisse Eindrücke, von denen man nichts anderes sagen kann, als dass sie die Auflösung von althergebrachten religiösen Verhältnissen im engsten Kreise einer kleinen Ortschaft zeigten. Es gab in dem Orte selber, in dem der Knabe heranwuchs, einen Pfarrer. Erwähnen möchte ich nur, dass ich selbstverständlich alle Namen und dergleichen weglasse, deren Nennung irgendwelchen Anstoß erregen oder auch nur verletzen könnte, da man es bei einer solchen Darstellung oft mit Leuten zu tun hat, die selbst oder deren Nachkommen noch leben; das soll also vermieden werden, trotz des Bestrebens, in der genauesten Weise darzustellen. In diesem Orte hatte man es also zu tun mit einem Pfarrer, der auf unsere Familie keinen anderen Einfluss nahm, als dass er meine Geschwister taufte; mich selber hat er nicht mehr zu taufen brauchen, da ich schon in Kraljevec getauft worden war. Im übrigen galt er auf dem Bahnhof, wo der Knabe, von dem ich zu erzählen habe, heranwuchs, bei den Bewohnern des Bahnhofes und allen denen zum Beispiel, die von der unmittelbar benachbarten Spinnfabrik fast bei jedem Zug anwesend waren, da das Ankommen eines Zuges ein großes Ereignis war, als eine recht komische Figur. Und der Knabe hörte in einer nicht gerade respektvollen Weise den betreffenden Pfarrer nicht anders nennen als «unseren Pfarrernazl».

Dagegen gab es im Nachbarorte einen anderen Pfarrer; der kam oftmals in unser Haus. Dieser andere Pfarrer war aber gründlich zerfallen erstens mit dem Pfarrernazl und zweitens mit allen Berufsverhältnissen, in denen er stand. Und wenn jemand schon in der allerersten Kindheit, die Rudolf Steiner zu verleben hatte, vor dem Ohr des Knaben die losesten Worte gebrauchte über alles, was damals auch schon als «jesuitisch» bezeichnet worden ist, – wenn jemand die losesten Worte gebrauchte in Gegenwart des vier- bis fünfjährigen Knaben über die kirchlichen Verhältnisse, so war es jener Pfarrer, der sich als ein entschieden Liberaler fühlte und den man in unserem Hause liebte wegen seiner selbstverständlichen Freigeistigkeit.

Es machte damals dem Knaben einen außerordentlichen Spaß, was er einmal von jenem Pfarrer hörte. Es war ihm der Besuch des Bischofs angesagt worden. In einem solchen Falle werden sonst in so kleinen Ortschaften große Vorbereitungen getroffen. Unserem freigeistigen Pfarrer aber war es passiert, dass man ihn aus dem Bette holen musste, indem man ihm sagte: er solle schnell aufstehen, denn der Bischof stünde schon in der Kirche. Kurz, es waren Verhältnisse, denen gegenüber es unmöglich war, dass sich etwas anderes entwickelte als das, was vielleicht nur Österreicher kennen: eine gewisse Selbstverständlichkeit gegenüber den Verhältnissen der religiösen Tradition, eine selbstverständliche Gleichgültigkeit. Man kümmerte sich sozusagen nicht darum und nahm ein kulturhistorisches Interesse an einer so originellen Persönlichkeit, wie der ebengenannte Pfarrer war, der zum Bischof zu spät kam, weil er tatsächlich einen sonderbaren Anblick bot. Man wusste gar nicht, warum er eigentlich Pfarrer war. Denn von allem, was sonst einen Pfarrer interessiert, sprach er nie; dagegen sprach er sehr häufig davon, welche Knödel ihm besonders gut schmeckten und was er sonst alles erlebte. Er zog manchmal ganz gewichtig los über seine Behörden und erzählte, was er da alles auszuhalten hätte. Aber irgendeine Anleitung zum Zelotismus konnte von diesem «Herrn Pfarrer» ganz gewiss nicht kommen.

Kurz nur wurde von dem Knaben die dortige Ortsschule besucht. Aus Gründen – es braucht ja nichts irgendwie auch nur unexakt dargestellt zu werden –, die einfach in einem persönlichen Zwist des Vaters des Knaben mit dem Schullehrer lagen, wurde der Knabe sehr bald aus der Dorfschule herausgenommen und bekam dann zwischen den Zeiten, wo die Züge verkehrten, in der Stationskanzlei von dem Vater einigen Unterricht.

Dann wurde der Vater des betreffenden Knaben, als dieser acht bis neun Jahre alt war, an eine andere Bahnstation [Neudörfl] versetzt, die an der Grenze liegt zwischen – wie man in Österreich sagt – «Cisleithanien» und «Transleithanien», zwischen den österreichischen und ungarischen Ländern, doch war die Station schon nach Ungarn hinüber gelegen. Bevor aber von dieser Versetzung gesprochen werden kann, muss noch etwas erwähnt werden, was von einer außerordentlichen Bedeutung und Wichtigkeit für das Leben des Knaben Rudolf Steiner war.

Der Knabe war in einer gewissen Beziehung für seine Angehörigen ein unbequemer Knabe, schon deshalb, weil er einen gewissen Freiheitssinn im Leibe hatte, und wenn er bemerkte, dass etwas von ihm gefordert wurde, womit er nicht ganz übereinstimmen konnte, dann wollte er sich dieser Forderung gern entziehen. Er entzog sich zum Beispiel der Forderung, Leute zu grüßen oder mit ihnen zu sprechen, die zu den Vorgesetzten seines Vaters gehörten und die auch als Sommerfrischler an dem betreffenden Orte waren. Er verkroch sich dann und wollte nichts wissen von einer Untertänigkeit, die ja natürlich ist und gegen die nichts eingewendet werden soll. Nur als Eigentümlichkeit soll hervorgehoben werden, dass er nichts davon wissen wollte und sich dann oft in den kleinen Wartesaal zurückzog, wo er versuchte, in sonderbare Geheimnisse einzudringen. Diese waren in einem Bilderbuch enthalten, das bewegliche Figuren hatte, wo man unten an Fäden zog. Es enthielt die Geschichte einer Persönlichkeit, die für Österreich – besonders für Wien – eine gewisse Bedeutung hatte: die Persönlichkeit des «Staberl». Sie war so etwas Ähnliches geworden – allerdings mit lokaler Färbung – wie ein Mittelding zwischen einem Kasperl und einem Eulenspiegel. Aber auch noch etwas anderes bot sich dem Knaben. Da saß er eines Tages in jenem Wartesaale ganz allein auf einer Bank. In der einen Ecke war der Ofen, an einer vom Ofen abgelegenen Wand war eine Tür; in der Ecke, von welcher aus man zur Tür und zum Ofen schauen konnte, saß der Knabe. Der war dazumal noch sehr, sehr jung. Und als er so dasaß, tat sich die Tür auf; er musste es natürlich finden, dass eine Persönlichkeit, eine Frauenpersönlichkeit, zur Türe hereintrat, die er früher nie gesehen hatte, die aber einem Familiengliede außerordentlich ähnlich sah. Die Frauenpersönlichkeit trat zur Türe herein, ging bis in die Mitte der Stube, machte Gebärden und sprach auch Worte, die etwa in der folgenden Weise wiedergegeben werden können: «Versuche jetzt und später, so viel du kannst», so etwa sprach sie zu dem Knaben, «für mich zu tun!» Dann war sie noch eine Weile anwesend unter Gebärden, die nicht mehr aus der Seele verschwinden können, wenn man sie gesehen hat, ging zum Ofen hin und verschwand in den Ofen hinein. Der Eindruck war ein sehr großer, der auf den Knaben durch dieses Ereignis gemacht worden war. Der Knabe hatte niemanden in der Familie, zu dem er von so etwas hätte sprechen können, und zwar aus dem Grunde, weil er schon dazumal die herbsten Worte über seinen dummen Aberglauben hätte hören müssen, wenn er von diesem Ereignis Mitteilung gemacht hätte.

Es stellte sich nach diesem Ereignis nun folgendes ein. Der Vater, der sonst ein ganz heiterer Mann war, wurde nach jenem Tage recht traurig, und der Knabe konnte sehen, dass der Vater etwas nicht sagen wollte, was er wusste. Nachdem nun einige Tage vergangen waren und ein anderes Familienglied in der entsprechenden Weise vorbereitet worden war, stellte sich doch heraus, was geschehen war. An einem Orte, der für die Denkweise der Leute, um die es sich da handelt, recht weit von jenem Bahnhofe entfernt war, hatte sich in derselben Stunde, in welcher im Wartesaale dem kleinen Knaben die Gestalt erschienen war, ein sehr nahestehendes Familienglied selbst den Tod gegeben. Dieses Familienglied hatte der Knabe nie gesehen; er hatte auch nie sonderlich viel von ihm gehört, weil er eigentlich in einer gewissen Beziehung – das muss auch hervorgehoben werden – für die Erzählungen der Umgebung etwas unzugänglich war; sie gingen bei dem einen Ohr hinein, bei dem anderen wieder hinaus, und er hatte eigentlich nicht viel von den Dingen gehört, die gesprochen worden sind. So wusste er auch nicht viel von jener Persönlichkeit, die sich da selbst gemordet hatte. Das Ereignis machte einen großen Eindruck, denn es ist jeder Zweifel darüber ausgeschlossen, dass es sich gehandelt hat um einen Besuch des Geistes der selbstgemordeten Persönlichkeit, die an den Knaben herangetreten war, um ihm aufzuerlegen, etwas für sie in der nächsten Zeit nach dem Tode zu tun. Außerdem traten ja die Zusammenhänge dieses geistigen Ereignisses mit dem physischen Plan, wie soeben erzählt worden ist, in den folgenden Tagen gleich stark zutage.

Nun, wer so etwas in seiner frühen Kindheit erlebt und es nach seiner Seelenanlage zu verstehen suchen muss, der weiß von einem solchen Ereignisse an – wenn er es eben mit Bewusstsein erlebt –, wie man in den geistigen Welten lebt. Und da nur an den unmittelbar notwendigen Punkten das Hereinleuchten der geistigen Welten besprochen werden soll, so soll hier gleich angedeutet werden, dass von jenem Ereignisse ab für den Knaben ein Leben in der Seele anfing, welchem sich durchaus diejenigen Welten offenbarten, aus denen nicht nur die äußeren Bäume, die äußeren Berge zu der Seele des Menschen sprechen, sondern auch jene Welten, die hinter diesen sind. Und der Knabe lebte etwa von jenem Zeitpunkt ab mit den Geistern der Natur, die ja in einer solchen Gegend ganz besonders zu beobachten sind, mit den schaffenden Wesenheiten hinter den Dingen, in derselben Weise, wie er die äußere Welt auf sich wirken ließ. Nach der schon erwähnten Versetzung des Vaters an den an der Grenze von Österreich und Ungarn, aber noch in Ungarn gelegenen On kam der Knabe in die Bauernschule jenes Ortes. Es war eine Bauernschule nach alter Einrichtung, wie sie damals bestanden, wo Knaben und Mädchen ganz selbstverständlich noch untereinander waren. Was in dieser Bauernschule gelernt werden konnte, das wirkte noch nicht einmal, trotzdem es natürlich nicht besonders viel war, mit der vollen Intensität auf den Knaben, von dem die Rede ist, aus dem einfachen Grunde, weil der ausgezeichnete Lehrer dieser Bauernschule – in seiner Art ausgezeichnet innerhalb der Grenzen, in denen das möglich ist – eine besondere Vorliebe für das Zeichnen hatte. Und da der Knabe ziemlich früh die Anlage zum Zeichnen zeigte, so nahm einfach jener Lehrer den Knaben während der Zeit, wo den anderen Schülern gezeigt wurde, wie man lesen und schreiben lernt, aus dem Schulzimmer heraus, führte ihn in seine kleine Stube, und der Knabe musste immer zeichnen, so dass er es verhältnismäßig bald dazu gebracht hatte, ganz nett – wie einzelne Leute sagten – eine der bedeutendsten politischen Persönlichkeiten Ungarns zu zeichnen, nämlich den Grafen Széchényi.

In jenem Ort lebte selbstverständlich auch ein Pfarrer. Aber von dem Pfarrer, der da jede Woche in jene Bauernschule kam, lernte der Knabe in bezug auf das Religiöse auch nicht sonderlich viel. Man kann nur sagen: weil ihn die Sache nicht besonders interessierte. Im Elternhause wurde nicht viel von religiösen Dingen gesprochen, und ein besonderes Interesse war dafür nicht vorhanden. Dagegen kam der Pfarrer einmal in die Schule mit einer kleinen Zeichnung, die er gemacht hatte; es war das kopernikanische Weltsystem. Das setzte er einigen Knaben und Mädchen, bei denen er besonderes Verständnis dafür annahm, auseinander, so dass der Knabe, der von dem Pfarrer nichts in der Religion lernen konnte, durch ihn das kopernikanische Weltsystem ganz gut verstanden hat. Der Ort, wo dies alles geschah, war ein sehr eigentümlicher Ort, weil da wiederum sozusagen hereinschauten gewichtige politische und kulturelle Verhältnisse. Es war damals gerade die Zeit, als die Ungarn anfingen zu magyarisieren und wo besonders in solchen Grenzgegenden sich vieles abspielte, was der Zusammenhang zwischen verschiedenen Völkerschaften ergab, besonders zwischen den magyarischen und deutschen Völkerschaften. Außerordentlich vieles lernte man noch kennen an bedeutsamen Kulturverhältnissen – ohne dass man damals alles rubrizierte –, so dass auch da der Knabe mit den modernsten Verhältnissen bekannt wurde.

Was nun missverstanden worden ist, das ist, dass der Knabe, wie die anderen Schulbuben des Ortes, – eine ganz kurze Zeit war das zwar nur der Fall – in der Dorfkirche Ministrantendienste leisten musste. Es wurde da einfach gesagt: der und der haben heute die Glocken zu läuten und sich die Ministrantenkleider anzuziehen und Ministrantendienste zu tun. Es war das gar nicht so sehr lange geschehen, da bestand der Vater des Knaben – und zwar aus sehr merkwürdigen Gründen – darauf, dass diese Ministrantendienste nicht zu lange ausgedehnt werden sollten. Der Knabe konnte, aus gewissen Verhältnissen heraus, ab und zu es nicht vermeiden, dass er zu spät kam, und der Vater wollte nicht, dass sein Junge ebensolche Schläge bekäme wie die anderen Jungen, wenn sie zu spät zum Glockenläuten kamen. Da brachte er es denn dahin, dass seinem Sohne dieses Amt wieder entzogen wurde.

Noch in anderer Beziehung waren die damaligen Verhältnisse ganz interessant. Der Pfarrer, der eigentlich nicht besonders tief mit seinem Amt verbunden war, aber dies nicht – wie jener andere Pfarrer, von dem ich vorhin erzählt habe – merken ließ, war ein außerordentlich engagierter magyarischer Patriot, und es schien ihm klug – das konnte auch der Knabe schon durchschauen –, sich gegen etwas zu wenden, was an diesem Orte damals aufkam und was gerade zeigt, wie man als Knabe auch die kulturhistorischen Verhältnisse recht gut studieren konnte. Es war nämlich ein heftiger Kampf ausgebrochen zwischen dem Pfarrer und der Freimaurerloge, die an jenem Orte war, der als Grenzort schon in Ungarn lag. Solche Grenzorte wurden von den Logen gern ausgesucht. Es wurde von den dortigen Freimaurern, neben dem Berechtigten, das Unglaublichste aufgebracht als Anklagen gegen die Kirche. Und wenn man bekannt werden wollte mit dem, was – auch in berechtigter Weise – gegen die klerikalen Verhältnisse vorgebracht werden konnte, so hatte man dazu genügend Gelegenheit, trotzdem man vielleicht noch nicht eine gewisse Jugend überschritten hatte.

Manche Dinge, die nicht gerade dazu beitragen, in einem Knaben einen besonderen Respekt vor der Kirche zu erwecken, sollten eigentlich in einem späteren Abdruck nicht gedruckt, sollen hier aber doch erwähnt werden. Es trug nämlich nicht gerade zur Erhöhung der Ehrfurcht vor den kirchlichen Traditionen bei, dass der Knabe folgendes ansehen musste: Es war da ein Bauernsohn des betreffenden Ortes, der es dahin gebracht hatte, Geistlicher zu werden, worauf ja die Bauern besonders stolz sind. Er war Zisterzienser geworden, was der Knabe nicht miterlebt hatte, aber er sah, was sich nun abspielte. Damals war eine große Feier veranstaltet worden, denn der ganze Ort war stolz darauf, dass es ein Bauernsohn so weit gebracht hatte. Es waren fünf bis sechs Jahre dahingegangen, der betreffende Geistliche hatte eine Pfarre bekommen und kam zuweilen auch in seinen Heimatort. Da konnte man dann beobachten, wie ein Wagen, den eine bauernmäßig gekleidete Frau und jener Pfarrer zusammen schoben, immer schwerer und schwerer wurde. Das war nämlich ein Kinderwagen, und mit jedem Jahr gab es ein Kind mehr für diesen Kinderwagen. Man konnte von dem ersten Besuche an bei diesem Geistlichen eine merkwürdige Vermehrung seiner Familie beobachten, die als eine «Beigabe» seines Zölibates mit jedem neuen Jahr immer sonderbarer erschien. Vielleicht darf da doch die Bemerkung eingefügt werden, dass in dieser Weise nicht dafür gesorgt wurde, dass der Knabe möglichst viel Respekt bekam vor dem, was die Traditionen geistlicher Körperschaften sind.

Es soll nun noch erwähnt werden, dass der Knabe im Alter von etwa acht Jahren in der Bibliothek des vorhin erwähnten Lehrers auch eine Geometrie von Molnik fand, die in den österreichischen Ländern viel gebraucht wurde, sich nun ganz allein an ein eifriges Studium der Geometrie machte und mit einer großen Lust sich gerade in diese Geometrie vertiefte.

Dann brachten es die Verhältnisse mit sich, die so charakterisiert werden könnten, dass es in der Familie des Knaben als eine völlige Selbstverständlichkeit galt, dem Knaben nur eine Bildung zu geben, die ihn zu irgendeinem modernen Kulturberuf befähigen konnte – alles Bestreben ging dahin, ihn ja nicht zu etwas anderem als zu einem modernen Kulturberuf zu bringen –, diese Verhältnisse also brachten es mit sich, dass man den Knaben nicht in das Gymnasium, sondern in die Realschule schickte. Er hat also überhaupt nicht eine Vorbildung genossen, die ihn zu einem geistlichen Berufe vorbereiten konnte, denn er hat kein Gymnasium, sondern nur eine Realschule besucht, die damals in Österreich ganz und gar nicht die Befähigung zum späteren geistlichen Berufe gegeben hätte. Für die Realschule war er durch sein Zeichentalent und durch seine Hinneigung zur Geometrie recht gut vorbereitet.

Schwierig erging es ihm nur in allem Sprachlichen, auch im Deutschen. Jener Knabe hat bis zu seinem vierzehnten, fünfzehnten Jahre die allertörichtesten Fehler in der deutschen Sprache bei seinen Schulaufgaben gemacht; nur der Inhalt hat ihm immer wieder hinweggeholfen über die zahlreichen grammatikalischen und orthographischen Fehler. Weil es Symptome sind für eine gewisse Artung der Seele, darf auch noch erwähnt werden, dass der Knabe, von dem hier die Rede ist, zu einer Nichtberücksichtigung gewisser grammatikalischer und orthographischer Verhältnisse selbst seiner Muttersprache dadurch geführt wurde, dass ihm in einer gewissen Weise der Zusammenhang mit dem fehlte, was man nennen könnte: unmittelbares Sichhineinleben in das ganz trockene physische Leben. Das trat zuweilen grotesk hervor. Dafür ein Symptom: In der Bauernschule, die der Knabe besuchte, bevor er in die Realschule kam, mussten die Kinder immer zu Neujahr und zu den Namenstagen der Eltern usw. auf schönem bunten Papier Glückwünsche schreiben. Diese wurden dann zusammengerollt und, nachdem der Inhalt auswendig gelernt worden war, von dem Lehrer in eine sogenannte kleine Papiermanschette gesteckt; die gab man nachher unter Aufsagen des Inhalts an die betreffenden Angehörigen ab, an die sie gerichtet waren. Jener Pfarrer, der einmal auf den Knaben einen unausbleiblich komischen Eindruck dadurch gemacht hat, dass er, als die dortige Freimaurerloge erbaut war, furchtbar zeterte und, weil noch dazu – zu einer wirksamen Redewendung gut zu gebrauchen – der Begründer der Freimaurerloge ein Jude war, – es war unauslöschlich komisch – von der Kanzel herunter verkündete, dass zu alledem, was schlechte Menschen seien, auch das dazu gehöre, dass man so etwas würde wie ein Jude oder ein Freimaurer, jener Pfarrer hatte auf seinem Pfarrhof – es soll dabei an nichts Schlimmes gedacht werden – einen Knaben. Der ging auch zu uns in die Schule und schrieb dort auch seine Glückwünsche. Da kam es einmal so, dass der Knabe Rudolf Steiner in das Glückwunschkonzept des betreffenden Knaben hineinschaute, der im Pfarrhof wohnte, und dabei sah, dass dieser Knabe nicht wie die anderen sich unterschrieb, sondern: «lhr herzlich ergebener Neffe.» Der Knabe Rudolf Steiner wusste damals nicht, was ein «Neffe» ist; er hatte nicht viel Sinn für die Verbindung von Worten mit Dingen, wenn die Worte selten ausgesprochen wurden. Aber er hatte einen merkwürdigen Sinn für den Klang der Worte, für das, was man durchhören kann durch den Klang der Worte. Und so hörte der Knabe aus dem Klange des Wortes «Neffe», dass es etwas besonders Herzliches sei, wenn man auf seinem Glückwunsch sich seinen Angehörigen gegenüber unterschrieb: «Ihr herzlich ergebener Neffe», und er fing nun auch an, für seinen Vater und seine Mutter zu unterschreiben: «Ihr herzlich ergebener Neffe«. Erst durch die Aufklärung über die Tatsachen wurde dem Knaben klar, was ein Neffe ist. Das geschah, als er zehn Jahre alt war.

Dann kam der Knabe auf die Realschule in die benachbarte Stadt [Wiener Neustadt]. Diese Realschule war nicht so ganz leicht zu erreichen. Es war nach den Verhältnissen der Eltern gar nicht daran zu denken, dass er in der Stadt hätte wohnen können. Aber es war der Besuch der Realschule auch dadurch möglich, dass die Stadt nur eine Wegstunde von dem Ort entfernt war, wo er wohnte. Wenn – was nicht sehr häufig geschah – die Eisenbahnstrecke im Winter nicht eingeschneit war, so konnte der Knabe am Morgen mit der Eisenbahn zur Schule fahren. Aber gerade in den Zeiten, in denen auch der Fußweg nicht besonders angenehm war, denn dieser führte über Felder, waren die Bahngeleise tatsächlich sehr häufig verschneit, und dann musste der Knabe morgens zwischen halb sieben und acht Uhr oftmals durch wirklich knietiefen Schnee zur Schule wandern. Und am Abend war gar nicht daran zu denken, anders als zu Fuß nach Hause zu kommen. Wenn ich jetzt auf den Knaben zurücksehe, der recht viele Anstrengungen hat machen müssen, um zur Schule und wieder zurück zu kommen, so kann ich nicht anders sagen, als dass es mein Glaube ist, der gewisse Grad von Gesundheit, den ich selber jetzt habe, sei vielleicht zurückzuführen auf jenes anstrengende Waten durch knietiefen Schnee und auf die sonstigen Anstrengungen, die mit dem Besuch der Realschule verbunden waren. Es war ja dadurch, dass sich eine wohltätige Frau in der Stadt gefunden hatte, die den Knaben über Mittag – durch die ersten vier Schuljahre hindurch – zu sich eingeladen hatte und ihm zu essen gab, wenigstens nach der Richtung hin die Not, dass nichts zu essen dagewesen wäre, gelindert. Auf der anderen Seite aber war dabei auch wieder Gelegenheit, die modernsten Kulturverhältnisse zu sehen. Denn der Mann jener Frau war in der Lokomotivfabrik jenes Ortes angestellt, und man lernte da viel kennen von den Verhältnissen jenes Industrieortes, die für die damalige Zeit außerordentlich wichtig waren. So warfen auch die modernsten industriellen Verhältnisse ihre Schatten in das Leben des Knaben.

Nun gab es mehreres im Zusammenhang mit der Schule, was den Knaben in einer außerordentlichen Weise interessierte. Zunächst war da der Direktor der Realschule [Heinrich Schramm), ein ganz merkwürdiger Mann. Der stand mitten darinnen in dem damaligen naturwissenschaftlichen Leben und setzte all sein Streben daran, aus den Begriffen und Ideen der Naturwissenschaft, Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre, sich eine Art von Weltsystem zu begründen. Von den Bestrebungen seines Direktors lernte der Knabe einen Programmaufsatz der Schule kennen, der hieß «Die Anziehungskraft betrachtet als eine Wirkung der Bewegung». Und die Sache ging gleich los mit ganz kräftigen Integralen. Das heftigste Bestreben des Knaben war nun, sich hineinzulesen in das, was er nicht verstehen konnte, und immer wieder las er darüber, soviel er erfassen konnte. Einen gewissen Sinn verstand er: dass die Kräfte der Welt und selbst die Anziehungskraft aus der Bewegung heraus erklärt werden sollten. Es entstand nun ein Streben in dem Knaben, möglichst bald so viel von Mathematik zu kennen, um diese Ideen durchdringen zu können. Das war nicht ganz leicht, da man zunächst viel Geometrie lernen musste, um solche Sachen zu verstehen.

Nun kam noch etwas anderes hinzu. Art jener Realschule war ein ausgezeichneter Lehrer für Physik und Mathematik [Lorenz Jelinek], der einen zweiten Programmaufsatz verfasst hatte, den der Knabe zu Gesicht bekam. Das war ein außerordentlich interessanter Aufsatz über Wahrscheinlichkeitsrechnung und Lebensversicherung. Und der zweite Anstoß, den der Knabe daraus bekam, war eben der, dass er kennenlernen wollte, wie man die Leute versichert aus den Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung heraus, und das war in jenem Aufsatze sehr übersichtlich wiedergegeben.

Dann muss noch ein dritter Lehrer erwähnt werden, der Lehrer der Geometrie [Georg Kosak]. Der Knabe hatte nämlich das Glück, diesen Lehrer schon in dem zweiten Schuljahre zu haben und von ihm zu bekommen, was später zu der darstellenden Geometrie hinüberführte und verbunden ist mit geometrischem Zeichnen, so dass man auf der einen Seite das Rechnen hatte und auf der anderen außerdem noch Freihandzeichnen. Der Lehrer der Geometrie war ein anderer als der Direktor und ein anderer als jener, der den Aufsatz über das Lebensversichern schrieb. Die Art nun, wie dieser Lehrer die Geometrie vorbrachte und Anleitung gab, Zirkel und Lineal zu gebrauchen, war etwas außerordentlich Praktisches, und es darf gesagt werden, dass sich der Knabe infolge der Anleitung dieses Lehrers ganz in die Geometrie vernarrte und auch in das geometrische Zeichnen mit Zirkel und Lineal. Die übersichtliche und praktische Art, Geometrie durchzunehmen, war auch noch dadurch besonders erhöht, dass jener Lehrer verlangte, dass man die Bücher eigentlich nur als so eine Art Dekoration habe. Was er gab, diktierte er den Schülern und zeichnete es selbst an die Tafel; man zeichnete es ab, machte sich auf diese Weise selbst sein Heft und brauchte eigentlich nichts anderes zu wissen, als was man selbst im Heft ausgearbeitet hatte. Es war eine gute Art, selbsttätig mitzuarbeiten. In anderen Fächern dagegen war oft eine recht gute Anleitung vorhanden, alles, was vorkam, zu verschlafen.

Nun ging die Sache so, dass der Knabe Gelegenheit hatte, schon in der dritten Realschulklasse jenen Lehrer für Mathematik und Physik zu bekommen, der den Aufsatz über Wahrscheinlichkeitsrechnung und Lebensversicherung verfasst hatte. Der stellte sich heraus als ein ganz ausgezeichneter Lehrer für Mathematik und Physik. Und wenn dem Manne, der aus dem Knaben geworden ist, hier etwas durch das Gemüt schießt, indem er an jenen Lehrer denkt, so ist es das, dass er jederzeit in geistiger Beziehung seinen Kranz niederlegen möchte vor jenem ausgezeichneten Lehrer für Mathematik und Physik. Nun fing man erst recht an, mit Hingebung sich der Mathematik und Physik zu widmen, und so konnte es dazu kommen, dass es möglich geworden war, verhältnismäßig bald zu greifen zu den damals viel mehr als heute verbreiteten ausgezeichneten Lehrbüchern für den Selbstunterricht in Mathematik von Lübsen. Mit Anleitung der Bücher von H.B. Lübsen brachte es auch der Knabe dahin, verhältnismäßig bald zu verstehen, was sein Direktor geschrieben hatte über die «Anziehungskraft betrachtet als eine Wirkung der Bewegung» und was sein Lehrer geschrieben hatte über «Wahrscheinlichkeitsrechnung und Lebensversicherung». Das war eine große Freude, diese Dinge nach und nach zum Verständnis getrieben zu haben.

Nun spielte in das Leben des Knaben noch hinein, dass er kein Geld hatte, um die Schulbücher einbinden zu lassen. Da hatte er denn von einem Gehilfen seines Vaters die Buchbinderei gelernt und konnte sich in den Ferien damit beschäftigen, sich seine Schulbücher selbst einzubinden. Es scheint mir wichtig, dies hervorzuheben, weil es etwas bedeutete für die Entwicklung jenes Knaben, eine so praktische Sache wie die Buchbinderei in verhältnismäßig frühen Lebensjahren kennenzulernen.

Aber noch anderes spielte da hinein. Es war die Zeit, von der jetzt die Rede ist, gerade die, in welcher in Österreich eingeführt wurde anstelle des alten Zoll-, Fuß-, Pfund- und Zentner-Systems das neue metrische Maß- und Gewichtsystem, das Meter- und Kilogramm-System. Und den ganzen Enthusiasmus erlebte der Knabe mit, der sich abspielte in allen Verhältnissen, als man aufhörte, in der bisherigen Weise mit Fuß und Pfunden und Zentnern zu rechnen und nun anfing, Meter und Kilogramm an ihre Stelle zu setzen. Und das gelesenste Buch, welches er immer in der Tasche hatte, war das heute schon vergessene über das neue Maß- und Gewichtsystem. Und schnell wusste der Knabe herzusagen, wieviel eine Anzahl von Pfunden ausmachten in Kilogrammen und wieviel eine Anzahl Fuß in Metern, denn darüber waren lange Tabellen in dem Buche enthalten.

Eine Persönlichkeit, die in das Leben des Knaben hineinspielte, darf nicht unerwähnt bleiben: ein Arzt, ein sehr freigeistiger Arzt, der aber – vielleicht wird es mir nicht übelgenommen – eine gewisse «weitschauende Lebensauffassung» hatte. Er hatte nun dadurch auch seine Eigenarten, war jedoch in gewisser Beziehung ein außerordentlich guter Arzt. Aber es passierten ihm zum Beispiel solche Sachen: Der Arzt war dem Knaben schon bekannt von der ersten Eisenbahnstation her, wo die okkulte Erscheinung stattfand. Damals war folgendes vorgekommen. Der Weichenwärter auf der dortigen Station hatte einen heftigen Zahnschmerz. Der betreffende Arzt war nun auch Bahnarzt und hatte, obwohl er nicht dort wohnte, den Weichenwärter zu behandeln. Und siehe da, der gute Arzt wollte recht schnell mit den Sachen fertig werden und schickte ein Telegramm, dass er mit einem bestimmten Zug kommen würde. Er wolle aber nur so lange aussteigen, als der Zug hielte, um in dieser Zeit den Zahn herauszuexpedieren und dann gleich weiterzufahren. Die Sache wurde in Szene gesetzt, der Arzt kam mit dem festgesetzten Zug, zog dem Weichenwärter den Zahn aus und fuhr weiter. Aber nachdem der Arzt abgefahren war, kam der Weichenwärter und sagte: «Nun hat er mir halt einen gesunden Zahn ausgerissen, aber der kranke tut mir au nit mehr weh!»

Dann hatte der Weichenwärter einmal Magenschmerzen, da wollte ihn der Arzt in ähnlicher Weise abfertigen. Diesmal aber war der Zug, mit dem er kam, ein Schnellzug, der auf der Station nicht hielt. Daher ordnete er an, der Weichenwärter solle sich auf dem Bahnsteig hinstellen und ihm, wenn der Zug vorbeiführe, die Zunge herausstrecken, er wolle dann von der nächsten Station aus Bescheid geben. Das geschah auch: der Weichenwärter musste sich hinstellen, die Zunge herausstrecken, während der Zug vorüberfuhr, und der Arzt telefonierte dann von der nächsten Station aus das Rezept zurück. Das waren einige Seiten der «weiten Lebensauffassung» dieses Arztes. Aber er war eine feinsinnige, außerordentlich menschenfreundliche Persönlichkeit.

Der Knabe hatte längst die Studien gemacht mit dem neuen Maß- und Gewichtsystem, hatte sich über Integral- und Differentialrechnung informiert. Von Goethe und Schiller aber wusste er nichts, als was in den Schulbüchern stand – einige Gedichte –, sonst nichts von deutscher Literatur, von Literatur überhaupt. Eine eigentümliche, selbstverständliche Liebe zu jenem Arzt war aber dem Knaben geblieben, und mit einer rechten Verehrung ging er an den Fenstern dieses Arztes vorbei in der Stadt, wo die Realschule war. Da konnte er ihn hinter dem Fenster sehen mit einem grünen Schirm vor den Augen, und unbemerkt konnte er beobachten, wie er vertieft vor seinen Büchern saß und studierte. Bei einem Besuche, den der Arzt in dem zuletzt erwähnten Dorfe machte, ergab es sich, dass er den Knaben einlud, ihn einmal zu besuchen. Der Knabe ging dann zu ihm hin, und der Arzt wurde nun ein liebevoller Berater, indem er dem Knaben die wichtigeren Werke der deutschen Literatur zur Verfügung stellte – manchmal in kommentierten Ausgaben – und ihn immer mit einem liebevollen Wort entließ, ihn auch wieder so empfing, wenn er die Bücher zurückbrachte. So war der Arzt, von dem ich Ihnen die andere Seite zuerst erzählt habe, eine Persönlichkeit, die eine der meistgeachteten in dem Leben des Knaben wurde. Vieles, was von Literatur und damit Zusammenhängendem in des Knaben Seele drang, kam von jenem Arzte.

Nun stellte sich etwas Eigentümliches für den Knaben heraus. Er empfand durch jenen ausgezeichneten Geometrielehrer die größte Hingebung für darstellende Geometrie, und dadurch kam etwas vor, was erwähnt werden darf, was überhaupt vorher in jener Schule und auch an einer anderen Schule nie vorgekommen war: dass jener Knabe, von dem hier gesprochen wird, von der vierten Klasse ab in «Darstellende Geometrie und Zeichnen» eine Note bekam, die sonst eben gar nicht gegeben wurde. Die höchste, schwer zu erhaltende Note war «vorzüglich»; er hatte «ausgezeichnet» bekommen. Er verstand wirklich von all diesen Dingen viel mehr als von Literatur und ähnlichen Sachen.

Es gab aber auch manche andere Seiten in der Schule. Zum Beispiel war durch eine Anzahl von Klassen hindurch der Lehrer für Geschichte ein recht langweiliger Patron, und man hatte es außerordentlich schwer zuzuhören; was er vortrug, war dasselbe, was im Buche stand, und man kam leichter dahinter, wenn man es nachher im Buche las. Da hatte sich der Knabe ein merkwürdiges System ersonnen, das zusammenhing mit seinen damaligen Neigungen. Er hatte zwar nie besonders viel Geld, aber wenn er wochenlang die Kreuzer beiseite legte, die er hier und da erhielt, so konnte er schließlich sich etwas zusammensparen. Nun war damals gerade zu seinem guten Karma die Reclamsche Universal-Bibliothek begründet worden, und zu den ersten Werken, die erschienen, gehörten zum Beispiel die Werke Kants. Das erste, was sich der Knabe aus der Universal-Bibliothek kaufte, war Kants «Kritik der reinen Vernunft». Er war damals zwischen dem vierzehnten und fünfzehnten Jahre. Die geschichtlichen Vorträge seines Professors langweilten ihn furchtbar. Besonders viel freie Zeit hatte er nicht, es gab viele Schulaufgaben, die in der Zeit von abends bis zum nächsten Morgen gemacht werden mussten. Als einzige Zeit, die man nutzbringend anwenden konnte, blieb die Stunde, in welcher der Geschichtslehrer so langweilig vortrug. Nun sann der Knabe darauf, wie er diese Zeit nützen könnte. Mit dem Bücherbinden war er bekannt. Da nahm er das Geschichtsbuch auseinander und klebte buchbinderisch ordentlich zwischen die Seiten des Geschichtsbuches die Blätter von Kants «Kritik der reinen Vernunft» hinein. Und während dann der da oben erzählte, was im Buche stand, las der Knabe Kants «Kritik der reinen Vernunft» mit großer Aufmerksamkeit. Und er war aufmerksam, denn er brachte es dahin, mit fünfzehn Jahren Kants «Kritik der reinen Vernunft» eingehend gelesen zu haben, und konnte dann dazu übergehen, die anderen Werke von Kant zu erarbeiten. Es darf wirklich, ohne zu renommieren, gesagt werden, dass der Knabe es mit sechzehn, siebzehn Jahren dahin gebracht hatte, die Kantschen Werke, soweit sie in der Reclamschen Universal-Bibliothek zu haben waren, in sich aufzunehmen; denn zu dem Studium während der Geschichtsstunden kam noch das Studium in der Ferienzeit hinzu. Er gab sich eifrig Kant hin, und es war tatsächlich eine neue Welt, die damals aus dem Studium dieser Kant-Werke von dem physischen Plane her dem Knaben aufging.

Mit der Realschulzeit ging es nun zu Ende. Einen ganz modernen Schullebenslauf hatte der Knabe hinter sich. Zwei Dinge sind noch hervorzuheben. In den höheren Klassen war auch ein sehr guter Chemielehrer, der nicht viel sprach, der meistens immer nur das Notwendigste sagte. Aber auf einem mehrere Meter langen Tisch waren alle möglichen Apparate ausgebreitet, und alles wurde gezeigt: die kompliziertesten Experimente wurden gemacht und nur von den notwendigsten Worten begleitet. Und wenn wieder so eine interessante Stunde vorbei war, dann fragten die Schüler wohl: «Herr Doktor» – er hatte sich lieber so anreden lassen als «Herr Professor» –, «wird das nächste Mal experimentiert oder examiniert?», da hieß die Antwort dann meistens: «Experimentiert», und jeder freute sich wieder. Examiniert wurde gewöhnlich nur in den letzten zwei Stunden, bevor Zeugnisse ausgestellt werden sollten. Aber ein jeder hatte in seinen Stunden immer gut aufgepasst und mitgearbeitet, und so kam es denn – weil er auch ein ausgezeichneter Mann war –, dass auch die Schüler immer etwas konnten. Es mag noch bemerkt werden, dass es der Bruder jener jetzt wieder in Österreich bekannt gewordenen Persönlichkeit war, der Bruder des österreichisch-tirolischen Dichters Hermann von Gilm, eines bedeutenden Lyrikers. Es darf wohl hier ausnahmsweise der Name [Hugo von Gilm] genannt werden als der Name eines nicht mehr unter uns Weilenden, da nur Gutes von ihm gesagt werden kann.

Das andere, was noch hervorzuheben ist, war, dass in der Nähe jenes Ortes ein Schloss war, in dem ein Mann wohnte, der Graf Chambord, welcher der Prätendent war für einen europäischen Thron, doch diesen Thron wegen der politischen Verhältnisse nie einnehmen konnte. Er war für die dortige Gegend ein großer Wohltäter, und man erfuhr viel von dem, was aus diesem Schlosse des Kronprätendenten kam. Selbstverständlich hatte der Knabe nie Gelegenheit, den Grafen selbst kennenzulernen; aber dieser lebte im Munde der Leute in der ganzen Gegend. Wenn es auch ein Mensch war, von dem man sagen konnte, dass in der Gesinnung nur wenige Leute mit ihm einverstanden waren, so breitete sich doch wieder der Schatten wichtiger politischer Verhältnisse, die man dadurch kennenlernen konnte, in den Ort hinein.

Nun kamen noch andere Dinge dazu. Es ging das Interesse des Knaben, das an Kant angefacht war, nach und nach so weit, dass er auch nach anderen philosophischen Dingen Lust bekommen hatte, und er verschaffte sich nun mit seinen recht geringen Mitteln psychologische und logische Werke. Besondere Sympathie empfand er für die Bücher von Lindner, die, was Psychologie betrifft, recht gute Lehrmittel waren, und lernte aus den Fäden, die da verfolgt wurden, noch bevor er von der Realschule abging, die Herbartsche Philosophie eigentlich recht gut kennen. Es hatte ihm dies allerdings eine Schwierigkeit bereitet, denn der Lehrer der deutschen Sprache, der im übrigen ein vortrefflicher Mann war und viele Verdienste um das Schulwesen sich erwarb, hatte gar nicht leiden mögen, dass der Knabe Rudolf Steiner solche Lektüre pflog, die ihn verleitete, so furchtbar lange Schulaufsätze zu machen, manchmal sogar ein ganzes Heft vollzuschreiben. Und nach dem Abiturientenexamen, wo dann die Schüler, wie das so gebräuchlich war, mit den Lehrern vor Schulabgang noch einmal zusammen waren, da sagte er zu dem Knaben: «Ja, Sie waren mein stärkster Phraseur, ich fürchtete mich immer schon, wenn ihr Heft kam.» Einmal zum Beispiel hatte er, nach dem Gebrauche des Wortes «psychologische Freiheit», dem Knaben den Rat gegeben: «Sie scheinen wirklich eine philosophische Bibliothek zu Hause zu haben; ich möchte Ihnen anraten, sich nicht viel damit zu beschäftigen.»

Von besonderem Interesse war dem Knaben auch der Vortrag eines Professors der kleinen Ortschaft über «Pessimismus». Noch soll erwähnt werden, dass es dann später auch wieder Jahre gab, in denen auf der Realschule ausgezeichnet Geschichte gepflegt worden ist. Und da war es dann wirklich ein gründliches Vertiefen des Knaben in die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, weil er habhaft werden konnte der «Weltgeschichte» von Rotteck, die einen großen Eindruck machte durch die Wärme, mit der die ersten Bände dieser Weltgeschichte geschrieben sind.

Von dem, was gewissermaßen bedeutsam ist, darf noch hervorgehoben werden, dass der Knabe nur pflichtgemäß in den ersten vier Jahren an dem Religionsunterricht teilgenommen hat. Als er von dem vierten Schuljahre ab durch den Lehrplan der Schule von dem Religionsunterricht befreit war, hat er nicht mehr daran teilgenommen. Durch die Verhältnisse seiner Familie war er auch nie zur Firmung geführt worden, so dass er bis heute nicht gefirmt worden ist. Also einen gefirmten Menschen haben Sie nicht vor sich. Denn es war damals in den Kreisen, in denen der Knabe aufwuchs, eine Selbstverständlichkeit, dass man so etwas wie die klerikalen Einrichtungen nicht mitmachte. Dagegen hatte es einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht, dass er bei seinem Abiturientenexamen in der Physik eine Frage zu beantworten bekam, die so modern war, dass sie in den österreichischen Schulen wohl zum ersten Mal gestellt worden ist. Er hatte nämlich das Telefon zu erklären, das damals erst Verbreitung gefunden hatte. Es war wirklich ein Zusammenhang da mit den allermodernsten Verhältnissen. Er musste aufzeichnen an der Tafel, wie man von der einen zur anderen Station telefoniert.

Nun handelte es sich darum, dass nach der Schulzeit eine ganze Anzahl von philosophischen Sehnsuchten in dem Knaben erregt worden waren. Das Abiturientenexamen war zu Ende, und der Vater ließ sich an einen Bahnhof [Inzersdorf] in der Nähe von Wien versetzen, damit der Knabe jetzt die Hochschule besuchen konnte. Es war in der Ferienzeit, die auf das Abiturientenexamen folgte, und da stellte sich wirklich eine tiefe Sehnsucht nach der Lösung philosophischer Fragen ein. Um diese zu stillen, gab es nur eine Möglichkeit. Man hatte in den Jahren eine Anzahl von Schulbüchern aufgestapelt, die trug man nun zum Antiquar und bekam dafür ein nettes Sümmchen. Das wurde sofort umgetauscht in philosophische Bücher. Und nun las der Knabe, was er von Kant noch nicht gelesen hatte, zum Beispiel seine Abhandlung vom Jahre 1763 über den «Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen» oder Kants «Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik» [1766), wo Beziehung genommen wird auf Swedenborg. Aber nicht nur Kant, sondern die ganze Literatur konnte verfolgt werden durch einzelne repräsentative Bücher von Hegel, Schelling, Fichte und ihren Schülern – zum Beispiel Karl Leonhard Reinhold, von Darwin usw. Bis zu einem Philosophen kam es, der heute nicht mehr besonderes Ansehen hat, zu Traugott Krug, dem Kantianer.

Nun sollte der Knabe auf die Hochschule. Er konnte selbstverständlich nur auf eine technische Hochschule gehen, da er keine Vorbildung hatte für die mit dem humanistischen und antiken Geisteswissen verbundenen Studien. Er ließ sich dann in der Tat einschreiben an der Technischen Hochschule in Wien und hörte in den ersten Jahren Chemie, Physik, Zoologie, Botanik, Biologie, Mineralogie, Geologie, Mathematik, Geometrie und reine Mechanik. Daneben hörte er deutsche Literaturgeschichte bei jenem Manne, der allerdings mit dem Leben des Knaben recht tief zusammenhängt, bei dem Vortragenden für deutsche Literatur an der Technischen Hochschule, Karl Julius Schröer.

Schon im ersten Jahre des Hochschulstudiums [1879/ 80] trat etwas ganz Besonderes ein. Durch eine besondere Verkettung von Umständen trat in den Gesichtskreis des Knaben eine merkwürdige Persönlichkeit, eine Persönlichkeit, die keine Gelehrsamkeit hatte, aber ein umfassendes tiefes Wissen und eine umfassende tiefe Weisheit. Nennen wir jene Persönlichkeit, wie sie mit ihrem Vornamen wirklich hieß, «Felix», der in einem abgelegenen, einsamen Gebirgsdörfchen mit seiner bäuerlichen Familie lebte, das Zimmer voll hatte mit mystisch-okkulter Literatur, selber tief eingedrungen war in mystisch-okkulte Weisheit und der seine Hauptzeit zuzubringen hatte mit dem Sammeln von Pflanzen. Er sammelte überall in den dortigen Gegenden die verschiedensten Pflanzen und verstand es – das konnte man gewahr werden, wenn man ihn, wie das nur selten, aber doch der Fall war, begleiten durfte auf seinen einsamen Wanderungen – jede einzelne Pflanze aus ihrem Wesen, aus ihren okkulten Untergründen heraus zu erklären. In jenem Manne waren ganz ungeheure okkulte Tiefen. Es war bedeutsam, was mit ihm besprochen werden konnte, wenn er, auf dem Rücken sein Bündel mit einer großen Anzahl von Pflanzen, die er gesammelt und getrocknet hatte, dann in die Hauptstadt fuhr, wohin der Knabe zu fahren hatte. Da gab es sehr wichtige Gespräche mit diesem Manne, den man in Österreich einen «Dürrkräutler» nennt, einen, der Kräuter sammelt und trocknet und sie dann in die Apotheken trägt. Das war der äußere Beruf des Mannes, der innere war freilich ein ganz anderer. Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass er alles in der Welt liebte und nur bitter wurde – das sei aber nur kulturhistorisch erwähnt –, wenn er auf klerikale Verhältnisse zu sprechen kam und auf das, was auch er durch die klerikalen Verhältnisse auszustehen hatte; dem war er nicht liebevoll geneigt.

Es folgte aber bald darauf noch etwas anderes. Mein Felix war gewissermaßen nur der Vorherverkünder einer anderen Persönlichkeit, die sich eines Mittels bediente, um in der Seele des Knaben, der ja in der spirituellen Welt darinnenstand, die regulären, systematischen Dinge anzuregen, mit denen man bekannt sein muss in der spirituellen Welt. Es bediente sich jene Persönlichkeit, die nun wieder so fremd wie möglich allem Klerikalismus gegenüberstand und damit selbstverständlich gar nichts zu tun hatte, eigentlich der Werke Fichtes, um gewisse Betrachtungen daran anzuknüpfen, aus denen sich Dinge ergaben, in welchen doch die Keime zu der «Geheimwissenschaft» gesucht werden könnten, die der Mann, der aus dem Knaben geworden ist, später schrieb. Und manches, aus dem die «Geheimwissenschaft» geworden ist, wurde damals in Anknüpfung an Fichtes Sätze erörtert.

Ebenso unansehnlich im äußeren Berufe war jener ausgezeichnete Mann wie Felix auch. Ein Buch war es, das er gleichsam als Anhaltspunkt benutzte, das wenig in der äußeren Welt bekannt geworden ist und das in Österreich oft wegen seiner antiklerikalen Richtung unterdrückt wurde, durch welches man sich aber zu ganz besonderen geistigen Wegen und geistigen Pfaden anregen lassen kann. Jene eigenartigen Strömungen, die durch die okkulte Welt gehen, die man nur erkennen kann, wenn man eine aufwärts- und eine abwärtsgehende Doppelströmung ins Auge fasst, traten damals lebendig vor des Knaben Seele. Es war in der Zeit, da der Knabe noch nicht den zweiten Teil des «Faust» gelesen hatte, als er auf diese Weise okkult eingeführt wurde. Es ist nicht nötig, über diesen Punkt der okkulten Schulung des jetzigen Jünglings, zu dem der Knabe herangewachsen war, weiter zu sprechen. Denn alles, was sich ihm darbot, blieb in der Seele des Jünglings; er erlebte es in sich selbst und schritt seinen äußeren Lebensweg weiter fort.

Zunächst war er angeregt worden durch die literarhistorischen Vorträge Karl Julius Schröers über «Die deutsche Literatur seit Goethes erstem Auftreten» zu dem, was Goethe gegeben hatte, besonders aber zu der «Farbenlehre» und zu dem zweiten Teil des «Faust», den er als achtzehn- bis neunzehnjähriger Jüngling studierte. Gleichzeitig studierte er die Herbartsche Philosophie, namentlich die «Metaphysik». Eine sonderbare Enttäuschung hatte der Jüngling erfahren, der ja schon mit viel Philosophischem bekannt geworden war, aber aus sich gewisse Gründen hatte, die Herbartsche Philosophie zu schätzen. Es hatte sich in ihm eine freudige Sehnsucht danach gebildet, einen der bedeutendsten Vortragenden für Herbartsche Philosophie kennenzulernen, nämlich Robert Zimmermann. Das war tatsächlich eine Enttäuschung, weil man in der Schätzung der Herbartschen Philosophie sehr herabgestimmt wurde, wenn man den sonst geistvollen, aber auf dem Katheder unerträglichen Robert Zimmermann hörte. Dagegen gab es eine Anregung, die dem Gemüt sehr zugute kam, von einem Manne, der dann auch später in das Leben der Persönlichkeit, von der hier die Rede ist, eintrat, von dem Geschichtsforscher Ottokar Lorenz. Der Jüngling hatte nämlich wenig Neigung, ganz pedantisch regelmäßig die Kollegs an der Technischen Hochschule zu hören, obwohl er alles mitgemacht hat. Er hatte auch in der Zwischenzeit als Hospitant an der Universität Vorlesungen gehört von Robert Zimmermann über «Praktische Philosophie» und auch die Vorträge über «Psychologie» von Franz Brentano, die damals – aber das lag weniger in der Natur der Sache – nicht einen so starken Eindruck auf den Jüngling gemacht haben wie später seine Bücher, und die der Mann, der aus dem Jüngling geworden ist, dann alle gründlich kennengelernt hat. Einen gewissen Eindruck machte Ottokar Lorenz durch seinen Freiheitssinn, denn er hielt damals – während der sogenannten «österreichischen liberalen Ära» – ganz freigeistige Vorträge. Und Ottokar Lorenz war schon der Charakter, der auf ganz junge Menschen Eindruck machen konnte. Er sprach im Kolleg wirklich die herbsten Worte, zog als Historiker mit vielen Belegen los über das, worüber loszuziehen war, war dabei ein ganz ehrlicher Mensch, der dann zum Beispiel, nachdem er etwas «brenzliche» Verhältnisse auseinandergesetzt hatte, sagen konnte: «ich musste ein bisschen schönfärben; denn, meine Herren, hätte ich alles gesagt, was darüber zu sagen ist, dann würde das nächste Mal der Staatsanwalt hier sitzen.»

Es war derselbe Ottokar Lorenz, von dem nach der Anekdote – soweit Anekdoten wahr sind: nämlich wahrer als wahr – folgendes erzählt wird. Ein Kollege von ihm, der besonders die geschichtlichen Hilfswissenschaften pflegte, hatte einen Lieblingsschüler, bei dem, als er zur Promotion kam, Lorenz mitprüfen musste. Da konnte zum Beispiel der Kandidat gleich gründlich Auskunft geben, in welchen päpstlichen Urkunden zum ersten Male der i-Punkt vorkommt. Und nachdem er so genau über alles Auskunft zu geben wusste, konnte sich Ottokar Lorenz nicht enthalten zu fragen: «ich möchte den Herrn Kandidaten auch etwas fragen. Können Sie mir sagen, wann jener Papst, in dessen Urkunden zuerst der i-Punkt vorkommt, geboren ist?» Das wusste der Kandidat nicht. Dann fragte er ihn weiter, ob er ihm sagen könne, wann jener Papst gestorben sei? Das wusste er auch nicht. Dann fragte er, was er denn sonst von diesem Papst wisse? Aber auch da konnte der Kandidat nichts sagen. Da meinte der Lehrer, dessen Lieblingsschüler der Betreffende war: «Aber Herr Kandidat, Sie sind ja heute so, als wenn Ihnen ein Brett vor den Kopf genagelt ist!» Da sagte Lorenz: «Nun, Herr Kollege, er ist ja Ihr Lieblingsschüler, wer hat ihm denn das Brett vor den Kopf genagelt?« Solche Dinge kamen schon vor.

Lorenz war der Liebling der Studentenschaft der Wiener Universität, und er war auch ein Jahr Rektor an der Wiener Universität. Es war nun dort gebräuchlich, dass jemand, der Rektor gewesen war, für das nächste Jahr dann Prorektor wurde. Nach ihm wurde nun ein ganz schwarzer Radikaler zum Rektor gewählt, der ungeheuer unbeliebt war. Dem machten die Studenten gern allerlei Katzenmusiken. Nun war Lorenz der heftigste Gegner jenes Klerikalen, der Vertreter des Kirchenrechtes war. Jener Rektor konnte schon gar nicht mehr in die Universität hineinkommen, denn sowie er sich dazu anschickte, ging es sofort mit dem Lärm los. Da musste dann der Prorektor kommen und Ordnung schaffen. Sobald Lorenz erschien, jubelte ihm die Studentenschaft zu. Jener Ottokar Lorenz aber stellte sich hin und sagte: «Euer Beifall lässt mich ganz kalt. Wenn ihr – wie wir zwei auch immer verschieden denken mögen – meinen Kollegen so behandelt, wie ihr es tut, und mir zujubelt, dann sage ich euch, dass ich, der ich an Gelehrsamkeit nicht würdig bin, meinem Gegner die Schuhriemen aufzulösen, mir nichts aus eurem Beifall mache und ihn ablehne!» – «Pereat! pereat!» ging es los, und aus war es mit seiner Beliebtheit. Lorenz ging dann nach Jena, und der, der hier spricht, traf noch öfter mit ihm zusammen. Jetzt ist er nicht mehr auf dem physischen Plan.

Er war eine ausgezeichnete Persönlichkeit. In allen Einzelheiten steht noch lebhaft vor meiner Seele, wie er einmal einen Vortrag gehalten hatte über die Beziehungen der Tätigkeit von Karl August zur übrigen deutschen Politik. Als im nächsten Jahr, wiederum bei der Versammlung der Goethe-Gesellschaft, Ottokar Lorenz dasaß und wir über diesen Vortrag sprachen, den er damals gehalten hatte, da fielen aus seiner tiefen Ehrlichkeit heraus die Worte: «Ja, was das betrifft – als ich damals über das Verhältnis Karl Augusts zur deutschen Politik sprach, da habe ich eben einen argen Bock geschossen!» So war er jederzeit bereit, sein Unrecht zuzugeben.

Außer mancherlei anderen Persönlichkeiten, die damals Eindruck machten auf den Jüngling, sei ein ausgezeichneter Mann erwähnt, der dann aber bald starb, bei dem der Jüngling an der Wiener Technischen Hochschule Kollegs hörte über «Geschichte der Physik». Es war Edmund Reitlinger, der auch mitgearbeitet hat an dem «Leben Keplers» und in ausgezeichneter Weise den Werdegang der Physik durch die Zeiten hindurch zur Darstellung bringen konnte.

Bedeutsame Anregungen gingen in mancherlei Beziehung von Karl Julius Schröer aus, der nicht nur durch die Vorträge wirkte, sondern auch dadurch, dass er die Einrichtung traf von «Übungen im mündlichen Vortrag und in schriftlicher Darstellung». Da mussten die Studenten vortragen, und da lernte man den ordentlichen Aufbau einer Rede. Dabei konnte man auch manches nachholen, was man früher nicht gelernt hatte in bezug auf Satzfügungen; kurz, man wurde gründlich unterwiesen im mündlichen Vortrage und in schriftlicher Darstellung. Und lebhaft kann ich zurückdenken an das, was damals der Jüngling, von dem hier gesprochen wird, vorgetragen hat. Der erste Vortrag war über die Bedeutung Lessings, besonders über den Laokoon; der zweite über !Kant und zwar vorzugsweise über das Problem der Freiheit. Dann hat er einen Vortrag gehalten über Herbart und besonders über die Ethik Herbarts; der vierte Vortrag, der damals probeweise gehalten wurde, handelte vom Pessimismus. Damals wurde nämlich durch einen Kommilitonen in diesem Kolleg über «mündlichen Vortrag und schriftliche Darstellung» eine Diskussion über Schopenhauer angeregt, und der Jüngling, von dem hier die Rede ist, sagte damals in der Debatte: «lch schätze Schopenhauer außerordentlich, aber wenn das richtig ist, was sich als Fazit der Schopenhauerschen Anschauung ergibt, dann möchte ich lieber der Holzpfosten sein, auf dem mein Fuß jetzt steht, als ein lebendes Wesen.» So war seine Seelenstimmung; der Jüngling wollte sich verteidigen gegenüber einem engagierten Schopenhauerianer. Dass er ihn jetzt nicht mehr abwehren würde, geht wohl schon daraus hervor, dass er selbst eine Schopenhauer-Ausgabe veröffentlicht hat, worin er den Ansichten Schopenhauers gerecht zu werden versuchte.

Nun gab es damals auch an der Wiener Technischen Hochschule einen Studentenverein, und der Jüngling, von dem hier gesprochen wird, bekam in diesem Studentenverein das Amt eines Kassierers. Aber er beschäftigte sich mit der Kasse nur zu gewissen Zeiten, mehr beschäftigte er sich mit der Bibliothek; und zwar erstens, weil ihn die Philosophie interessierte, dann aber auch, weil er die Sehnsucht hatte, mit dem geistigen Leben weiter bekannt zu werden. Diese Sehnsucht war sehr groß geworden, aber es fehlten die Mittel, um Bücher zu kaufen, denn Geld gab es wenig. So kam es denn, dass er nach einiger Zeit der selbstverständliche Bibliothekar jenes Studentenvereins wurde. Und wenn man dann Bücher brauchte, so schrieb er im Auftrag des Studentenvereins einen sogenannten «Pumpbrief» an den Autor irgendeines Werkes, das man gern haben wollte, in welchem man ihm mitteilte, dass sich die Studenten außerordentlich freuen würden, wenn der Autor sein Buch schicken wollte. Und diese Pumpbriefe wurden gewöhnlich in außerordentlich lieber Art dadurch beantwortet, dass die Bücher kamen. Dazumal kamen tatsächlich die bedeutendsten Bücher, die auf dem Gebiete der Philosophie geschrieben worden sind, auf diese Weise in den Studentenverein herein und wurden gelesen – wenigstens von dem, der die Pumpbriefe geschrieben hatte. Dadurch konnte sich der Betreffende damals nicht nur bekannt machen mit der «Erkenntnistheorie» von Johannes Volkelt und den Arbeiten von Richard Falckenberg, sondern auch mit den Werken von Helmholtz und mit geschichtssystematischen Werken. Es schickten viele ihre Bücher; sogar Kuno Fischer hat einmal einen Band seiner «Geschichte der neueren Philosophie» gestiftet. Dann waren auf diese Weise hereingekommen in die Bibliothek die sämtlichen Werke von Baron Hellenberg, der gleich alle seine Werke schickte, nachdem ihm ein Pumpbrief geschrieben worden war. So war reichlich Gelegenheit, sich mit philosophischen, kulturwissenschaftlichen und auch literarhistorischen Werken bekannt zu machen. Aber auch auf anderen Gebieten konnte man seinen Blick in genügender Weise vertiefen.

Dann aber kam durch den persönlichen und immer intimer werdenden Verkehr mit Karl Julius Schröer, der nicht nur ein Kenner, sondern auch ein tief bedeutsamer Kommentator Goethes war, dass sich der Jüngling zu interessieren anfing für die Ideen Goethes und besonders für dessen Ideen über die Naturwissenschaften. Es gelang Schröer, nachdem die mannigfaltigsten Anstrengungen gemacht worden waren, gewisse physikalisch gehaltene Aufsätze des Jünglings über die «Farbenlehre» unterzubringen.

Es trat dann weiter die Möglichkeit an ihn heran, mitzuarbeiten an der großen Goethe-Ausgabe, die damals als die Ausgabe der »Kürschnerschen Nationalliteratur« durch Joseph Kürschner veranstaltet wurde, und die Bearbeitung der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes zugewiesen zu erhalten, wie auch den Auftrag, die Einleitung dazu zu schreiben. Als der erste Band der «Naturwissenschaftlichen Schriften Goethes», mit Einleitungen von Rudolf Steiner. erschienen war, hatte er das Bedürfnis, aus den Fundamenten heraus die denkerischen Quellen darzustellen, aus denen doch die ganze Anschauung folgte, die hier zum Verständnis Goethes dargelegt worden war. Daher schrieb er zwischen dem Erscheinen des ersten und des zweiten Bandes die «Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung».

Von vorher, aus dem Beginn der achtziger Jahre, kommen nur in Betracht einige Aufsätze: Einer, der veröffentlicht worden ist unter dem Titel «Auf der Höhe», einer über Hermann Hettner, einer über Lessing und einer über «Parallelen zwischen Shakespeare und Goethe». Das sind im Grunde genommen alle Aufsätze, die damals geschrieben wurden.

Bald kam Rudolf Steiner in eine umfangreiche Schriftstellerei hinein dadurch, dass er Mitarbeiter wurde an «Kürschners deutscher Nationalliteratur» und die Herausgabe der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes mit den ausführlichen Einleitungen zu besorgen hatte.

Hervorgehoben darf dabei noch werden, dass, wie ihm früher der Studentenverein eine Art Rückhalt war, es jetzt der Wiener «Goethe-Verein» wurde, dessen zweiter Vorsitzender Karl Julius Schröer war. Es war auch weiterhin aneifernd für Rudolf Steiner, dass Schröer ihn einlud, nachdem die ersten Goethe-Bände erschienen waren, einen Vortrag zu halten vor einer solchen Versammlung, wie es die Mitglieder des Wiener «Goethe-Vereins» waren. Und da hielt Rudolf Steiner seinen Vortrag über «Goethe als Vater einer neuen Ästhetik».

Dazumal war der, dessen Lebensverhältnisse hier dargestellt werden sollen, nachdem er die Hochschulverhältnisse hinter sich hatte, Erzieher geworden. Er musste ja schon von seinem vierzehnten Jahre ab immer Privatstunden geben, musste andere Knaben unterrichten, musste diesen Unterricht auch später fortsetzen, um seinen Lebensunterhalt zu gewinnen, und hatte, während er die Hochschule absolvierte, recht viele Schüler. Man kann sagen: er war glücklich, dass er recht viele Schüler hatte, denen er Nachhilfe erteilte oder die er auch ganz erzog. Das ging parallel mit dem Hineinkommen in die Goethe-Gesellschaft.

Dann wurde er Erzieher in einem Wiener Hause. Mit Bezug auf dieses Haus muss wieder gesagt werden, dass hier etwas hereinschien, was von den modernsten Verhältnissen ausstrahlte. Denn der Herr dieses Hauses, dessen Knaben von Rudolf Steiner zu erziehen waren, war einer der angesehensten Vertreter des zwischen Europa und Amerika spielenden Baumwollhandels, der einen ja am tiefsten hineinführen kann in die modernen kommerziellen Probleme. Er war ein entschieden liberaler Mann. Und die beiden Frauen, zwei Schwestern – es lebten in diesem Hause gleichsam zwei Familien innig zusammen –, waren ganz hervorragende Frauen, die das allertiefste Verständnis hatten auf der einen Seite für Kindererziehung und auf der anderen Seite für jenen Idealismus, der zum Ausdruck kam in Rudolf Steiners «Einleitungen zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften» und in der «Erkenntnistheorie».

Nun wurde es möglich, sozusagen noch praktische Psychologie an der Erziehung einer Anzahl Knaben zu lernen. Praktische Psychologie auch dadurch, dass man in allen Fragen, welche die Erziehung betrafen, die Initiative entwickeln durfte, weil man einem so tiefen Verständnis gerade bei der Mutter dieser Knaben begegnen konnte. Das, was Rudolf Steiner da antrat, war ein Erzieheramt, das er durch Jahre hindurch zu führen hatte. Und zwar verlebte er diese Jahre so, dass er sich neben der Unterrichtstätigkeit, die er als Erzieher auszuüben hatte, auch beschäftigen konnte mit der Ausarbeitung seiner Schrift zur Einführung in Goethes naturwissenschaftliche Werke.

Bis zu dieser Zeit hatte also Rudolf Steiner eine Realschule hinter sich, hatte hinter sich die Zeit der Wiener Technischen Hochschule und lebte nun als Erzieher von Knaben, die selbst Realschüler waren, von denen nur der eine Gymnasiast war. Weil der eine das Gymnasium besuchte, war Rudolf Steiner jetzt in die Notwendigkeit versetzt, das Gymnasium nachzuholen. So dass er aus dieser Notwendigkeit heraus, nachdem er sein zwanzigstes, einundzwanzigstes Lebensjahr erreicht hatte, mit dem Buben das Gymnasium nachlernen konnte, und nur das hat ihn dann in den Stand gesetzt, sich später das Doktorat zu erwerben.

Es liegen also die Sachen so, dass Rudolf Steiner vor dem zwanzigsten Jahre mit nichts zu tun hatte als mit einer Realschule, die in Österreich nie eine Vorbereitung für den geistlichen Beruf gibt, sondern geradezu davon fernhält. Dann hat er durchgemacht eine technische Hochschule, die auch nicht zum geistlichen Beruf befähigt, denn da wurde Chemie, Physik, Zoologie, Botanik, Mechanik, was sich auf Maschinenbau bezieht, Geologie usw. getrieben, auch neuere Geometrie, so die «Geometrie der Lage». Dem ging parallel während der Hochschulzeit die Vertiefung in die verschiedensten philosophischen Werke, dann mit dem Intimerwerden mit Schröer das Herantreten an die Goethe-Ausgaben, und dann kam, was man «Berufliches» nennen kann: die Erziehertätigkeit, die – weil man psychologischen Blick entwickeln musste, da die Verhältnisse wegen Abnormität bei dem einen Knaben schwere waren «praktische Psychologie» sein konnte. Diese Zeit verlief also wirklich nicht, wie andere Leute wissen wollen, im Jesuitenstift zu Kalksburg – jetzt wird schon wieder ein anderer Ort genannt –, sondern die Zeit verlief in der Erziehertätigkeit in einem Wiener jüdischen Hause, wo der Betreffende ganz gewiss nicht die geringste Anleitung hatte, um eine jesuitische Tätigkeit zu entwickeln. Denn das Verständnis, das die beiden Frauen entwickelten an dem damaligen Idealismus oder an den Erziehungsmaximen für die Kinder, war gar nicht geeignet, den Jesuitismus nahekommen zu lassen.

Etwas nur war da, was sozusagen wie ein Schatten aus der Welt des Jesuitismus hereinschaute. Und das kam so. Es machte Schröer die Bekanntschaft der österreichischen Dichterin Marie Eugenie delle Grazie, die in dem Hause eines katholischen Priesters lebte, des Laurenz Müllner, der später dann zur philosophischen Fakultät überging. Und man braucht nur die Schriften von Marie Eugenie delle Grazie zu lesen und wird gleich sehen, dass Müllner keineswegs die Absicht hatte, sie unter jesuitischen Einfluss zu bringen. Aber man kam da auch mit allerlei Universitätsprofessoren zusammen. Darunter war einer, der grundgelehrt war in der Semitologie, den semitischen Sprachen, und der ein tiefer Kenner des Alten Testamentes war [Wilhelm Neumann]. Er war ein grundgelehrter Herr, von dem man sagte, dass er «die ganze Welt und noch drei Dörfer darüber» kenne. Aber die Gespräche, die ich mit ihm führte und die mir bedeutsam waren, das waren die, welche sich auf das Christentum bezogen. Was damals von diesem Gelehrten über das Christentum gesprochen wurde, bezog sich einmal auf die Frage der «Conceptio immaculata», der unbefleckten Empfängnis. Ich versuchte ihm zu beweisen, dass eine völlige Inkonsequenz in diesem Dogma vorhanden ist, bei dem es sich ja nicht nur handelt um die unbefleckte Empfängnis der Maria, sondern auch um die der Mutter der Maria, der heiligen Anna; da müsse man ja dann immer weiter hinaufgehen. Nun war er aber einer jener Theologen, dem der «Theologe» so gar nicht im Nacken saß, ein durchaus freisinniger Theologe, und er fügte hinzu: «Das können wir nun nicht tun; denn da kämen wir nach und nach beim Davidl an, und da würde die Sache schlimm werden.»

In diesem Tone bewegten sich überhaupt die Gespräche in dem Hause des Professors Müllner beim «Jour» von delle Grazie. Müllner war ein sarkastischer Geist, und auch die Professoren waren freisinnige Männer. Was von der anderen Seite hereinleuchtete, kam eigentlich nur von einem Mann, der etwas von jesuitischem Geist hatte, der nachher dann ein tragisches Ende genommen hat. Bei einem Schiffbruch in der Adria ertrank er. Dieser Mann war ein Kirchenhistoriker der Wiener Universität. Er sprach wenig, aber was er sprach, war nicht geeignet, das andere Element günstig zu vertreten. Denn es war über ihn das Gerücht im Umlauf, dass er des Abends, wenn es finster geworden war, aus Furcht nicht mehr auf die Straße gehe, weil dann die Freimaurer umgingen. Der konnte also nicht ein besonderes Interesse für den Jesuitismus erwecken, einmal, weil er kein guter Kirchenhistoriker war, und dann auch wegen solchen Geredes. Vor der Dämmerung verschwand er auch tatsächlich immer.

Es bot sich damals auch Gelegenheit, etwas gründlicher in die österreichischen politischen Verhältnisse hineinzukommen, und dies geschah dadurch, dass die von Heinrich Friedjung begründete «Deutsche Wochenschrift» von mir redigiert werden konnte. Diese vertrat einen entschieden liberalen Standpunkt in bezug auf die österreichischen Verhältnisse, den jeder studieren kann, wenn er sich bekannt macht mit dem, was bei Friedjung vorhanden war. Diese Zeit brachte Rudolf Steiner auch mit den übrigen politischen Verhältnissen und Persönlichkeiten in Berührung. Jene redaktionelle Tätigkeit fiel zwar sehr kurz aus, aber sie fiel in eine sehr wichtige Zeit: nachdem der Battenberger aus Bulgarien vertrieben war und der neue Fürst von Bulgarien sein Amt angetreten hatte. Damit war die Signatur dafür gegeben, wie man sich ein zutreffendes Bild von den kulturpolitischen Verhältnissen zu machen hatte.

Nun erschien in jener Zeit ein Werk, das ganz bedeutsam ist, wenn es auch von manchen für einseitig gehalten werden mag, nämlich der «Homunkulus» von Robert Hamerling. Besonders bedeutsam für den, dessen Lebensverhältnisse hier geschildert werden sollen, war der «Homunculus» noch deshalb, weil Rudolf Steiner schon früher mit Hamerling bekannt geworden war. Denn obwohl Rudolf Steiner in Kraljevec geboren wurde, stammte seine Familie doch aus Niederösterreich und zwar aus dem sogenannten «Bandlkramerlandl», wo man die Leute mit dem Bündel auf dem Rücken die dort verfertigten Binder herumtragen sieht. Dorther stammte die Familie. Und wie es so ist, werden die Familien in solchen Berufsverhältnissen überallhin verschlagen, und der Knabe kam nie zurück nach Niederösterreich. Aber er war doch in einer gewissen Beziehung dadurch herstammend aus demselben «Bandlkramerlandl», woher auch Hamerling stammt.

Man hat ja Hamerling nicht besonderes Verständnis entgegengebracht. Aber bei ihm könnte man sagen, dass er, wenn auch nicht eine jesuitische, so doch eine Klostererziehung genossen hat. Nicht aber ist das der Fall bei dem, der hier vor Ihnen steht. Anerkannt hat man ja Robert Hamerling auch nicht, denn als er später einmal seine Heimat wieder besuchte und in dem dortigen Gasthof zu dem Wirt sagte, er sei Hamerling, da hat ihm dieser entgegnet: «Nun Sie ... Sie Hamerling, Sie Schwammerling ...»

Es war Veranlassung genommen worden, die «Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung» an Hamerling zu senden. Wie sie Hamerling aufgenommen hat, das kann einem Urteil entnommen werden aus der «Atomistik des Willens», wo sie gerade in einem wichtigsten Kapitel – in dem Kapitel über die Natur der mathematischen Urteile – in einer, wie mir auch heute erscheint, völlig originellen Weise verwendet worden ist. Es fand – wenn auch nicht besonders lange – doch ein Briefwechsel mit Robert Hamerling statt, der für Rudolf Steiner in gewisser Beziehung wichtig war, weil er nach einem Briefe, den er an Hamerling geschrieben hatte, von diesem feinen Stilisten gesagt bekam, dass er einen außerordentlich sympathischen, schönen Stil schreibe, dass er ein gewisses Talent habe, mit Kraft das darzustellen, was er darstellen wolle. Das war außerordentlich wichtig für Rudolf Steiner, weil er sich doch in diesen Jahren noch nicht viel zutraute, sich jetzt aber in bezug auf diese Frage des Stils in der Darstellung durch Robert Hamerling mehr zutraute als vorher. Es musste ja notwendigerweise vorher erwähnt werden, dass der Knabe bis zum dreizehnten, vierzehnten Jahre grammatikalisch und orthographisch recht wenig richtig hat schreiben können und dass ihm nur der Inhalt seiner Aufsätze über die Fehler in der Grammatik und Orthographie hinweggeholfen hat.

Als nun die Goethe-Ausgabe [Kürschner] sich ihrem Abschluss nahte und als Rudolf Steiner im Unterricht mit seinen zu erziehenden Buben die humanistisch-antike Kultur nachholend sich angeeignet hatte, kam die Zeit, wo er promovieren konnte. Er hatte auch noch einen wirklich künstlerisch-architektonischen Blick gewinnen können durch den Umstand, dass damals in Wien die großen Architekten lebten, mit denen er auch dadurch Beziehungen hatte, dass er an der Wiener Hochschule mit ihnen persönlich bekannt wurde. Es sei nur erwähnt, dass damals in Wien die Votivkirche, das Rathaus, das Parlamentsgebäude und anderes gebaut wurde. Dadurch konnte man vieles in sich anregen von Zusammenhängen mit der Kunst. In jenen Zeiten gab es auch – worauf auch hingewiesen werden darf – heftige Debatten mit den enragierten Wagner-Anhängern, denn der, von dem hier die Rede ist, konnte und musste sich nur mit aller Mühe durchringen zur Anerkennung Richard Wagners, zu einer Anerkennung, die ja von anderen Darstellungen her bekannt ist.

Es spielt auch in jene Zeit noch hinein die Bekanntschaft mit einer geistigen Strömung, die eigentlich, trotzdem sie schon früher begonnen hat, in Europa doch damals erst auftauchte. Es ist die Bekanntschaft mit dem, was H.P. Blavatsky als theosophische Richtung verbreitet hat. Und der, von dem hier die Rede ist, darf darauf hinweisen, dass er wohl einer der ersten Käufer des «Esoterischen Buddhismus» von A.P. Sinnet wie auch des Buches von Mabel Collins «Licht auf den Weg» war. Einer bekannten Dame, die damals sehr schwer krank war, brachte er dieses Buch gleich nach seinem Erscheinen ans Krankenbett und gab ihr mancherlei Anleitung, um dieses Buch von ihrem Standpunkte aus zu verstehen. Auch einem Manne brachte er es, der von ihm für das österreichische Offiziersexamen in Integralrechnung und Mathematik vorbereitet werden musste. Er wohnte im Hause der Familie, wo die sehr schwerkranke Dame war.

Damals traten mir auch die Wiener Vertreter der theosophischen Bewegung nahe. Mit allem, was sich in dieser Zeit um den vor kurzem verstorbenen Franz Hartmann gruppierte, und auch mit anderen Theosophen kam der, von dem hier die Rede ist, in einen recht freundschaftlichen und intimen Verkehr. Das war in den Jahren 1884-1885, als die theosophische Bewegung überhaupt erst anfing, bekannt zu werden. Nur war es dazumal dem, von dem hier gesprochen wird, nicht möglich, sich dieser Bewegung anzuschließen, trotzdem er sie sehr genau kannte, weil das ganze Gebaren und das ganze Gehabe der Leute, das gewissermaßen Unechte – das soll hier nur als Terminus technicus gebraucht werden – doch nicht vereinbar war mit dem, was sich doch schließlich bei dem hier Geschilderten herausgebildet hatte an einer im Sinnenleben verankerten wissenschaftlichen Exaktheit, Genauigkeit und Echtheit. Das soll nicht ein Selbstlob sein, sondern ich will es mehr dem zuschreiben, was sich als Resultat aus der Gelehrsamkeit unserer Zeit ergibt. Was man auch sonst gegen diese Gelehrsamkeit einzuwenden hat, das kann nicht eingewendet werden, dass nicht die größte, geschärfteste Logik gerade aus ihr hervorkommen könnte.

So kam es, dass der, von dem hier die Rede ist, persönlich wertvolle Menschen innerhalb des theosophischen Kreises kennenlernte, so zum Beispiel Rosa Mayreder, die sich später ganz abwendete von der theosophischen Richtung. Er lernte dort auch äußerlich historisch die ganze Richtung genau kennen, aber er konnte nichts damit zu tun haben und kam erst dazu, praktisch sozusagen, das, was er zu sagen hatte, auch theosophisch anzuwenden, als er veranlasst war, sich zu vertiefen in Goethes «Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie». Um dieses Märchen zu kommentieren, betätigte er sich zuerst praktisch mit dem, was seit der erwähnten ersten okkulten Erscheinung immer in seiner Seele gelebt hatte. Das war im Jahre 1888, nachdem er vorher gründlich die theosophische Bewegung kennengelernt hatte, aber sich ihr äußerlich nicht hatte anschließen können, obgleich er wertvolle Menschen dort kennengelernt hatte.

Eines tiefen Eindruckes soll noch gedacht werden, eines Eindruckes bei einer Kunstausstellung in Wien, wo im Jahre 1888 von dem, dessen Leben hier dargestellt wird, zum ersten Male Werke von Böcklin gesehen wurden, nämlich «Pietà», «lm Spiel der Wellen», «Frühlingsstimmung» und die «Quellnymphe». Das waren Werke, die ihm einen Anlass gaben, sich dann auch bleibend mit den Ideen über Malerei zu beschäftigen, weil er selbstverständlich der Sache auf den Grund kommen wollte – ähnlich wie es auch mit Richard Wagner war, wo der Ausgangspunkt die erwähnten Debatten waren –, um sich dann auch auf dieses Gebiet der Kunst ganz besonders einzulassen, was in Weimar später seinen Fortgang fand.

Nachdem der zu Schildernde so weit war, ergab sich, dass an einzelne Gelehrte die Mitarbeiterschaft an der großen Weimarschen Goethe-Ausgabe verteilt wurde. Bei denjenigen, die dazumal im Auftrage der Großherzogin Sophie von Weimar die einzelnen Arbeiten zu verteilen hatten, stellte sich die Idee heraus, ihm zuerst bloß die Goethesche Farbenlehre zu übertragen. Später aber, als Rudolf Steiner nach Weimar kam, um dort die «Farbenlehre» zu bearbeiten, wurde ihm dann auch – besonders dadurch, dass er in ein herzliches und inniges Verhältnis zu dem so tragisch geendeten Bernhard Suphan kam – gerade die Ausarbeitung der naturwissenschaftlichen Werke Goethes übergeben. So begann jene Weimarsche Zeit, in der von dem Darzustellenden eine naturwissenschaftlich-philologische Tätigkeit entwickelt worden ist. Auf die eigentliche philologische Tätigkeit ist aber der Betreffende nie besonders stolz gewesen, er könnte selbst viele Fehler in dieser Beziehung nachweisen und will manches, was ihm als Schnitzer passiert ist, nicht beschönigen.

Nachdem nun Rudolf Steiner in das alte Goethe-Schiller-Archiv eingezogen war – es war noch im Schloss untergebracht –, machte er andere, wichtige Erfahrungen. Es kamen immer wieder in- und ausländische Gelehrte, auch von Amerika herüber, so dass dieses Goethe-Schiller-Archiv ein Sammelpunkt für die  mannigfaltigste Gelehrsamkeit wurde. Weiter war die Möglichkeit gegeben, das Entstehen einer wunderbar idealen Anstalt zu sehen; denn es war die Zeit, wo das neue Goethe-Schiller-Archiv jenseits der Ilm gebaut wurde. Zugleich war einzigartige Gelegenheit da, sich einzuleben in alte Erinnerungen, die sich noch an die Goethe-Schiller-Zeit knüpften. Und es war auch, weil Weimar wirklich der Sammelpunkt von mancherlei künstlerischen Interessen war – auch Richard Strauß nahm dort seinen Anfang –, Gelegenheit, mit den verschiedensten künstlerischen Interessen ganz zusammenzuwachsen.

Nachdem das «Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie» durch Rudolf Steiner interpretiert war, trat intensive Arbeit an Goethe stark in den Vordergrund des Interesses. Doch neben der Vertiefung in Goethe arbeitete er damals auch die «Philosophie der Freiheit» aus; die Abhandlung über «Wahrheit und Wissenschaft» brachte er bereits nach Weimar mit. Einige Male fuhr er noch nach Wien, einmal, um dort im Goethe-Verein einen Vortrag zu halten über das «Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie»; ein zweites Mal, um in einem wissenschaftlichen Klub einen Vortrag zu halten über die Beziehungen des Monismus zu einer spirituelleren, realeren Richtung. Das war 1893. Das Referat ist zu lesen in den «Monatsblättern des Wissenschaftlichen Clubs in Wien». Rudolf Steiner behandelte in diesem Vortrag in einer ausführlichen Weise das Verhältnis der Philosophie zur Naturwissenschaft. Der Vortrag klang dann aus in eine deutliche Schilderung seines Verhältnisses zu Ernst Haeckel und hob alles hervor, was Steiner Ablehnendes über Haeckel zu sagen hatte.

Es ist nun die Zeit schon weit vorgerückt, so dass es nicht möglich ist, über das Folgende ebenso ausführlich zu sprechen wie über das Vorangegangene. Es ist das auch nicht nötig. Aber Sie könnten, wenn Sie noch viel mehr durchforschen, was sich bis zur Weimarer Zeit zugetragen hat, und den Verhältnissen nachgehen würden – abgesehen davon, dass die Dinge genugsam für sich sprechen –, überall die deutlichsten Beweise dafür finden, was es für eine tolle Verkehrung der Wahrheit ist, wenn jene sonderbare Beschuldigung erhoben worden ist, die jetzt auch wieder von der Präsidentin der Theosophischen Gesellschaft bei einem besonderen Anlass vorgebracht worden ist, ich sei «von den Jesuiten erzogen» worden. Es wurde mir eben ein Heft der «Stimmen aus Maria-Laach» überreicht, die bekanntlich von Jesuiten herausgegeben werden, worin sich die Besprechung eines Buches findet, das über Theosophie handelt, und die einen merkwürdigen Satz enthält. Es ist nämlich ein Buch erschienen, das sich gegen Theosophie wendet, von einem jesuitischen Pater verfasst. Am Ende der Besprechung heißt es: «Der erste Teil beschäftigt sich mit der Bewegung im allgemeinen, ihrem Esoterismus und falschen Mystizismus. Der zweite Teil geht ins einzelne, widerlegt die theosophischen Träumereien über Christus. ... Die Werke, auf die sich der Kritiker zumeist bezieht, sind Rudolf Steiners, des (dem Vernehmen nach) abgefallenen Priesters und jetzigen Generalsekretärs der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft, ‹Christentum als mystische Tatsache› und Mrs. Besants, der Präsidentin der Theosophischen Gesellschaft (Hauptquartier Adyar), ‹Esoterisches Christentum›; beide Bücher sind bereits ins Italienische übersetzt».

Dass Rudolf Steiner ein «abgefallener Priester» sei, das steht also sogar in der jesuitischen Zeitschrift selbst, in den «Stimmen aus Maria-Laach», so dass die Jesuiten die Ehre der Verbreitung dieser Behauptung für sich selbst in Anspruch nehmen können. Wie aber Alter nicht vor Torheit schützt, so schützt auch der Jesuitismus niemanden davor, eine objektive Unwahrheit ungerechterweise zur Behauptung zu erheben. Und wenn eine solche Verdrehung der Tatsachen sogar von den Jesuiten selbst verbreitet wird, so sollte das für Mrs. Besant erst recht ein Grund sein – könnte man meinen –, um demgegenüber misstrauisch zu sein. Aber Mrs. Besant führt diese Dinge noch weiter aus, und sie werden weitergetragen. Ich musste sogar einmal, als ich in Graz war, vom Podium aus diesen Dingen selbst entgegentreten. Es wird ja auch behauptet, ich hätte in Kalksburg, in der Nähe von Wien, eine jesuitische Erziehung erhalten. Das Stift Kalksburg habe ich niemals gesehen, trotzdem meine Angehörigen nur drei bis vier Stunden davon entfernt waren. Und den anderen Ort – Bojkowitz –, der in gleichem Zusammenhang genannt wird, habe ich überhaupt erst in diesen Tagen dem Namen nach kennengelernt.

Alle diese Einzelheiten, die Ihnen zu erzählen ich als eine Art Zumutung betrachte, werden Ihnen wohl die Erklärung dafür geben, wie recht man hat, wenn man die Zeit bedauert, die man auf Zurückweisung solcher törichter Vorwürfe zu verschwenden hat. Daher wurde auch nicht viel Aufhebens gemacht mit dem Vorwurf. Wenn aber dieser Vorwurf jetzt erhoben wird von seiten der Präsidentin der Theosophischen Gesellschaft, so liegt doch die Notwendigkeit vor, gegenüber jener Behauptung den tatsächlichen Verlauf meiner Jugenderziehung ins Feld zu führen, zu schildern, wie sie wirklich verlaufen ist, nämlich als eine Art von Selbsterziehung.

Alles, was ich Ihnen erzählt habe – von dem Knaben, von dem Jüngling und von dem späteren Mann Rudolf Steiner –, kann dokumentarisch belegt werden, und die Tatsachen werden in jeder Einzelheit das ganz Törichte und Unsinnige jener aufgestellten Behauptungen erweisen. Über ihre moralische Bewertung brauchen wir uns nicht zu ergehen. Was gesagt ist und was über das Spätere noch gesagt werden kann, das sind Tatsachen, das kann jederzeit nachgeprüft werden, dafür kann eingetreten werden. Aber die Frage kann erhoben werden: Mit welchem Recht und von welchen Quellen aus spricht Mrs. Besant von dem, was sie über meine «Jugenderziehung» sagt, von der ich mich «genügend frei zu machen nicht fähig gewesen sei»? Und mit welchem Recht und von welchen Quellen aus werden ihre Anhänger vielleicht – da sie sich um die Einwände, die hier gemacht werden, nicht kümmern – diese Dinge weiter behaupten? Vielleicht werden sogar einige Menschen darauf kommen, zu sagen: Aber Mrs. Besant ist hellsichtig und hat daher vielleicht alles gesehen, was sie in die grandiosen Worte zusammenfasst: «Er hat sich von seiner Jugenderziehung nicht genügend frei zu machen vermocht.» –

Da wäre es wohl besser, das einmal zu korrigieren, was von Mrs. Besants Hellsehertum stammt, und dieses Hellsehertum gerade an einem solchen Faktor zu prüfen. Es gibt keinen anderen Weg, um gegen jenes «Hellsehertum» aufzutreten, als die Tatsachen anzuführen. Und ich musste diejenigen, die zu uns stehen wollen am Ausgangspunkt unserer anthroposophischen Bewegung, schon einmal an diesem Ausgangspunkt damit langweilen, dass ich sie vor die Alternative stellte: entweder die Tatsachen sich anzusehen, die alle im einzelnen belegt werden können und denen nachgegangen werden kann, oder die nicht weiter zu charakterisierenden Bemerkungen hinzunehmen, die Mrs. Besant bei der letzten Adyar-Versammlung der Theosophischen Gesellschaft – wahrscheinlich nach den Stimmen ihrer Anhänger aus ihrem Hellsehertum heraus – gemacht hat.