Monismus und Theosophie

Vortrag Rudolf Steiners im Giordano Bruno-Bund

Berlin, 8. Oktober 1902. Referat, erschienen in der Zeitschrift »Der Freidenker«, dem Organ des Giordano Bruno-Bundes

Herr Dr. Steiner betont zunächst, daß ein im gewöhnlichen Sinne lebenskluger Mann bei dem gegenwärtigen deutschen Geistesleben öffentlich nicht über ein solches Thema sprechen werde, weil kaum ein anderes geeigneter sei, sich stark zu kompromittieren, und fährt dann fort: »Theosophie ist ein Name, der oft von Leuten in Anspruch genommen wird, die in spiritistischen Zirkeln ihr Schicksal erkunden wollen. Und trotzdem sogar der Geruch des Schwindelhaften daran haftet, spreche ich über das Thema in seiner Verbindung mit dem deutschen Geistesleben mit vollem Bewußtsein. Viel lieber war ich in meinem chemischen Laboratorium als in irgendeinem spiritistischen Zirkel, und ich weiß, daß man sich in solchen geradezu die Hände beschmutzen kann, aber ich habe mir auch die Hände gewaschen und hoffe, daß es mir gelingen wird, das Wort Theosophie für eine ernste Weltanschauung Ihnen nahezubringen.

Klar muß es ausgesprochen werden, daß nur auf Grund der modernen Naturwissenschaft eine ernste Weltanschauung gesucht werden kann, ich werde niemals von dem Gedanken abweichen, daß nur in ihr ein Heil gegeben ist. Die Naturwissenschaft erfüllt die Köpfe und Herzen aber noch immer auch mit ihrer materialistischen Weltanschauung, und wenn auch einzelne Schwärmer behaupten, wir seien längst über das Zeitalter der Büchner und so weiter hinaus, wenn wir keine ideale Weltanschauung auf Grund der Naturwissenschaft konstruieren können, so wird sich der Materialismus der fünfziger Jahre noch weiter die Welt erobern. So gut wie alle Naturforscher der Gegenwart sind Materialisten, auch da, wo sie es ablehnen.

Die Naturwissenschaft hat uns gezeigt, wie allmählich die Wesen entstanden und sich vervollkommneten, bis der Mensch auftrat. Aber hier, nach Haeckel im 22. Gliede seiner organischen Ahnenreihe, machte sie halt. David Friedrich Strauß hat es gepriesen, daß die Naturwissenschaft uns vom Wunder erlöst hat, vom Wunder in dem Sinne, in dem noch Linne im 18. Jahrhundert sagte: ›So viel Arten der Tiere und Pflanzen vom Schöpfer nebeneinander ursprünglich geschaffen sind, soviel Wunder gibt es.‹

Die Naturwissenschaft hat durch das Zauberwort ›Entwicklung‹ diese Wunder aufgelöst, dieses Zauberwort hat das räumliche Nebeneinander in ein übersichtlich gewordenes zeitliches Nacheinander verwandelt, aber das Wunder, das der Mensch sich selbst ist, hat sie bisher nicht auflösen können. Wir müssen versuchen, die Methode der Naturwissenschaft auch auf das Nebeneinander anwenden zu können, das wir im Hottentotten und im Genie vor uns sehen; wir müssen gewissermaßen die geistige Urzelle entdecken, welche beide verbindet. Aber die hierzu erforderliche Methode der Naturwissenschaft wird wieder eine andere sein, wie die Naturwissenschaft stets ihre Methoden nach ihren Zwecken modeln mußte. Der Geologe durfte nicht nur Mineralien sammeln, um die Geschichte der Erde verstehen zu lernen, Haeckel hatte sein biogenetisches Grundgesetz nicht gefunden, wenn er seine Tierleiber im Laboratorium mit chemischen Reagenzien behandelt hätte, ebensowenig wird die chemische Untersuchung des Gehirns dem Seelenforscher Aufschlüsse über das Seelenleben geben.

Aber trotz der ungeheuren Fortschritte der Naturwissenschaft war sie bisher nicht imstande, diese Methode zu entdecken, und dadurch ist eine so tiefe Kluft zwischen Naturwissenschaft und religiösem Gefühl entstanden, wie sie niemals größer war. Anders in den alten Kulturen und deren Theologien. Da gibt es diesen Zwiespalt nicht, Theologie ist nichts anderes als der Ausdruck des jeweiligen wissenschaftlichen Denkens. Was man als Weltanschauung darbot, das war so hehr und groß und göttlich, daß es in Empfindung umgesetzte Religion war. Heute stehen wir aber vor der Tatsache, daß Theologie und Wissenschaft zwei völlig getrennte Dinge sind, und in diesem Sinne sagt Adolf Harnack, man fühle sich wie erlöst in dem Gedanken, daß die Wissenschaft niemals imstande sein werde, die religiösen Bedürfnisse zu erfüllen. Und auf der anderen Seite sagt für die Naturwissenschaft zum Beispiel der Engländer Ingersoll: ›Wir sind soweit, daß für uns die Äußerungen des Geistes nur eine naturwissenschaftliche Tatsache sind, unsere Gedanken sind nichts anderes als eine Umsetzung der Nahrung, die wir in unserem Organismus aufnehmen, die Schöpfung des Hamlet ist nichts anderes als der umgewandelte Nahrungsstoff, den Shakespeare zu sich nahm.‹

Wie können wir da wieder den Einklang herstellen, der für die alten Religionen, ja selbst noch für das frühe Mittelalter bestand? Mit dem heiligen Augustinus trat dieser Zwiespalt allmählich ein, der in dem Gegensatz von Scholastik und Galilei und so weiter zu den beiden großen dualistischen Strömungen führte. Die Wissenschaft war wie ein Sohn, der aus der Fremde heimkehrt und vom Vater nicht mehr verstanden werden kann, und der Protestantismus ist nichts anderes als die Erklärung des Vaters, daß er den Sohn enterben will, und der Kantianismus ist der Abschluß, die letzte Phase dieses Prozesses!

Den ersten großen Versuch, diesen Zwiespalt zu überwinden, machten die deutschen idealistischen Philosophen Fichte, Schelling und Hegel. Drei Jahre nach dem Tode Hegels erschien von dem Sohne Fichtes ein Buch von der menschlichen Selbsterkenntnis. Es handelt von dieser als einer Aufgabe, die die Naturwissenschaft selbst gestellt hat. L H. Fichte sagt etwa: Betrachten wir die Naturwesen, so sehen wir ihre ewigen Gesetze. Wenn wir aber die menschliche Seele selbst als einen Naturprozeß ansehen, so stehen wir vor einem Erkenntnisumschwung. Die Gesetze der Natur liegen außerhalb unserer Persönlichkeit in der Naturgrundlage, aus der wir hervorgegangen sind, aber in unserer Seele sehen wir nicht fertige Naturgesetze, sondern wir sind selbst Naturgesetz. Da wird die Natur unsere eigene Tat, da sind wir Entwicklung. Da erkennen wir nicht bloß, da leben wir. Wir haben jetzt die Aufgabe, ewige eherne Gesetze zu schaffen, nicht mehr, sie bloß zu erkennen. I. H. Fichte deutet dann an: in diesem Punkte lebt der Mensch nicht nur in seiner Naturerkenntnis, in diesem Punkte verwirklicht er und lebt er das Göttliche, das Schöpferische, an diesem Punkte geht die Philosophie in die Theosophie über!

Hier tritt uns der Begriff Theosophie im deutschen Geistesleben entgegen. Wir sehen jetzt vielleicht schon eher, daß Theosophie nichts anderes ist als letzte Anforderung eines wahren Monismus zwischen Naturerkenntnis und Selbsterkenntnis. Das gibt uns eine Perspektive, die Gegensätze zwischen Religion und Wissenschaft auszugleichen. Wir wissen jetzt: es gibt keine andere göttliche Kraft, welche den Wurm zum Menschen hinaufbefördert, wir wissen, daß wir selbst diese ›göttliche Kraft‹ sind.

Man wird fragen: Was hat aber denn eine solche Erkenntnis überhaupt für einen Zweck? Nun, so entgegne ich, was hat das, was man gewöhnlich Erkenntnis nennt, das einfache Registrieren der Tatsachen für eine Bedeutung? Mit ihr begnügen sich die, die ich kosmische Eckensteher nennen möchte.

Wer in dieser Weise den Begriff Theosophie faßt, der wird auch Feuerbach verstehen, der da sagt, der Mensch hat Gott nach seinem Bilde geschaffen. Wir wollen es durchaus zugeben, daß der Gottesbegriff aus dem Menschenherzen geboren ist, und Gott als Symbol eines inneren Ideals den Menschen über den Menschen hinaus entwickeln kann.

So werden wir wiederum eine Gottesweisheit gewinnen, welche die Göttlichkeit der Natur aussprechen wird. Wir leben heute wiederum in einer Zeit, die ein wichtiger Knotenpunkt in der geistigen Entwickelung Europas werden kann, wie es der war, in dem Kopernikus, Giordano Bruno und Galilei lebten und die moderne Naturwissenschaft begründeten. Aber diese hat es nicht verstanden, ihre Versöhnung zu feiern mit der Religion. Vor dieser Aufgabe stehen wir, wir müssen sie erfüllen. Mögen diese Versuche noch so mangelhaft sein, aber wir haben Strömungen im modernen Geistesleben, welche darauf hinausgehen. Religionen werden als solche zwar nicht gegründet, religiöse Genies in dem Sinne, wie es wissenschaftliche und künstlerische Genies gibt, gibt es daher nicht, wohl aber solche Persönlichkeiten, welche den Erkenntnisinhalt ihrer Zeit als religiöses Empfinden aussprechen. Ich kenne die großen Mängel und Fehler der theosophischen Bewegung durchaus. Duboc hat die Theosophie eine weibliche Philosophie genannt. Das können wir ändern, indem wir sie im kritischen Deutschland zu einer männlichen machen.

Ich weiß, daß es kein Heil außerhalb der Naturwissenschaft geben kann, aber wir müssen neue Methoden der Seelenforschung auf naturwissenschaftlicher Grundlage finden, um das zu können, was alle alten religiösen Anschauungen vermochten: eine große Einheit zwischen religiösem Bedürfnis und Wissenschaft herzustellen. Theosophie in dem von mir gekennzeichneten Sinne hat an sich nichts zu tun mit den oft damit zusammengeworfenen Berichten über Tatsachen des Hypnotismus und Somnambulismus; ja, man könnte diese ablehnen und doch ein Theosoph sein, aber diese Erscheinungen des abnormen Seelenlebens sind durchaus nicht abzulehnen, und in der besonders von französischen und englischen Gelehrten unternommenen naturwissenschaftlichen Auslegung dieser Tatsachen sehe ich die ersten tastenden Versuche einer wirklichen Seelenforschung.«

Herr Dr. Steiner schloß seinen programmatischen Vortrag mit dem Hinweis auf ein Bild des Belgiers Wiertz »Der Mensch der Zukunft«. Es stellt einen Riesen dar, der Kanonen und die sonstigen Attribute der Kultur unserer Zeit in der Hand hält und sie lächelnd seinem Weibe und seinen Kindern zeigt; sie sind vor seiner Größe pygmäenhaft zusammengeschrumpft. Es wird unsere Aufgabe sein, daß wir vor dem Zukunftsmenschen nicht so pygmäenhaft erscheinen.