»Sehen wir über die Schwächen der andern hinweg« | August 1904

Rudolf Steiner an Doris und Franz Paulus in Stuttgart

Berlin, 11. August 1904

Sie haben mir, liebe Frau Doktor, einen schönen poetischen Ausdruck Ihrer Stimmung geschickt. Er ist mir sehr wertvoll. Er ist ja so voll von den in den Tiefen Ihres Wesens auferstehenden mystischen Gewalten, dass ich nur bewahrheitet finden muss, was ich vom Anfang unserer Bekanntschaft an Ihnen sah: Sie haben große Kräfte, gnädige Frau, und Sie vermögen viel. Und in gar nicht zu ferner Zeit wird sich Ihnen Ihre innere Fülle – zum Heil der Menschheit – auf eine Ihnen überraschende Weise offenbaren. Sie sind so lieb, mich in Ihrem Briefe ›Führer‹ zu nennen. Ich kann und darf nur so weit führen, als der erhabene Meister, der mich selbst führt, mir die Anleitung gibt. Ich folge ihm mit vollem Bewusstsein bei allem, was ich Anderen sage. Und wenn Sie das anerkennen, so bitte folgen Sie mir in Einem, vielmehr folgen Sie ihm: in Geduld. Die rechte Stimmung ist die Geduld. Ich sage das nicht, weil ich ausdrücken will, dass Sie, verehrte Frau, diese Geduld nicht hätten, sondern weil wir uns immer wieder und wieder diese Geduldsstimmung vorhalten müssen.

Sie sagen, in einem früheren Briefe, dass Sie nicht ausdrücken können, was Sie bewegt. Ich kann Ihnen nur die Versicherung geben: das Ihnen ganz entsprechende Ausdrucksvermögen wird kommen. Aber nochmals: Geduld. Die Stimmung des Wartens beschleunigt unsere Schritte.

Sie meinen, wenn man in der Meditation die Worte, die eigentlich selbstverständlich sind, wiederhole, so sei das doch zwecklos. Das aber ist nicht der Fall. Käme es auf das Wissen an, dann wäre es zwecklos. Aber es kommt eben darauf an, dass man wieder und immer wieder durch sich selbst erlebt, was man sein soll, und was man selbsttätig aus sich machen soll. Sie finden darüber Näheres in den Zusätzen, die ich Ihnen zur «Stimme der Stille» versprochen habe und Ihnen heute beilege.

Sehen Sie, verehrteste gnädige Frau, die innere Kraft wird nicht dadurch gesammelt, dass wir den Zwang hassen. Sondern dadurch, dass wir uns freiwillig, allerdings ganz freiwillig einen Zwang auferlegen. Bitte fassen Sie solche Formelvorlagen, wie ich sie Ihnen in Stuttgart gegeben habe, nicht anders auf denn als Rat, und nur als Rat. Aber es ist ein Rat, der auf der Erfahrung der Okkultisten vieler langer Zeiträume beruht.

Deshalb möchte ich Sie, verehrteste Frau Doktor und auch Sie, lieber Herr Doktor, bitten, in der Meditation so fortzufahren, wie Sie begonnen haben. Die angeführte Formel müsste noch lange kurz, aber allerdings kurz jeden Morgen durch Ihre Seele ziehen. Ich meine, Sie halten vielleicht zu lange gerade auf dieser Formel. Das ist nicht notwendig. Aber bedenken Sie doch, dass auch Adepten jeden Morgen sich, wenn auch blitzschnell, diese Formel durch die Seele ziehen lassen als eine fortwährende Selbstmahnung, dass das Leben nie abgeschlossen sein darf, sondern jedes Selbst noch ein höheres Selbst gebären muss.

Die ganze Meditationsarbeit würde demnach weiterhin bestehen für Sie beide:

1. Abends, vor der Ruhe, Lebensrückschau auf den Tag.

2.a) Morgens, durch die Seele gehen lassen der Formel für das höhere Selbst.!)

b) Meditation über ›Licht auf den Weg‹ [richtig: ›Stimme der Stille‹]. Von 8 zu 8 Tagen einen neuen Satz. Aber geduldig die 8 Tage bei Einem bleiben. (Näheres darüber in dem Beiliegenden).

c) Devotionelle Stimmung zu dem, was wir als das höchste, das Göttliche verehren.

Schränken Sie, Frau Doktor, die Zeit so ein, wie Sie es dienlich halten, wenn Sie noch eine besondere, von Ihnen beschriebene Meditation vornehmen wollten. Das aber, was ich angegeben habe, ist wirksam und fruchtbar und führt hinan den Pfad der Erkenntnis.

Ob wir das, was wir wissen, als selbstverständlich empfinden oder nicht, davon hängt nichts ab, sondern dass es durch unsere Seele geht.

Ihren Empfindungen von Ihrem Kennen in bezug auf mich dürfen Sie trauen. Auch ich weiß, dass Sie eine rege Phantasie haben. Aber eine rege Phantasie als solche ist noch nicht unbedingt irreführend. Sie kann es sein; aber sie kann auch die Gelegenheitbringerin sein für den Zufluss höherer Erfahrungen. Und Sie sehen, liebste gnädige Frau, wie Ihre Erfahrungen mit den meinen in gewisser Beziehung zusammenstimmen. Davon habe ich Ihnen ein Vorläufiges in meinem Briefe aus London geschrieben. Ein weiteres schreibe ich Ihnen bald. Und was mich betrifft, so weiß ich, dass mir jede Phantastik so ferne wie möglich liegt; auch halte ich mich mit aller Kraft von jeglicher Phantastik ganz fern. Liebe Frau und Herr Doktor, glauben Sie mir, was ich sage, entspringt in meiner Erfahrung ganz mit der Strenge, die der Mathematiker sich auferlegt. Und ich habe, bevor ich mich in die Theosophie gewagt habe, im gegenwärtigen Leben alles daran gewendet, dass keine Art von Phantastik mich verführen kann. Darauf war mein Leben durch lange Jahre trainiert.

Den jungen Gräser beschreiben Sie richtig. So zu sein, wie er ist, ist gewiss nicht ohne Gefahr. Und Leute seiner Art sind symptomatisch für die Gegenwart. Ich habe ihn an Sie empfohlen, weil ich weiß, wie Sie anders sind als Andere.

Was Sie über Deinhard und Bresch schreiben, ist gewiss richtig. Doch seien wir nachsichtig. Beide Herren können eben nicht anders sein, als es ihr Karma mit sich bringt. Halten wir zusammen, stützen wir uns auf das, was wir für das Richtige ansehen und sehen wir über die Schwächen der andern hinweg.

Es ist mir sehr, sehr lieb, dass im September Mrs. Besant nach Stuttgart kommt.

Vorläufig Ihnen beiden alles Herzliche von Ihrem

Berlin W, Motzstrasse 17

Dr. Rudolf Steiner