»Wir halten treu zusammen« | 1903

Brief Rudolf Steiners an Marie von Sivers in Schlachtensee bei Berlin Sonntag, 19. April 1903

Weimar, 19. April 1903

Liebe vertraute Schwester! Deinhard hat sich bis zur Stunde noch nicht gemeldet. Er wird also wohl erst heute kommen. Gestern hat sich hier die Weimarische Zweigloge konstituiert. Außer den beiden Vorträgen habe ich auch noch – mit denen, die beitreten werden – zweimal engeren Zirkel gehalten.

Dass unsere Anwesenheit in der nächsten Zeit in London notwendig sein werde, habe ich seit lange empfunden. Jetzt, da Olcott in Europa ist, ist sie wohl unvermeidbar. Aber, liebe vertraute Schwester: wir müssen zu diesem Ende alles wohl erwägen und uns den rechten Zeitpunkt bestimmen. Denn ich glaube, Dir sagen zu können, dass diese nächste Zeit für uns keine unwichtigen Sachen bringen werde. Wir dürfen jetzt in keiner Sache unseren nächsten Impulsen folgen. Was Du mir eben – im Vahan – gesandt hast, ist ja nur Symptom. Es arbeitet manches gegen uns. Und Bresch hat gegenwärtig einen richtigen Fühler. Was er selbst sagt, ist gerade jetzt vielleicht wichtiger, als sich der Schreiber selbst bewusst ist. Höchstwahrscheinlich reise ich übrigens Dienstag über Leipzig nach Berlin. Es scheint mir vorläufig, dass ich Bresch sprechen muss.

Also wir werden, wenn ich wieder bei Dir bin, alles in bezug auf Olcotts Anwesenheit ruhig besprechen. Frau Lübke, die durch ihr dreijähriges Zusam­menwirken mit den Londoner Theosophen ganz anders sehen gelernt hat, als die alten Mitglieder in Deutschland, gab mir schon vorgestern Recht, als ich auf die Wichtigkeit hinwies, jetzt Olcott persönlich nahe zu treten. Ich empfinde nun hier, dass richtig ist, was wir zu tun begonnen haben. Nicht darauf kommt es an, wieviel wir da oder dort im ersten Ansturm erreichen, sondern ob wir das Richtige – das durch das Zeit-Karma Bedingte – tun. Sogleich wenn ich nach Berlin komme, müssen meine drei Vorträge gedruckt werden. Und für den »Luzifer« ist wohl kein Zeitpunkt richtiger als gerade der, zu dem er erscheinen wird.

Dass Deinhards Besprechung mit mir ohne Bedeutung sein muss, wenn wir vorwärts kommen wollen, das wirst Du ohne weiteres zugeben. Das wichtige für mich wird auch gar nicht sein, was er sagt, sondern, was er nicht sagt. Auch in Hübbe-Schleidens letztem Brief ist das wichtigste, was gar nicht darinnen steht. Ich werde mit Dir in den nächsten Tagen über Verschiedenes sprechen, was Dir manches klarer machen wird. Für heute nur einen Richtsatz: Wir halten treu zusammen; und wir tun beide, auch gegen etwaige Missverständnisse, die in der nächsten Zeit kommen könnten, alles in vollster Treue und Hingebung an Mrs. Besants Intentionen.

Was Du mir über Deine Meditation mitteilst, macht mich froh. Ich weiß, Du wirst weiter kommen. Und ich weiß auch, dass Dich die besten Kräfte leiten. Fahre also fort. Es ist so lieb, dass Du mir auch gestern geschrieben hast, so dass ich heute morgen den Brief von Dir erhielt. Weimar hat für mich ein rechtes Doppelgesicht jetzt. Du weißt, dass ich Dir öfter von meiner Empfindung gewisser »Unwahrheiten« gesprochen habe. Ich war in Weimar sieben Jahre, und da ist es einzusehen, dass auch heute wieder die »Gespenster« jener »Unwahrheiten« aus allen Winkeln hervorkriechen. Es haftet an meinen Relationen in Weimar zu viel Persönliches.

In Treuen und Brüderlichkeit R. St.

Quelle: GA 262, S. 59-60