Dass Zander mit dem Begriff »Quellen« äußerst phantasievoll umgeht, zeigen seine Kommentare zu »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?«. Wo sich keine Quellen für bestimmte Erörterungen Steiners ermitteln lassen, werden munter welche postuliert.

Auf S. 588 schreibt Zander:

»Bei der Betrachtung der zwölfblättrigen Lotusblume folgten weitere Verhaltensregeln. ...Genauere Quellen lassen sich nicht ermitteln, aber auch diese Liste könnte aus einem Meditations- oder Erziehungskompendium stammen.«

An dieser Stelle kommt einmal mehr die Fixierung Zanders auf angebliche Quellen zum Ausdruck, die dazu führt, dass er, wo er keine findet, einfach welche erfindet. Oder was sind »Quellen, die sich nicht ermitteln lassen«, bei denen es sich um ein ausgedachtes Meditations- oder Erziehungskompendium handeln »könnte«?

Der Text, auf den Zander sich bezieht, lautet in der Ausgabe letzter Hand wie folgt:

»Die Ausbildung dieses Sinnes [der zwölfblättrigen Lotusblume] wird auf folgende Art gefördert. Das erste, was in dieser Beziehung der Geheimschüler beobachtet, ist die Regelung seines Gedankenlaufes (die sogenannte Gedankenkontrolle). So wie die sechzehnblätterige Lotusblume durch wahre bedeutungsvolle Gedanken zur Entwickelung kommt, so die zwölfblätterige durch innere Beherrschung des Gedankenverlaufes. Irrlichtelierende Gedanken, die nicht in sinngemäßer, logischer Weise, sondern rein zufällig aneinandergefügt sind, verderben die Form dieser Lotusblume. Je mehr ein Gedanke aus dem anderen folgt, je mehr allem Unlogischen aus dem Wege gegangen wird, desto mehr erhält dieses Sinnesorgan die ihm entsprechende Form. Hört der Geheimschüler unlogische Gedanken, so läßt er sich sogleich das Richtige durch den Kopf gehen. Er soll nicht lieblos sich einer vielleicht unlogischen Umgebung entziehen, um seine Entwickelung zu fördern. Er soll auch nicht den Drang in sich fühlen, alles Unlogische in seiner Umgebung sofort zu korrigieren. Er wird vielmehr ganz still in seinem Innern die von außen auf ihn einstürmenden Gedanken in eine logische, sinngemäße Richtung bringen. Und er bestrebt sich, in seinen eigenen Gedanken überall diese Richtung einzuhalten.

Ein zweites ist, eine ebensolche Folgerichtigkeit in sein Handeln zu bringen (Kontrolle der Handlungen). Alle Unbeständigkeit, Disharmonie im Handeln gereichen der in Rede stehenden Lotusblume zum Verderben. Wenn der Geheimschüler etwas getan hat, so richtet er sein folgendes Handeln danach ein, daß es in logischer Art aus dem ersten folgt. Wer heute im anderen Sinn handelt als gestern, wird nie den charakterisierten Sinn entwickeln.

Das dritte ist die Erziehung zur Ausdauer. Der Geheimschüler läßt sich nicht durch diese oder jene Einflüsse von einem Ziel abbringen, das er sich gesteckt hat, solange er dieses Ziel als ein richtiges ansehen kann. Hindernisse sind für ihn eine Aufforderung, sie zu überwinden, aber keine Abhaltungsgründe.

Das vierte ist die Duldsamkeit (Toleranz) gegenüber Menschen, anderen Wesen und auch Tatsachen. Der Geheimschüler unterdrückt alle überflüssige Kritik gegenüber dem Unvollkommenen, Bösen und Schlechten und sucht vielmehr alles zu begreifen, was an ihn herantritt. Wie die Sonne ihr Licht nicht dem Schlechten und Bösen entzieht, so er nicht seine verständnisvolle Anteilnahme. Begegnet dem Geheimschüler irgendein Ungemach, so ergeht er sich nicht in abfälligen Urteilen, sondern er nimmt das Notwendige hin und sucht, soweit seine Kraft reicht, die Sache zum Guten zu wenden. Andere Meinungen betrachtet er nicht nur von seinem Standpunkte aus, sondern er sucht sich in die Lage des anderen zu versetzen.

Das fünfte ist die Unbefangenheit gegenüber den Erscheinungen des Lebens. Man spricht in dieser Beziehung auch von dem ›Glauben‹ oder ›Vertrauen‹. Der Geheimschüler tritt jedem Menschen, jedem Wesen mit diesem Vertrauen entgegen. Und er erfüllt sich bei seinen Handlungen mit solchem Vertrauen. Er sagt sich nie, wenn ihm etwas mitgeteilt wird: das glaube ich nicht, weil es meiner bisherigen Meinung widerspricht. Er ist vielmehr in jedem Augenblicke bereit, seine Meinung und Ansicht an einer neuen zu prüfen und zu berichtigen. Er bleibt immer empfänglich für alles, was an ihn herantritt. Und er vertraut auf die Wirksamkeit dessen, was er unternimmt. Zaghaftigkeit und Zweifelsucht verbannt er aus seinem Wesen. Hat er eine Absicht, so hat er auch den Glauben an die Kraft dieser Absicht. Hundert Mißerfolge können ihm diesen Glauben nicht nehmen. Es ist dies jener ›Glaube, der Berge zu versetzen vermag‹.

Das sechste ist die Erwerbung eines gewissen Lebensgleichgewichtes (Gleichmutes). Der Geheimschüler strebt an, seine gleichmäßige Stimmung zu erhalten, ob ihn Leid, ob ihn Erfreuliches trifft. Das Schwanken zwischen ›himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt‹ gewöhnt er sich ab. Das Unglück, die Gefahr finden ihn ebenso gewappnet wie das Glück, die Förderung.

Die Leser von geisteswissenschaftlichen Schriften finden das Geschilderte als die sogenannten ›sechs Eigenschaften‹ aufgezählt, welche der bei sich entwickeln muß, der die Einweihung anstrebt. Hier sollte ihr Zusammenhang mit dem seelischen Sinne dargelegt werden, welcher die zwölfblätterige Lotusblume genannt wird.« (GA 10, 1961, S.127-130)

Zander versucht nicht nur, einzelne Inhalte von »Wie erlangt man ...« auf obskure Quellen zurückzuführen. Er versucht auch eine »Quelle« für das »Strukturkonzept von Steiners Schulungsweg« zu finden. Denn der behauptete »Nachweis der Herkunft einzelner Elemente«, so Zander, sage noch nichts über die Herkunft des Konzeptes selbst aus. Sein Durchgang durch eine Reihe möglicher Vorbilder ist ein Dokument des Scheiterns. Am Ende steht die Einsicht, dass es eine solche Quelle nicht gibt.

Die betreffenden Ausführungen Zanders finden sich auf den Seiten 603-607. Sie sind zu umfangreich um sie hier wiederzugeben. In der gegenüberliegenden Spalte findet man eine kurze Zusammenfassung.

Sein Fazit findet sich auf S. 607:

»Per saldo lässt sich Steiners Schulungsweg mit der eklektischen Sammlung von Inhalten ohne klare Konzeption keinem Vorbild zuweisen.«

Als mögliche Quellen und Vorbilder für das »Strukturkonzept« des Schulungsweges in »Wie erlangt man Erkenntnisse ...« nennt Zander eine Reihe von Publikationen:

1. Adolf Martin Oppels »Adeptenbuch«, das Steiner in der »Luzifer-Gnosis« parallel zu seinen eigenen Aufsätzen veröffentlichte: letztlich sei die Bedeutung dieses Buches nicht leicht zu bestimmen, es gehöre aber mehr in das Genre frommer Betrachtungen und sei kaum eine Sammlung methodischer Anleitungen. (Zander I, S. 603/04.) –

Steiner druckte Auszüge aus diesem Buch eines »in sich gekehrten, stillen Mannes« (eines »alten Mitglieds der Theosophischen Gesellschaft« in Stuttgart) in zwei Heften der »Luzifer-Gnosis« ab (Nr. 13 und 14, Juni und Juli 1904), um dessen Verkauf zu fördern, wie aus einer Notiz in Nr. 13, Juni 1904 (S. 6) hervorgeht (vgl. GA 35, S. 497). Darin eine Quelle für Steiner zu vermuten, hieße die Beziehung zwischen Oppel und Steiner auf den Kopf stellen.

2. Annie Besants »Im Vorhof des Tempels«, »Der Pfad der Jüngerschaft«, »Das Denkvermögen«: In der Struktur und bei vielen Inhalten gebe es Parallelen zu Steiners Schulungsweg, unmittelbare Abhängigkeiten fielen jedoch nicht ins Auge. (Zander I, S. 605) –

Besants Publikation über das »Denkvermögen« wird von Steiner kein einziges Mal erwähnt. Zander ist offenbar entgangen, dass Steiner die Vorträge Besants über den »Pfad der Jüngerschaft«, die 1905 in deutscher Übersetzung erschienen, in der »Luzifer-Gnosis«, Heft Nr. 24 vom Mai 1905 rezensiert hat. In dieser Rezension wies er auf eine deutliche Differenz zwischen dem von Besant vertretenen »indischen« und dem von ihm vertretenen abendländischen Schulungsweg hin. Genauer gesagt, er bezeichnete den östlichen Weg als unbrauchbar für Europäer – und dies bereits im Mai 1905, zu einer Zeit also, in der Steiner immer noch in tiefer Abhängigkeit von der angloindischen Theosophie gestanden und Besant zutiefst verehrt haben soll.

Auch diese Rezension gehört in das Kapitel der unterschlagenen Tatsachen in Zanders Untersuchung. Steiner schreibt darin: »Annie Besants Vorträge sind für das indische Volk gesprochen. Sie geben den Pfad der Jüngerschaft für dieses Volk an. Nun ist zwar die Wahrheit eine Einige, und der höchste Gipfel der Erkenntnis und des Lebens ist auch für alle Zeiten und alle Völker ein Einiger. Dennoch darf man nicht glauben, dass der Pfad der Jüngerschaft seiner Form nach ganz derselbe sein kann für den Menschen des gegenwärtigen Europa wie für den Inder. ... Deshalb muss es nur naturgemäß gefunden werden, dass in den Artikeln dieser Zeitschrift ›Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten‹ manches anders gesagt ist, als man es in den für das indische Volk gehaltenen Vorträgen Annie Besants angegeben findet. Der Weg, der in dieser Zeitschrift geschildert wird, ist derjenige, welcher in Anpassung an das Leben im Abendlande, an die Entwicklungsstufe des europäischen Menschen, als der richtige sich herausgebildet hat in den Geheimschulen Europas seit dem vierzehnten Jahrhundert. Und der Europäer kann nur Erfolg haben wenn er diesen ihm durch seine eigenen Geheimlehrer vorgezeichneten Weg wandelt. Er kann den Weg des Indertums gar nicht kopieren.«

Als Gründe für diese Verschiedenheit der Wege führt Steiner die unterschiedlichen kulturellen Traditionen und Bewusstseinsformen an:

»In der Welt ist eben alles in Entwicklung. Und es muss auch die Geheimschulung diesen Weg der Entwicklung gehen. Nur das Zerrbild eines Schülers könnte es geben, wenn eine europäische Seele dieselben Yogawege wandeln wollte, die einstmals das von den heiligen Rishis geleitete indische Volk wandelte. Dieses selbst aber muss sich auf seine eigenen Wege besinnen, wenn es vorwärts kommen will. – Das eben will ja gerade die theosophische Weltbewegung erreichen, dass ein jegliches Volk, ein jeglicher Teil der Menschheit die Wahrheit suche auf seinen Wegen. Wir wären recht schlechte Theosophen, wenn wir die indischen Lehren so ohne weiteres der ganz anders gearteten europäischen Menschheit aufpfropfen wollten.« Das bedeutet aber nicht, dass die indischen Wege nicht doch für die Europäer von Interesse sein könnten, denn Steiner fährt fort: »Damit ist nicht gesagt, dass es unnütz für die Europäer wäre, dasjenige kennen zu lernen, was für die Inder das Angemessene ist. Die Stufe, auf welcher der Europäer steht, ist gerade diejenige, die ihm notwendig macht, alles verstandesmäßig kennen zu lernen. Der Verstand muss, um vorwärts zu kommen, vergleichen und das Eigene an dem Fernliegenden messen. Er muss hinhorchen auf das, was den Menschenbrüdern im fernen Osten zu ihrem Heile gesagt wird. Deshalb, nicht weil in Europa dasselbe gemacht werden könnte, hat man solche Bücher wie das vorliegende mit Befriedigung zu begrüßen.« (»Luzifer-Gnosis«, Nr. 24, Mai 1905, S. 379-380; GA 34, 1987, S. 524 f.)

3. Sinnetts »Wachstum der Seele« und Blavatskys »Stimme der Stille«: Geringe inhaltliche Übereinstimmungen. (Zander I, S. 605.) –

Sinnetts Buch über das »Wachstum der Seele« wird von Steiner kein einziges Mal erwähnt. Blavatskys »Stimme der Stille« empfahl er als Quelle für Meditationsinhalte in einem einzigen Fall (Vgl. GA 264, S. 439) im August 1904. Bei diesem Anlass verfasste er eine kurze Erläuterung zum Anfang des Büchleins (GA 264, S. 439).

4. »Licht auf den Weg« von Mabel Collins: enthalte einige inhaltliche Übereinstimmungen (okkulte Schrift, Hinweis auf Zanoni): die Struktur seines Schulungsweges habe Steiner aus ihrem Buch nicht entnommen.

5. Leadbeaters »Clairvoyance«, erst 1909 ins Deutsche übersetzt: aus gewissen vergleichbaren Auffassungen lasse sich »nicht notwendig« schließen, dass Steiner dieses Buch gekannt habe.

Dieser Teil der Untersuchung führt also zu einem Zanders Grundthesen letztlich konterkarierenden Ergebnis, das aber die hier vorgetragenen fundamentalen Einwände nur bestätigt: »Steiners Schulungsweg« (»mit der eklektischen Sammlung von Inhalten und ohne klare Konzeption«, Zander I, S. 607) lässt sich nämlich »keinem Vorbild zuweisen«.

Ob dies aus Zanders Sicht eine Folge des Mangels einer »klaren Konzeption« ist, mag dahingestellt sein, allein, dieser Mangel existiert letztlich auch nur in Zanders Bewusstsein.

Zander behauptet, Steiner habe die »Akasha-Chronik« als etwas Materielles verstanden. Er beruft sich dabei auf eine zweifelhafte Quelle.

Auf S. 617 schreibt Zander:

Die Akasha-Chronik »verstand Steiner, wie Blavatsky, durchaus materiell. Der ›Akasha-Stoff‹ stehe, erläuterte Steiner 1905, ›zwischen der physischen und der astralen Materie‹ und sei ›feinste physische Materie, die allerfeinste Materie, in welcher der Gedanke sich unmittelbar ausprägen kann.‹«.

 

Zander zitiert, um diese Aussage zu untermauern GA 53, S. 230. Die Überprüfung der Quelle ergibt, dass es sich um eine Fragenbeanwortung im Anschluss an einen öffentlichen Vortrag handelt, die hier zitiert wird. Die Frage lautet: »Ist der Akasha-Stoff ätherischer oder astralischer Stoff?« Die Antwort besteht aus drei Sätzen. Es ist klar, dass Steiner hier die Ausdrucksweise des Fragestellers aufgreift und eine Analogie verwendet. Die Quelle ist unqualifiziert. Die Frage ist, warum macht Zander dies nicht deutlich?

Analogien, die den Denkgewohnheiten der Zeit entgegenkommen, bildet Steiner vielfach, etwa wenn er in der »Theosophie« von »Empfindungsleib« oder »Geistleib« spricht.

Unmittelbar im Anschluss an dieses Zitat führt Zander jedoch einen Text aus der »Geheimwissenschaft« an, der seiner Behauptung, Steiner habe die Akasha-Chronik als etwas Materielles verstanden, offensichtlich widerspricht.

Hier heißt es nämlich: »Nicht in der gleichen Art ›verschwinden‹ die geistigen Kräfte, welche dieses Körperhafte aus sich herausgetrieben haben. Sie lassen ihre Spuren, ihre genauen Abbilder in der geistigen Grundlage der Welt zurück ... Man kann diese unvergänglichen Spuren alles Geistigen die ›Akasha-Chronik‹ nennen, indem man als Akasha-Wesenheit das Geistig-Bleibende des Weltgeschehens im Gegensatz zu den vergänglichen Formen des Geschehens bezeichnet.« (GA 13, 1977, S. 142)

Schon hier spricht Steiner, wie man sieht, von einer Akasha-Wesenheit. Die »geistige Grundlage der Welt« ist natürlich nicht materiell, sondern ihrem Begriff entsprechend, geistig. Sie ist letztlich eine geistige Wesenheit oder eine Gruppe geistiger Wesenheiten, deren Bewusstsein die kosmische Geschichte, die Gesamtheit der Zeit, so umfasst, wie das menschliche Bewusstsein das gelebte Leben in der Erinnerung umfasst.

Im Unterkapitel 7.5.3. räsonniert Zander über die möglichen Quellen des Begriffs der »Akasha-Chronik«. Der Begriff unterstelle einen Bezug zu indischen Quellen. Ein Verständnis des Akasha, des Äthers, als Weltgedächtnis lasse sich jedoch in der indischen Religionsgeschichte nicht belegen, behauptet er unter Bezug auf ein Buch von Reinhart Hummel.

Auf S. 620 schreibt Zander:

»Der zentrale Begriff ›Akasha-Chronik‹ unterstellt einen eindeutigen Traditionsbezug, eine indische Herkunft. Schon Blavatsky hatte chronikartige indische Werke mit dem Wissen aller Zeiten postuliert (s. u.), und Sinnett 1883 in seinem von Blavatsky abhängigen ›Geheimbuddhismus‹ die Gleichsetzung von Akasha und Weltgedächtnis vorgenommen, die eine Lehre des ›älteren Buddhismus‹ sei. Tatsächlich findet sich in vedischen Texten und in den Upanischaden die Vorstellung vom Akasha-›Raum‹ oder vom Akasha als ›Naturmacht‹. In seltenen Fällen wurde er zum Ursprung aller Dinge erklärt oder als Tonträger ›Äther‹ genannt und unter die Elemente eingereiht. Die theosophische Definition als Weltgedächtnis, wie sie bei Steiner dann dominant vorliegt, ist jedoch in der indischen Religionsgeschichte nicht belegt.« 295

Dazu die Anmerkung 295: »Hummel: Indische Mission und neue Frömmigkeit im Westen, 189.«

Zander greift bei seinem Herumgestochere in der indischen Mythentradition nicht auf eigene Quellenforschungen zurück, sondern auf die Publikation eines westlichen Religionswissenschaftlers (Reinhart Hummel, »Indische Mission und neue Frömmigkeit im Westen«, 1980). Die bei Kohlhammer erschienene Broschüre, eine überarbeitete Habilitationsschrift, stammt vom langjährigen Leiter der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, also einem apologetisch-gegenmissionarischen Kontext. Es ist die Frage, wie erschöpfend diese Publikation die indischen Überlieferungen über den Akasha-Äther abhandelt und ob die Vorstellung eines »Weltgedächtnisses« nicht doch in den indischen Traditionen vorhanden ist. Das könnte nur eine gründliche, umfassende Prüfung indischer Quellen zeigen. Jedenfalls fällt auf, dass Zander diese Publikation, ohne eine kritische Überlegung an sie zu verschwenden, dogmatisch als die letzte autoritative Auskunftsquelle gegen Steiner anruft.

Wie dem auch sei: Aus dem Werk Otto Willmanns über die »Geschichte des Idealismus«, das für Steiner eine große Bedeutung hatte, hätte Steiner jedenfalls bereits lange vor seiner sog. »theosophischen« Zeit die Vorstellung vom Schöpfungswort oder der göttlichen Stimme entnehmen können, die eine Manifestation der Urgottheit ist. Die göttliche Vaç ist im Veda, den heiligen Ritualtexten, die auf die Rischis, die Urpriester zurück geführt werden, ausgebreitet. Willmann zitiert Paul Deussens Werk über das »System des Vedanta« aus dem Jahr 1883:

»Das Vedawort mit seinem ganzen Komplex von Vorstellungen über die Welt und ihre Verhältnisse bildet eine ewige, allen Untergang überdauernde Richtschnur für den Schöpfer. Derselbe ›erinnert sich‹, indem er die Welten schafft, an die Worte des Veda, und somit geht die Welt mit ihren konstanten Formen ... aus dem Vedawort hervor.« Der Veda »wird von Brahman ›ausgehaucht‹ und von den Verfassern (rischis) nur ›geschaut‹. Die Welt mitsamt den Göttern vergeht, der Veda aber ist ewig; ... und besteht im Geiste des Brahman fort; entsprechend den Worten des Veda, welche die ewigen Urbilder der Dinge enthalten, werden zu Anfang jeder Weltperiode die Götter, Menschen, Tiere usw. von Brahman geschaffen, worauf denselben der Veda durch Exspiration offenbart wird.« (Otto Willmann, Geschichte des Idealismus, Werke 8, S. 71)

Der Äther, Akasha, ist als »Träger« des Wortes, des Veda, ebenso ewig wie das Wort selbst, ebenso alldurchdringend und allgegenwärtig wie dieses. Der Äther ist Träger des präexistenten Schöpfungswortes, das die Urbilder aller Dinge in sich enthält. Man kann ihn als Träger des Schöpfungsgedächtnisses ansprechen. Dieses Gedächtnis ist mit dem Bewusstsein der höchsten Gottheit identisch, das durch die gesamte Schöpfung ausgebreitet ist. Der Akasha ist letztlich das Bewusstsein Brahmas, in dem die gesamte Schöpfung in urbildlicher, geistiger Gestalt präexistiert. Dieser Raum ist nicht nur ein äußerer Raum, sondern er findet sich auch im Innersten der Menschenseele, die damit Zugang zu dem präexistenten Wort des Schöpfers, zu seinem Gedächtnis hat, aus dem er die Schöpfung hervorgehen lässt:

»Wahrlich, so groß wie dieser Weltraum (akasha) ist dieser Raum innen im Herzen; in ihm sind Himmel und Erde beschlossen, Feuer und Wind, Sonne und Mond, Blitz und Sterne; und was einer hienieden besitzt und was er nicht besitzt, das ist alles darin beschlossen«, lehrt der Veda. (Frauwallner, Geschichte der indischen Philosophie, Band I, Salzburg 1953, S. 64)

Ein weiterer Aspekt des Akasha, der hier angeführt werden könnte, ist die Tatsache, dass dieser in der mystischen Erkenntnislehre des Buddhismus zu den spirituellen Wahrnehmungsorganen des Menschen, den sogenannten Chakren, in Beziehung gesetzt wird. Der Mensch selbst trägt als Mikrokosmos den ganzen Makrokosmos in sich, er trägt in seinen spirituellen Erkenntnisorganen nicht nur dessen Struktur, sondern auch dessen zeitliche Dimension, die Geschichte in sich. Lama Anagarika Govinda schreibt in seinem Buch über die »Grundlagen tibetischer Mystik«:

»Alles Geformte und Ausgedehnte, in räumliche Erscheinung Tretende offenbart die Natur des Akasha. Daher werden die vier groben Elemente oder Aggregatzustände des Festen (›Erde‹), des Flüssigen (›Wasser‹), des Flammenden oder Hitzenden (›Feuer‹) und des Gasförmigen (›Luft‹) als Modifikationen des Akasha, des Raumäthers aufgefasst. ... Akasha stellt sich in seiner gröbsten Form als Materie dar; in seinen feinsten Formen geht er unmerklich ins Energetische über ... Wäre dies nicht so, so wäre die Einwirkung von Geistigem auf Körperliches und von Körperlichem auf Geistiges nicht möglich; und diese Wechselwirkung ist es ja gerade, die der Yogin (gleichgültig, ob Buddhist oder Hindu) sich zunutze macht und auf der die Technik der Meditation aufgebaut ist. ... Die psychischen Kraftzentren des menschlichen Körpers und ihre Organe entsprechen demnach den Modifikationen des Akasha, bzw. der Elemente, während die Kraftströme, die sie durchfließen oder in ihnen gestaut, verwandelt und verteilt werden, die Modifikationen des Prana darstellen. Die vier unteren Kraftzentren repräsentieren in aufsteigender Folge die immer feiner werdenden Aspekte des Akasha in Form der ›Elemente‹ Erde, Wasser, Feuer und Luft ... Die höchsten Zentren entsprechen jenen Formen des Akasha, die jenseits der groben Elemente liegen und höhere Raumdimensionen darstellen, in denen schließlich die Qualität des Lichtes identisch wird mit der des Raumes und damit in den psychisch-energetischen Zustand des Prana und in die Region der höheren Bewusstheit übergeht. ... In den sieben Zentren des menschlichen Körpers ist sozusagen die elementare Struktur und Dimensionalität des Universums dargestellt ... Dass die Formpotenzen des ganzen Universums in den Zentren latent vorhanden sind, wird dadurch angedeutet, dass sämtliche Laute des Sanskrit-Alphabets in Form von Keimsilben auf die sieben Zentren verteilt werden.« (Lama Anagarika Govinda, Grundlagen tibetischer Mystik, S. 158-163)

Doch ist die Frage letztlich sekundär, ob die Vorstellung der Akasha-Chronik als eines Weltgedächtnisses in der indischen Tradition existiert, da Zander behauptet, Steiner berufe sich nicht auf indische Traditionen, sondern auf europäische, auf die »Gnosis«, die »Theosophie«. In der Tat schreibt Steiner, »die Gnosis« bezeichne »die unvergängliche Geschichte als Akasha-Chronik«. Die Frage ist natürlich, was Steiner hier unter »Gnosis« versteht: ob er die historische »Gnosis« der Religionsgeschichte meint oder die Gnosis im Sinne der von ihm vertretenen Geisterkenntnis. In letzterem Fall würde er nicht auf eine historische Tradition rekurrieren, sondern auf seine eigene Forschung. Nun gibt es in der mystischen und gnostischen Tradition durchaus Vorstellungen, die jener der Akasha-Chronik als einer unvergänglichen Geschichte nahe kommen. Eine etwas tiefergehende Rezeption der religionsgeschichtlichen Quellen hätte Zander darauf führen können, dass solche Vorstellungen auch in der Mythologie und der historischen Gnosis vorlagen.

Im mesopotamischen Mythenkreis beispielsweise existiert die Vorstellung der »Schicksalstafeln«. In diesem Mythenkreis symbolisiert der nach den vier Himmelsrichtungen orientierte Zikkurat den kosmischen Achsenberg, über dem im höchsten Himmel, umgeben von einer glänzenden Götterschar, ein oberster Gott sitzt. In diesem höchsten Himmel werden das Kraut der Geburt und das Brot und Wasser der Unsterblichkeit aufbewahrt. Unter dieser Sphäre thront im Luftraum der Gott der Königsherrschaft (Enlil, Bel-Marduk, Assur, Jahwe). An seinem Hof voller leuchtender Götter werden Jahr für Jahr die Schicksalstafeln beschrieben, auf denen die vergangenen und künftigen Ereignisse verzeichnet sind. Unter der Sphäre dieses Gottes laufen die sieben Planetensphären um, die zur Zeit Assyriens, zwischen 1100 und 630 durch die sieben Terassenstockwerke des Zikkurat in unterschiedlichen Farben und Materialien abgebildet wurden. Im Abgrund unter der Erde gelangte man durch sieben Tore in das Reich der Göttin des Todes und der Unterwelt, Ereschkigal, das Land ohne Wiederkehr. Die babylonische Mythologie kennt demnach eine Region zwischen den sieben Planetensphären und den Fixsternen, in der die Schicksalstafeln aufbewahrt werden, in die alle irdischen Geschehnisse eingetragen und die künftigen Ereignisse eingezeichnet sind. Marduk eignet sich in seinem Streit mit Tiamat und ihrem Kriegsherrn Kingu diese Schicksalstafeln an und wird zum Verwalter der irdischen und himmlischen Geschicke. Die Schicksalstafeln sind eine mythische Parallele zur »Akasha-Chronik«.

Andere Parallelen finden sich in der Merkaba-Mystik des ersten Jahrtausends im Judentum. Hier schildert der Offenbarungsengel Metatron Rabbi Ismael den kosmischen Schleier oder Vorhang vor dem Thron Gottes, der diesen von den Engelscharen, die die planetarische Welt bevölkern, trennt. Die Kunde von einem solchen Vorhang lässt sich bereits in agadischen Redewendungen im 2. Jahrhundert nach Christus nachweisen. Von der Existenz solcher Vorhänge in der Lichtwelt der Äonen berichtet auch das in koptischer Sprache erhaltene gnostische Werk »Pistis Sophia«, auf das Steiner sich gelegentlich in seinen Vorträgen bezieht. Nach dem Henochbuch enthält der kosmische Vorhang die Urbilder aller Dinge, die seit den Tagen der Schöpfung in der himmlischen Welt präexistieren. Alle Generationen und ihre Taten auf Erden sind in diesen Vorhang eingewoben. Wer ihn schaut, dringt damit zugleich in das Geheimnis der messianischen Erlösung ein. Der Verlauf der Geschichte, die Kämpfe der Endzeit und die Taten des Messias sind in den Einzeichnungen dieses Vorhangs bereits präformiert. Nach Scholem ist diese Verbindung zwischen Merkaba- und Hechaloth-Mystik mit der Vision des messianischen Endes, mit Apokalyptik und Eschatologie, sehr alt. Sie findet sich im Buch Henoch, in der Abraham-Apokalypse und beherrscht noch die fünf bis acht Jahrhunderte später entstandenen verschiedenen Hechaloth-Traktate. (Gershom Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt a. M., 1967, S. 77/78)

Auch im deutschen Chassidismus des Mittelalters waren Kenntnisse oder Theorien über diesen Vorhang verbreitet. Scholem schreibt darüber in seinem Werk »Die jüdische Mystik«: »Alles Untere, auch das Leblose, hat sein Urbild, demuth. Die Urbilder sind in den Vorhang vor dem Thron der Glorie eingewirkt oder eingezeichnet. Nach der Meinung der Chassidim ist dies ein Vorhang aus blauem Feuer, der den Thron von allen Seiten, außer von Westen her, umgibt. Die Urbilder stellen eine besondere Sphäre der unkörperlichen, gottnahen Existenz dar. In anderen Zusammenhängen wird geradezu von einem okkulten ›Buch der Urbilder‹ [kursiv L.R.] gesprochen. Das Urbild ist der tiefste Quell der verborgenen Seelentätigkeit. Die Schicksale sind in den Urbildern schon enthalten, ja sogar jede Veränderung im Zustand eines Wesens hat ihr eigenes Urbild. Nicht nur die Engel und Dämonen schöpfen ihr Vorwissen vom menschlichen Schicksal aus der Wahrnehmung dieser Urbilder, sondern auch der Prophet wird mit ihrer Schau begnadet. [kursiv L.R.] Von Moses wird ausführlich berichtet, dass ihm Gott die Urbilder gezeigt habe. Sogar Schuld und Verdienst haben, wie dunkel angedeutet wird, ›Zeichen‹ [kursiv L.R.] in den Urbildern.« (Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, S. 127)

Steiner hätte die Existenz dieser Lehren über okkulte Bücher des Himmels, in denen die Geschichte der Vergangenheit und Zukunft verzeichnet ist, aus seiner Lektüre von Otto Willmanns »Geschichte des Idealismus« vertraut sein können, denn Willmann zitiert aus Molitors »Philosophie der Geschichte« eine Stelle, die von diesen Lehren handelt:

»Ein Ausspruch in Esarah Maimeroth lautet: ›Das allgemeine Buch, worein alle Handlungen des Menschen ... eingeschrieben werden, ist ... der saphirartige umkreisende Äther. In ihn graben sich alle einzelnen Bewegungen des Menschen ein, sowohl die Blicke des Auges als die Öffnung des Mundes zum Guten wie zum Bösen ... Sogleich entsteht eine Auslegung der guten Werke als Kleinode vor dem Höchstgebenedeiten in dem Äther des Paradieses. Denn der Äther des Paradieses geht nach außen und kleidet sich in den Äther dieser Welt, um alle guten Taten in sich aufzunehmen bis zum Tage des Gerichts.‹« (Franz Jos. Molitor, »Philosophie der Geschichte III«, 1839, S. 705 nach Otto Willmann, »Geschichte des Idealismus I«, Werke, Bd. 8, 1973, S. 136)

All diese mythischen und mystischen Traditionen existierten bereits vor der Theosophie des 19. Jahrhunderts, hatten keinerlei Bezug zu indischen Quellen, sind aber deutliche Indizien dafür, dass die mystische Erkenntnis, die sowohl den Mythen als auch der historischen Gnosis und der jüdischen Überlieferung zugrunde liegt, immer schon die Anschauung von einer »geistigen Grundlage der Welt« besessen hat, in der die Geschichte des Vergänglichen wurzelt.

Es ist also nicht erforderlich, auf die Fotografie oder »okkultistische Memorationskonzepte« zurück zu greifen, um den Gedanken einer Akasha-Chronik, eines Weltgedächtnisses, aus diesen herzuleiten, wie Zander dies tut. (Zander I, S. 621 f.) Es ist auch nicht erforderlich, die Quelle für diese Vorstellung, die dann »auf nicht näher nachvollziehbaren Wegen« zu Steiner gekommen sein soll (Zander I, S. 622), bei Blavatsky zu vermuten. Orientiert man sich an Steiners eigenem Selbstverständnis, ist es ohnehin nicht erforderlich, irgendeine Quelle außerhalb seiner eigenen Forschungen zu postulieren.

Mitunter versagt Zanders Suchmaschine, wenn es darum geht, dubiose Quellen namhaft zu machen. Ein Beispiel ist seine Bemerkung, Steiner habe bei seinen Schilderungen der Fortpflanzungsart der Lemurier, die von einer hermaphroditischen zu einer zweigeschlechtlichen übergingen, einen androgynen Ursprungsmythos rezipiert, »dessen Vorlagen momentan nicht benennbar« seien.

Auf S. 626 schreibt Zander:

»Steiner rezipierte einen androgynen Ursprungsmythos, dessen Vorlagen aber momentan nicht benennbar sind.«

Offenbar ist Zander bei seiner Lektüre der »Geheimlehre« Blavatskys nicht bis auf S. 123 des ersten Bandes der »Anthropogenesis« vorgedrungen, auf der die Beschreibung der »eigeborenen androgynen«, lemurischen Wurzelrasse beginnt.

Hier hätte er eine jener von ihm so sehr gesuchten »Quellen« für diesen androgynen Ursprungsmythos finden können, wenn man sich denn auf dieses Quellensuchspiel überhaupt einlassen will. Aber das Besondere an Zanders »historisch-kritischer Methode« besteht ja gerade darin, dass er auch dann mit Gewißheit »Quellen« postuliert, wenn sie für ihn gerade nicht bennenbar sind.

Natürlich könnte man ebenso gut auf Platos »Symposion« oder die erste Anthropogenesis des Alten Testaments verweisen, in der der Mensch »männlich-weiblich«, also androgyn oder hermaphroditisch aus dem Schöpfungswort der Elohim hervorgeht.