Auch im Kapitel »Arkanwissen als sozialer Faktor« bemüht sich Zander nach Kräften, eine Reihe von »Mythen« zu entlarven, die Steiner angeblich in die Welt gesetzt habe. Zu diesen angeblichen Mythen gehören folgende Aussagen Steiners: er habe sich in die »Esoterische Schule« der Adyar-Theosophie nur aufnehmen lassen, um darüber informiert zu sein, was in ihr vorging und er habe in dieser nichts Besonderes lernen können, in ihr sei kein anderer Inhalt als in Blavatskys bereits veröffentlichten Schriften vorhanden gewesen.
Auf S. 702 schreibt Zander:
»Wenige Wochen vor seinem Tod hat Steiner 1925 seine Rolle in Besants Esoterischer Schule umschrieben:
›Ich hatte mein anthroposophisches Wirken in die Theosophische Gesellschaft hineingestellt.
Ich musste deshalb informiert sein über alles, was in derselben vorging.
Um dieser Information willen und darum, weil ich für Vorgeschrittene in der anthroposophischen Geist-Erkenntnis selbst einen engeren Kreis für notwendig hielt, ließ ich mich in die ‚Esoterische Schule’ aufnehmen.« (GA 28,318) »Dass ich innerhalb der ‚Esoterischen Schule’ der Mrs. Besant hätte etwas Besonderes lernen können, lag schon deshalb außer dem Bereich der Möglichkeit, weil ich von Anfang an nicht an den Veranstaltungen dieser Schule teilnahm, außer an wenigen, die zu meiner Information, was vorgeht, dienen sollten. … Es war ja in der Schule damals kein anderer wirklicher Inhalt als derjenige, der von H. P. Blavatsky herrührt, und der war ja schon gedruckt. Außer diesem Gedruckten gab Mrs. Besant allerlei indische Übungen für den Erkenntnisfortschritt, die ich aber ablehnte. … Es wurde geradezu die Absurdität behauptet, ich wäre zu der Geist-Erkenntnis überhaupt nur durch die esoterische Schule von Mrs. Besant geführt worden.‹ (ebd., 319)
»Aus dieser Selbstdarstellung müsste man schließen, dass die Esoterische Schule für Steiner persönlich überhaupt nichts bedeutet habe. Er habe schlicht Informationen gesucht, um in innertheosophischen Interna auf dem Laufenden zu sein und um Fortgeschrittenen einen engeren Kreis zu bieten. Die historiographisch zugänglichen Informationen bieten ein anderes Bild.
Am 23. Oktober 1902 wurde Rudolf Steiner (und Marie von Sivers?) durch Annie Besant in die Esoterische Schule aufgenommen, so Wilhelm Hübbe-Schleiden, ein Bürge des Aufnahmegesuchs, das Steiner am 17. Januar 1902 eingereicht hatte.«
Die Tatsache ist unstrittig, dass Steiner bereits vier Tage nach der Gründung der Deutschen Sektion und nach seiner Wahl zum Generalsekretär, die am 19.10.1902 stattfanden, in die Esoterische Schule aufgenommen wurde (am 23.10.1902).
Allerdings ist die Formulierung, die voraussetzt, er sei in eine bereits bestehende Schule »aufgenommen« worden, nicht ganz exakt. In Wahrheit wurde mit der Begründung der Deutschen Sektion, deren Leitung Steiner übernahm, eine deutsche Abteilung dieser Esoterischen Schule faktisch erst begründet.
Da Annie Besant seit dem Tode H.P. Blavatskys die Leitung der Esoteric School of Theosophy innehatte, stand deren deutsche Abteilung zunächst naturgemäß unter ihrer kommissarischen Leitung. Tatsächlich begann Steiner aber bereits mit der Gründung der deutschen Sektion auch als esoterischer Lehrer innerhalb dieser deutschen Abteilung zu wirken – ganz abgesehen davon, dass er ja bereits seit seinem ersten Auftreten in der Theosophischen Gesellschaft als »esoterischer Lehrer« wirkte.
Nach Zander müsste man sich schon bei der Wahl Steiners zum Generalsekretär, zum Leiter der theosophischen Arbeit in Deutschland, fragen, warum eigentlich die Theosophen diese Wahl befürworteten, wenn er keinerlei spirituelle Kompetenzen besaß. Man kann sich fragen, wie es möglich war, dass Steiner sogleich nach der Begründung der deutschen Abteilung der Esoterischen Schule als Lehrer aufgesucht wurde, wenn nicht die Auffassung bestanden hätte, er sei imstande, Anweisungen für eine esoterische Schulung zu erteilen. Man kann des weiteren fragen, wie es möglich war, dass Steiner bereits zwei Jahre später (am 10.05.1904) offiziell deren Leitung übernehmen konnte, wenn nicht die Überzeugung bestanden hätte, er könne eine solche Schule leiten. Entweder die ganze esoterische Schulung, auch die, die Steiner möglicherweise in der TG vorfand, war nichts als eine Farce, die Aufnahme in die Esoterische Schule und die Übernahme ihrer Leitung nichts als eine Äußerlichkeit, ein Schachzug im Macht- und Stellenpoker. Dies vorausgesetzt, lässt sich die Esoterik Steiners aber auch nicht aus der angeblich inexistenten Esoterik der TG ableiten, wie Zander es versucht. Aus einem leeren Gefäß lässt sich kein Inhalt schöpfen. Oder aber in Steiner lebte ein realer spiritueller Gehalt, er war Träger einer spirituellen Kompetenz, die von seinen Zeitgenossen wahrgenommen wurden, und ihn an jenen sozialen Ort brachten, von dem aus er wirken konnte.
Zander versucht, Steiners Behauptung zu »entlarven«, er habe niemals einen Antrag auf Mitgliedschaft in der Theosophischen Gesellschaft gestellt, indem er darauf hinweist, Steiner habe ein Aufnahmegesuch für die Esoterische Schule gestellt.
Auf S. 702 schreibt Zander:
»Am 23. Oktober 1902 wurde Rudolf Steiner (und Marie von Sivers?) durch Annie Besant in die Esoterische Schule aufgenommen, so Wilhelm Hübbe-Schleiden, ein Bürge des Aufnahmegesuchs, das Steiner am 17. Januar 1902 eingereicht hatte. Offenkundlich falsch ist mithin Steiners Aussage, ›niemals war von meiner Seite irgendein Antrag gestellt worden, Mitglied der [Theosophischen] Gesellschaft zu werden.‹«
Die Mitgliedschaft in der Esoterischen Schule ist nicht dasselbe wie die Mitgliedschaft in der Theosophischen Gesellschaft. Steiner hat nicht behauptet, er hätte nie einen Antrag zur Aufnahme in die Esoterische Schule gestellt. Steiners Aussage ist also nicht »offenkundlich falsch«, wie Zander schreibt, sondern Zander verwechselt offenkundig die Theosophische Gesellschaft mit der Esoterischen Abteilung dieser Gesellschaft.
Auf verschlungenen Wegen versucht Zander den Beweis zu erbringen, die Aussage Steiners, er habe von Annie Besant »nichts Besonderes« lernen können, sei ein von ihm in die Welt gesetzter Mythos. Aus der unzutreffenden Unterstellung, Steiner habe sich in den ersten Jahren seiner theosophischen Tätigkeit in einer Phase »hingebungsvoller Verehrung« gegenüber Annie Besant befunden, leitet er die weitere These ab, es sei deswegen nicht unmöglich, dass er von ihr habe lernen können. Für diese These vermag er aber keinen einzigen dokumentarischen Beweis zu erbringen. Er beruft sich deswegen auch nicht auf dokumentierte Inhalte der Lehre oder auf urkundliche Zeugnisse Steiners, sondern lediglich auf einige Charakterisierungen Besants durch Steiner, die belegen sollen, dass er sie als seine Lehrerin betrachtete, sowie auf einige Zeugnisse von Zeitgenossen, die zur Fraktion der Steinergegner gehörten, wie der spätere Nationalsozialist Jakob Wilhelm Hauer (sic!) und die Nervenkranke Alice von Sonklar. Während er jedoch diesen Aussagen unkritisch Glauben schenkt, sind für ihn gegenteilige »anthroposophische Aussagen«, wie die von Karl Heyer oder Christoph Lindenberg wertlos. Zander ist in diesem Punkt, wie auch schon an früheren Stellen, offensichtlich parteiisch und beweist erneut sein mangelndes Vermögen, die Validität der von ihm herangezogenen Quellen angemessen einzuschätzen.
Auf S. 703-704 schreibt Zander:
»Steiner befand sich in diesen Jahren in einer Phase hingebungsvoller Verehrung für Besant; von ihr zu lernen, war also keineswegs für ihn, wie in einer zitierten Äußerung aus dem Jahr 1925, ›außer dem Bereich der Möglichkeit.‹ (GA 28,319).
Im Oktober 1902 nannte er sie in einem öffentlichen Vortrag (in einer in der Gesamtausgabe fehlenden Stelle) eine ›Persönlichkeit‹, ›die ich als ein … religiöses Genie erkennen möchte‹, im Juni bezeichnete er sie gegenüber Marie von Sivers als ›Priesterin‹ (GA 262,41).
Ins Jahr 1903 dürfte die ihn möglicherweise sehr bewegende Lektüre ihres Buches ›Esoterisches Christentum‹ fallen (s. 8.2.3), und in diesem Jahr versprach er im April auch, mit Marie von Sivers ›alles in vollster Treue und Hingebung an Mrs. Besants Intentionen‹ zu tun (GA 2622,60).
›Wo sie spricht‹, so Steiner auf dem Kongress der europäischen Landessektion im Juni 1904, ›wird der Geist der Zuhörer zu den Höhen göttlicher Erkenntnis erhoben‹ (GA 34,541). Sie sei ein ›Bote der Meister‹, glaubte er im August, und wenn Menschen nicht ›unerschütterlich‹ ›zu Annie Besant stehen, so fügen sich diese selbst die schwerste Schädigung zu‹ (GA 264,79).
Als Steiner Besant im September 1904 auf einer Vortragsreise begleitete und zehn öffentliche Vorträge von ihr wiedergab, hatte sich, so seine Anhängerin Emmy Gumpenberg, ›die Überzeugung in unseren Köpfen festgesetzt …, dass Dr. Steiner Mrs. Besants bester Schüler sei‹.
1905 gestand er, ›durch Frau Besant habe ich auch den Weg zu H. P. Blavatsky gefunden‹ (MTG 1,1). Die Äußerungen vieler (allerdings vor allem kritischer) Zeitgenossen bestätigen, dass Steiner in diesen Jahren Besants Schüler war und sich als solcher verstand. Erst mit der Entfremdung im Lauf der folgenden Jahren hat er die Verehrung Besants abgelegt, aber noch 1925 gestand er ihr ›eigene Erlebnisse‹ ›aus der geistigen Welt‹ zu (GA 28,320). Seine autobiographischen Distanzierungen haben angesichts der kontradiktorischen Aussagen der frühen Quellen mutmaßlich die Funktion, die außerordentlich hohe Bedeutung dieser Frau zu verdecken.«
Die zitierte Passage ist ein Sammelsurium von Zeugnissen, das Zanders Talent, Quellen umzuinterpretieren und Behauptungen über erfundene Tatsachen durch ein Gebräu aus Fehldeutungen, Gerüchten und Unterstellungen zu »belegen«, auf seiner Höhe zeigt.
Was die Zeugnisse Steiners zu Annie Besant anbetrifft, so führt Zander eine Würdigung an, in der Steiner diese im Oktober 1902 als »religiöses Genie« bezeichnet haben soll. Er verweist auf einen Vortrag über »Monismus und Theosophie«, der in der Gesamtausgabe fehle.
Der Vortrag findet sich jedoch sehr wohl in der Gesamtausgabe (GA 51, S. 311-316. Das Referat des Vortrags findet sich hier). Zander zitiert den Vortrag jedoch nicht aus der Gesamtausgabe (da er dort ja angeblich nicht abgedruckt ist), sondern aus einer obskuren Quelle, nämlich der Zeitschrift »Psychische Studien«, in der eine Reihe von Gegnern Steiners publizierten. (Psychische Studien 29 / 1902, 750–757, Zander I, S. 703.) Dass der in dieser Zeitschrift abgedruckte, siebenseitige Beitrag authentische Äußerungen Steiners wiedergibt, ist mehr als zweifelhaft. Der Abdruck des Vortrages in der Gesamtausgabe beruht dagegen auf einem Referat, das in der vom Giordano-Bruno-Bund herausgegebenen Zeitschrift »Der Freidenker« veröffentlicht wurde, deren Leitungsausschuss Steiner seit Mitte 1902 angehörte. Steiner dürfte am Zustandekommen dieses Referates nicht unbeteiligt gewesen sein. Der betreffende Band der Gesamtausgabe ist 1983 erschienen.
Dass die von Zander zitierte Fundstelle in Möttelis »Übersichtsbänden« zur Gesamtausgabe [Register zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe: 4 Bde., Dornach 1998] nicht erwähnt wird, ist nicht auf Nichtwissen der Editoren der Gesamtausgabe zurückzuführen, wie Zander in einer Anmerkung unterstellt, sondern schlicht auf die Tatsache, dass die Polemiken anderer Autoren, die in den »Psychischen Studien« erschienen, nicht Bestandteil der Gesamtausgabe sind. Der Titel GA 51 ist jedenfalls in Möttelis Übersichtsbänden enthalten. (Zu Steiners Wirken im Giordano-Bruno-Bund siehe »Beiträge zur Gesamtausgabe«, »Rudolf Steiner und der Giordano Bruno-Bund«, Heft 79/80, Dornach, Ostern 1983.) Im Referat des Vortrags, das in GA 51 veröffentlicht ist, taucht Annie Besant nicht einmal dem Namen nach auf. Dafür findet sich die Bemerkung Steiners: »Ich kenne die großen Mängel und Fehler der theosophischen Bewegung durchaus.« (GA 51, Dornach 1983, S. 315.)
Im Juni 1902 habe Steiner, so Zander weiter, Annie Besant Marie von Sivers gegenüber als »Priesterin« bezeichnet. (Zander I, S. 703.) Es ist skandalös, aber leider wahr: nicht Rudolf Steiner hat Annie Besant als »Priesterin« bezeichnet, sondern Marie von Sivers. Bei dem zitierten Brief handelt es sich nämlich um einen Brief von Marie von Sivers an Steiner und nicht umgekehrt! (GA 262, 2002, S. 41.) Marie von Sivers schreibt am 18. Juni von London aus an Steiner in Berlin über Annie Besant: »Sie ist so sehr Priesterin in diesem Vortragszyklus, dass ich Ihnen nur raten kann – Ihnen, dem nicht viele was geben können [Hervorhebung L.R.] – sich diesen Eindruck zu verschaffen.« (GA 262, 2002, S. 41. – Der Brief im Wortlaut hier.)
Dass Steiner von der Lektüre der 1903 erschienenen deutschen Übersetzung des »Esoterischen Christentums« von Annie Besant »möglicherweise sehr bewegt« war, ist eine reine Vermutung Zanders. Steiners Buch »Das Christentum als mystische Tatsache ...« war bereits im Jahr 1902 erschienen und wenn seine Lektüre des Buches von Annie Besant ihn »möglicherweise« bewegte, dann hat sich diese Bewegtheit nirgends dokumentarisch niedergeschlagen. In einem weiter oben behandelten Aufsatz, der 1903 erschien (»Einweihung und Mysterien«, Juli bis September 1903 in »Luzifer«, heute GA 34, 1987, S. 34-66 – der Aufsatz im Wortlaut hier) und auf diese Veröffentlichung Besants Bezug nimmt, ist von einer solchen »Bewegtheit« jedenfalls nichts zu bemerken.
Dass das »Versprechen« gegenüber Marie Steiner, »in Treue« zu Annie Besants Intentionen zu handeln, vieldeutig ist, wurde weiter oben bereits gezeigt. Der betreffende Satz im Brief vom 19. April 1903 aus Weimar ist vor dem Hintergrund der damals in Deutschland vorhandenen Opposition gegen Annie Besant zu verstehen und er enthält darüber hinaus einen rätselhaften Nebensatz, der viele Deutungen zulässt. Steiner schreibt: »Für heute nur einen Richtsatz: Wir halten treu zusammen; und wir tun beide, auch gegen etwaige Missverständnisse, die in der nächsten Zeit kommen könnten, alles in vollster Treue und Hingebung an Mrs. Besants Intentionen.« (GA 262, 2002, S. 60. – Der Brief im Wortlaut hier.)
Das folgende Zeugnis Steiners wird von Zander wiederum falsch zugeordnet: er soll auf dem theosophischen Kongress in Amsterdam im Juni 1904 davon gesprochen haben, Annie Besant als Rednerin erhebe »den Geist der Zuhörer zu den Höhen göttlicher Erkenntnis«. Diese Äußerung hat Steiner aber nicht auf dem Kongress vor den versammelten Theosophen gemacht, sondern in einem Bericht über diesen Kongress, der in der Zeitschrift »Luzifer« erschien (der Bericht im Wortlaut hier). Im Übrigen enthält er keinerlei Aussage über ein Lehrer-Schüler-Verhältnis, sondern lediglich eine allgemeine Würdigung, in der zum Ausdruck gebracht wird, dass Annie Besant im Einklang mit der Mission der theosophischen Arbeit, die gegenwärtige Zivilisation wieder zum spirituellen Leben zu erheben, handle und spreche. Es wäre zumindest merkwürdig gewesen, wenn Steiner in seinem ersten Bericht über einen theosophischen Kongress die Präsidentin der Theosophischen Gesellschaft anders charakterisiert hätte. Der Bericht enthält neben dieser Würdigung Annie Besants eine ganze Reihe weiterer heute geradezu euphorisch klingender Würdigungen anderer Theosophen.
Dass Steiner in einem Brief an Mathilde Scholl Annie Besant als einen »Boten der Meister« bezeichnet hat, ist ebenfalls nicht verwunderlich. Bestand doch in der Theosophischen Gesellschaft die Überzeugung, die spirituellen Meister wirkten nicht nur inspirierend in der Arbeit der Theosophischen Bewegung, sondern insbesondere in der Esoterischen Schule. Annie Besant konnte als Leiterin der Esoterischen Schule nicht anders, denn als eine »Botin der Meister« bezeichnet werden. Wieder ist zu betonen, dass diese Äußerung nicht öffentlich erfolgte, sondern in einem Brief an eine esoterische Schülerin.
Nun finden sich auch in den Dokumenten aus der esoterischen Arbeit nicht nur Zeugnisse dafür, dass Steiner bereits vor seiner Ernennung zum Leiter der Esoterischen Schule für den deutschen Sprachraum als esoterischer Lehrer tätig wurde (aus dem Jahr 1903), sondern auch für eine beginnende Distanzierung Steiners von Annie Besant und zwar bereits im Jahr 1904.
Im August und September 1904 führte Steiner mit Günter Wagner eine Diskussion darüber, ob Vorträge Annie Besants über die »christliche Frage« ins Deutsche übersetzt werden sollten. Steiner lehnte eine solche Übersetzung ab. Man kann diese Ablehnung zwanglos mit seiner Kenntnis des Buches von Besant über das »Esoterische Christentum« in Beziehung bringen. In einem dieser Briefe betont Steiner am 14. September 1904, er habe die »Weisung«, das christliche Element zu pflegen und habe diese Weisung so interpretieren müssen, dass der Text Annie Besants nicht übersetzt werden solle. (GA 264, 1984, S. 83.)
In seiner Rezension der dann doch bei Max Altmann erschienenen Übersetzung, die er in »Luzifer-Gnosis« veröffentlichte, schreibt Steiner jedenfalls: »Hätte Annie Besant vor einem Publikum gesprochen, das in seiner Mehrzahl aus Christen bestanden hätte, so würde sie allerdings die Vorträge anders eingerichtet haben. Dessenungeachtet wird auch jeder Angehörige eines europäischen Volkes, der sich in diese Vorträge vertieft, reichlich Nahrung finden für Vernunft und Herz. Und dass sie ihre Betrachtungen von einem Gesichtspunkte anstellen, der nicht unmittelbar der seinige ist, wird nur zur Erweiterung seines eigenen Gesichtskreises beitragen.« (GA 34, 1987, S. 505. Die Rezension im Wortlaut hier.) Steiner betont also bereits hier, im August 1904, dass der »Gesichtspunkt« Annie Besants »nicht der seinige« ist.
Ein besonders eklatantes Beispiel für Zanders Verständnis von »Hardcore-Historie« stellen seine Ausführungen über das dar, was Steiner von Annie Besant gelernt haben könnte. Sie sind eine einzigartige Ansammlung von haltlosen Vermutungen. Dasselbe gilt für seine Unterstellungen über Steiners mangelnde »meditative Praxis«.
Auf S. 704 schreibt Zander:
»Wie Steiners Unterrichtung durch Besant, die vermutlich eher eine geleitete Kenntnisnahme von Inhalten war, ist unklar. Schriftliche Hinweise oder Unterweisungen sind denkbar, mündliche ebenfalls, doch dürfte es bei den wenigen, insgesamt sechs nachweisbaren Treffen zwischen 1902 und 1905 allenfalls teilweise um Belange der Esoterischen Schule und weniger um seine persönliche Spiritualität gegangen sein. In welchen Schritten Steiner in die esoterische Arbeit eintrat, ist kaum nachvollziehbar, in seiner Einsetzung als Leiter wird aber deutlich, dass die ›volle esoterische Autorisation‹ ein schrittweises Hineinwachsen voraussetzte.«
Mit anderen Worten: Über den Inhalt der Unterweisung Steiners durch Annie Besant gibt es gar nichts zu sagen, da eine solche nicht stattgefunden hat. Zander lässt aber diese Tatsache nicht gelten und konstruiert eine Reihe von Vermutungen über dieses Nichtvorhandene.
Hier noch einmal das Stakkato von Vermutungen: »Wie Steiners Unterrichtung durch Besant, die vermutlich eher eine geleitete Kenntnisnahme von Inhalten war, ist unklar. Schriftliche Hinweise oder Unterweisungen sind denkbar.« (Wiedergegeben ist der Originalwortlaut, im ersten Satz fehlt das Prädikat des Hauptsatzes.)
Im Klartext heißt dies: Es gibt schlechterdings nichts, was eine solche Unterweisung belegen könnte. Das kann Zander aber nicht zugestehen und so »vermutet« er und produziert einen Nebel in dem sich »Unklarheit« findet, wo doch die Tatsachen eine überaus klare Sprache sprechen. In einer Anmerkung muss er zugestehen, dass die ihm von der Nachlassverwaltung zur Verfügung gestellten (!), bisher unveröffentlichten Schreiben Besants an Steiner »keinerlei Schulungsmaterial« enthielten. (Zander I, S. 704, Anmerkung 569) Aber das tut nichts zur Sache, denn entgegen den Tatsachen sind ja doch schriftliche Hinweise und Unterweisungen – nun was? – eben »denkbar«. Denkbar ist bekanntlich alles – was aber diese Art von Geschichtsforschung mit Hardcore-Historie zu tun haben soll, ist schwer zu erkennen und erinnert eher an einen Kolportageroman.
Damit nicht genug: auch »mündliche« Unterweisungen sind – nun ja – »denkbar«. »Denkbar« ist auch, dass Steiner bei den »insgesamt sechs nachweisbaren Treffen« mit Annie Besant – intim geworden ist! Aber Zander vermutet nicht dies, sondern bloß, dass es bei diesen Treffen weniger um die persönliche Spiritualität Steiners, als um Belange der Esoterischen Schule gegangen sei. Doch auch dafür gibt es keinerlei Belege. Die »bemerkenswerte Leerstelle« von der Zander auf der folgenden Seite spricht, die »fehlenden Indizien«, dass Steiner »selbst meditiert hätte«, sie finden sich schon hier, nämlich in Zanders eigenem Bewusstsein. Die Leerstelle aber, die seine These belegen soll, Steiner habe von Besant gelernt, füllt er im Gegensatz zu jener anderen »Leerstelle« mit den Produkten seiner Phantasie aus. Es bedarf jedoch einer viel geringeren Phantasie, um sich vorzustellen, dass Steiner selbst meditiert hat, als sich vorzustellen, er habe von Annie Besant esoterische Unterweisungen erhalten, zumal Steiner selbst das erstere bejaht, das letztere verneint.
Zanders Mutmassungen zum Thema spirituelle Erfahrung in Steiners Biografie gipfeln in folgender abstruser Behauptung (S. 705):
»Andererseits gibt es eine bemerkenswerte Leerstelle. Es fehlen Indizien, dass Steiner selber meditiert hätte. In den Memoiren aus seinem engeren Umfeld, etwa Marie von Sivers’, sind mir jedenfalls keine Belege dafür bekanntgeworden.
Die Meditationen, die er an seine Schüler gab, hatten zwar theosophische Wurzeln, waren aber, nach allem, was augenblicklich historisch ermittelbar ist, Produkte eines selbsternannten Lehrers ohne praktische Erfahrung.«
In seiner Autobiografie jedenfalls spricht Steiner über seine meditative Praxis bereits vor der Zeit, als er in Weimar mit der Editionstätigkeit an Goethe begann (also vor 1890). Hier führt er im Hinblick auf die Bedeutung des Goetheschen Märchens von der grünen Schlange und der schönen Lilie aus: »Aber, wenn ich zunächst auch für meine Goethe-Schriften durch das Versenken in das Märchen nichts gewann, so ging doch eine Fülle von Seelenanregungen davon aus. Mir wurde, was sich an Seeleninhalt in Anlehnung an das Märchen ergab, ein wichtiger Meditationsstoff [Hervorhebung L.R.]. Ich kam immer wieder darauf zurück. Ich bereitete mir mit dieser Betätigung die Stimmung vor, in der ich in meine Weimarer Arbeit später eintrat.« (GA 28, 1962, S. 183)
Und über seine geistige Situation am Ende der Weimarer Zeit (1897) schreibt Steiner ebenda: »Ich erkannte im seelischen Erleben das Wesen der Meditation und deren Bedeutung für die Einsichten in die geistige Welt. Ich hatte auch früher schon ein meditatives Leben geführt [Hervorhebung L.R.], doch kam der Antrieb dazu aus der ideellen Erkenntnis seines Wertes für eine geistgemäße Weltanschauung. Nunmehr trat in meinem Innern etwas auf, das die Meditation forderte [Hervorhebung L.R.] wie etwas, das meinem Seelenleben eine Daseinsnotwendigkeit wurde. Das errungene Seelenleben brauchte die Meditation, wie der Organismus auf einer gewissen Stufe seiner Entwickelung die Lungenatmung braucht.« (GA 28, 1962, S. 323) Für die ideell-geistige Erkenntnis »ist notwendig, dass die Seele in einer fortdauernden lebendigen Wechselwirkung stehe mit der Welt, in die man sich durch diese Erkenntnis versetzt. Das geschieht durch die Meditation, die ... aus der ideellen Einsicht in den Wert des Meditierens hervorgeht. Diese Wechselwirkung hatte ich schon lange vor meinem Seelenumschwunge (im fünfunddreißigsten Lebensjahre) gesucht.« (GA 28, 1962, S. 324-325) Genau dies ist jene Form von Gedanken-Meditation, die Steiner in seinen Schriften zur Geistesschulung nach der Jahrhundertwende empfiehlt. »In einer solchen aus innerer geistiger Lebensnotwendigkeit geübten Meditation«, fährt die Schilderung fort, »entwickelt sich immer mehr das Bewusstsein von einem ›inneren geistigen Menschen‹, der in völliger Loslösung von dem physischen Organismus im Geistigen leben, wahrnehmen und sich bewegen kann. Dieser in sich selbständige geistige Mensch trat in meine Erfahrung unter dem Einfluss der Meditation. [Hervorhebung L.R.].« (GA 28, 1962, S. 326) Durch die geistigen Erfahrungen anhand der meditativen Praxis gewann Steiner eine genauere Einsicht in die Bedeutung der drei unterschiedlichen Formen des Erkennens, von denen er in diesem Kapitel spricht (GA 28, 1962, S. 326-327).
Aber all diese Selbstzeugnisse sind für Zander nichts als »Leerstellen«, da Selbstzeugnisse in seinem hermeneutischen Kosmos schlechterdings nicht existieren oder ausschließlich als Anlässe für Dekonstruktionen und Entlarvungen herhalten müssen. Dass Zander sich an dieser Stelle, an der es um die vitale Frage geht, ob Steiner aus einer eigenen meditativen Praxis heraus zum Geisteslehrer werden konnte, oder sich bloß aus Hochstapelei zu einem solchen ernannte, diese Selbstzeugnisse vollständig ignoriert, zeigt lediglich, wie wenig ernst er seinen Gegenstand nimmt.
Die Frage, woraus Steiner sein »Schulungsmaterial« geschöpft haben könnte, gibt Zander Anlass zu wilden Vermutungen. So »vermutet« er Quellen in Blavatskys »Geheimlehre«, die aber keinerlei Anweisungen zur Esoterischen Schulung enthält. Blavatskys »Stimme der Stille« »könnte« ebenso als Grundlage gedient haben, wie »vielleicht« Mabel Collins Buch »Licht auf den Weg«.
Zanders Hardcore-Prosa liest sich im Original wie folgt (S. 704-705):
»An erster Stelle könnten Eindrücke aus Blavatskys ›Geheimlehre‹ gestanden haben, am 20. August 1902 war er jedenfalls mit dem ›fortwährenden Nachschlagen‹ in dieser Schrift beschäftigt (s. o. 7.2), und noch 1905 bemühte er sich um die Verdeutlichung schwer verständlicher Stellen im dritten Band der ›Geheimlehre‹ (vgl. GA 93a,268) ...
Als didaktische Grundlage seiner Schulung könnte Blavatskys »Stimme der Stille‹ gedient haben, die Steiner an seine eigenen Schüler im Mai 1904 weiterreichte (GA 245,147–157). Vielleicht hat er auch Mabel Collins’ Buch ›Licht auf den Weg‹, das er überaus schätzte, mit dem Schulungsmaterial der Esoterischen Schule kennengelernt und dann seine ›Lehren‹ ›der inneren Konzentration‹ weiterempfohlen (GA 94,45) ... «
Dass Steiner als esoterischer Lehrer im Rahmen einer »Esoteric School« tätig wurde, entsprach seinem Selbstverständnis, das auch bereits für seine Zuwendung zur Theosophischen Bewegung Ausschlag gebend war. Denn bereits seine Vortragsreihen in den beiden Jahren vor der Übernahme der Leitung der deutschen Sektion bezeugen deutlich vernehmbar, dass sich hier ein Meister – ein Meister des inneren spirituellen Lebens ausspricht.
Die nähere Analyse dieser Schriften weiter oben hat gezeigt, dass sie eine ganze Reihe von Aussagen über spirituelle Erfahrungen der Wiedergeburt, der inneren geistigen Erneuerung enthalten, die nur verstanden werden können, wenn sie als Andeutungen authentischer mystischer Erlebnisse des Verfassers verstanden werden. Aber bereits die Schriften vor der Jahrhundertwende enthalten solche Äußerungen, die man findet, wenn man sie nicht absichtlich überliest. So heißt es etwa in der ersten Auflage des Buches »Goethes Weltanschauung« 1897:
»Die Mathematik ist ein Ergebnis reiner Gedankenprozesse, ihr Inhalt ist ein geistiger, subjektiver. Und der Mechaniker, der die Naturvorgänge in mathematischen Zusammenhängen vorstellt, kann dies nur unter der Voraussetzung, dass diese Zusammenhänge in dem Wesen dieser Vorgänge begründet sind ... Zwischen den mathematischen Raum- und Zahlenvorstellungen und den intimsten, geistigsten Erlebnissen ist aber kein Art-, sondern nur ein Gradunterschied. Und mit demselben Rechte wie die Ergebnisse der mathematischen Forschung kann der Mensch andere innere Erlebnisse, andere Gebiete seiner Ideenwelt auf die Anschauung übertragen ... Wer von der Kälte der Ideenwelt spricht, der kann Ideen nur denken, nicht erleben. Wer das wahrhafte Leben in der Ideenwelt lebt, der fühlt in sich das Wesen der Welt in einer Wärme wirken, die mit nichts zu vergleichen ist. Er fühlt das Feuer des Weltgeheimnisses in sich auflodern.« (S. 52-53; 61, der ersten Auflage.)
Steiner wurde von jenen Theosophen, die eine Sektionsgründung unter seiner Leitung anstrebten, aufgrund solcher inneren Erlebnisse, die seinem Charisma der Authentizität zugrunde lagen, von Anfang an als potentieller spiritueller Lehrer wahrgenommen.
Auch er selbst sah sich als solchen. Es sei nur an seine briefliche Äußerung vom 16. August 1902 gegenüber Wilhelm Hübbe-Schleiden erinnert, er wolle »auf die Kraft bauen«, die es ihm ermögliche, »›Geistesschüler‹ auf den Weg der Entwicklung zu bringen. Das wird meine Inaugurationstat allein bedeuten müssen.« (Briefe, Bd. II, 1953, S. 270. – Der Brief im Wortlaut hier.)
Zu dieser Lehrtätigkeit, die sich im Wesentlichen auf die meditative Praxis bezog, sind – leider nur wenige erhaltene – Dokumente aus dem Jahr 1903 in der Gesamtausgabe veröffentlicht, die einen Einblick in die intimen Fragen vermitteln, die Gegenstand der Erörterungen zwischen Lehrer und Schüler waren (Siehe die Bände GA 262-265).