Bei seinen Erörterungen über die »Theosophie als Antwort auf den Historismus« führt Zander eine Reihe von Autoritäten an, die er mit Steiners Geschichtsauffassung kontrastiert. Zuerst wird Johann Gustav Droysens »Historik« herangezogen, der Zander als wesentliche Einsicht die prinzipielle Überholbarkeit historiographischer Ergebnisse zuschreibt. Geschichtswissenschaft sei zur unabschließbaren Forschungswissenschaft geworden. Gegen einen »supranaturalistischen« Überbau der Geschichtsforschung habe Droysen sich gewandt, aber, so muss Zander konzedieren, dennoch an der Gewissheit des höchsten Zweckes, an der »Theodizee« der Geschichte, festgehalten.

Abgesehen von dieser Teleologie lese sich Steiners Geschichtskonstruktion wie eine »diametrale Gegenposition« zu Droysens Begrenzung der Forschung auf quellenvermittelte Erkenntnis, so Zander.

»Gegen die Vorläufigkeit quellengestützter Forschung« habe Steiner die Objektivität und Endgültigkeit einer übersinnlichen Erkenntnis gesetzt.

Auf S. 745 schreibt Zander:

»Gegen den philosophischen Überbau der Geschichtsschreibung durch eine ›supranaturalistische und materielle Weltanschauung‹ hat sich Droysen verwahrt, aber nur soweit es um eine ›falsche Alternative‹ gehe: Die ›Gewissheit der Zwecke und des höchsten Zweckes sowie der ›Theodizee‹ der Geschichte suchte er festzuhalten. Abgesehen von dieser Teleologie liest sich Steiners theosophische Geschichtskonstruktion wie eine diametrale Gegenposition zu Droysens Begrenzung der historischen Forschung auf quellenvermittelte Erkenntnis. Gegen die Deutungsabhängigkeit und Vorläufigkeit quellengestützter Forschung setzte Steiner die Objektivität und Endgültigkeit einer ›übersinnlichen‹ Einsicht, die den prinzipiellen Relativismus der kritischen Geschichtswissenschaft sistierte.«

Was ist aber, wenn man von jener Teleologie, von der Theodizee der Geschichte, an der Droysen festhielt, nicht absieht? Man kann von diesem essentiellen Deutungsrahmen der Droysenschen Geschichtsauffassung ebensowenig absehen, ohne diese Auffassung zu etwas grundlegend anderem zu machen, wie man von Hegels Grundauffassung absehen kann, der »absolute Geist« habe sich in seinen einzelnen Erscheinungsformen in Natur und Geschichte entäußert. Auch mit seinen gegen Steiner zu Autoritäten hochstilisierten Heroen der Geschichtswissenschaft verfährt Zander bei genauerem Hinsehen nicht anders als mit Steiner.

Für Droysen ist die geschichtliche Arbeit nach Zwecken ausgerichtet. (Johann Gustav Droysen, Historik, Stuttgart 1977, S. 411, nach der ersten handschriftlichen Fassung).

In der handschriftlichen Fassung seiner »Historik« (§§ 72-79) sind diese Zwecke die sittlichen Mächte, Ideen, die sich der Menschheit in der Bewegung der Geschichte erschließen. Die Bewegung der Geschichte fasst die besonderen Zwecke zu höheren Zwecken zusammen. Die Geschichte ist der Gattungsbegriff des Menschen.

Die Epochen der Geschichte sind nicht Lebensalter dieses »Ich der Menschheit«, sondern Stadien ihrer Welterkenntnis, Selbsterkenntnis, Gotteserkenntnis. So werdend arbeitet die Menschheit, sich zu vollenden: in der »Rückleitung der Schöpfung zu Gott«, in der »Erziehung des Menschengeschlechts«, in der »Vollendung der sittlichen Mächte«, dass das vielzerrissene Geschlecht sich in der Idee der Menschheit ein Hirt und eine Herde, ein Gottesreich sei, in der »königlichen Vollfreiheit des sittlichen Menschen«, in der »Heimkehr des ewigen Logos aus der Weltwerdung und Menschwerdung in den Schoß Gottes«.

»Obwohl dem endlichen Auge Anfang und Ende verhüllt ist, kann es doch forschend die Richtung des Stroms erkennen, woher er kommt, wohin er geht. Es sieht das All erfüllt von dem Licht, in dem und aus dem alles ist; und sein Schein ist ein Widerschein dieses Lichts. Es ertrüge den Glanz des Urlichts nicht, aber an den durchleuchteten Sphären sich übend ahnt es immer größere Weiten, immer umfassendere Empyreen. Ein Kreis in den Kreisen ist die Menschenwelt und ihre Geschichte; und das geschichtlich Große ein Sonnenstäubchen in der Theophanie. Die Geschichte ist nicht das Licht und die Wahrheit, aber eine Weihe dazu, ein Johannes: ich bin nicht das Licht, aber ich zeuge vom Licht.« (Johann Gustav Droysen, Historik, Stuttgart 1977, S. 410-411).

Wie unschwer zu erkennen ist, gründet Droysens Auffassung von Geschichte in der christlichen Logoslehre: die Menschheit ist von Gott ausgegangen, um zu ihm zurückzukehren, von ihm durchdrungen, findet sie in der geschichtlichen Bewegung zu sich selbst und damit zu ihm. In diesem Sinne ist die Geschichte eine Theophanie, die Geschichtsschreibung Theognosie.

Dieser Grundgedanke liegt aber auch Steiners Geschichtsverständnis zugrunde, die Nähe Droysens zu Steiner ist im Grundsätzlichen geradezu frappant. Nur wenn man bei Droysen von dieser essentiellen Grundbestimmung der historischen Arbeit, von seiner Idee der Geschichte absieht, kann man behaupten, Steiners »Geschichtskonstruktion« sei eine »diametrale Gegenposition« zu derjenigen Droysens.

Mit Droysen kann man nicht gegen eine Teleologisierung der Geschichte bei Steiner argumentieren, ganz abgesehen von der Frage, was eigentlich unter »Teleologisierung« zu verstehen ist und ob der Verzicht auf jegliche Form der »Teleologisierung« (der Zielorientierung oder Zielgerichtetheit) nicht dem Begriff der Geschichte jeden Boden entzieht. Aber dass Zanders Konstruktionen meist auf künstlich erzeugten Gegensätzen und Widersprüchen beruhen, ist nach dem Bisherigen nichts Neues.

Zander zieht Jacob Burckhardt als Vertreter des Historismus heran, der nach einer geschichtsphilosophischen Antwort auf den kulturellen Wandel gesucht habe. Hierin sei er Steiner »strukturell« verwandt.

Für Burckhardt habe die Lösung im Ideal einer autonomen Lebensführung gelegen, die das historisch Kontingente zu bewältigen vermöge. Steiner hingegen habe zwar theoretisch die Autonomie des Individuums hoch geschätzt, diese aber praktisch in einen festgelegten Gang der Geschichte eingefügt, der »festliegende Geschichtsverlauf der Kosmologie« in der »Geheimwissenschaft« und die »finalisierte Kulturevolution in der Akasha-Chronik« wirkten wie »Bollwerke gegen die schwankenden Konjekturen Burckhardts«.

Auf S. 746 schreibt Zander:

»Burckhardt sah die Historisierungsfolgen, an deren Genese er mitwirkte, und suchte nach einer geschichtsphilosophischen Antwort, in diesem Ansatz Steiner strukturell durchaus verwandt. In einer ›bewegten Periode‹ wie der seinen sei in der ›Betrachtung und Erforschung des Früheren und Seitherigen‹ ein ›Gegengewicht‹ zu schaffen, wolle man nicht ›alle Besinnung verlieren‹. Destruktive und konstruktive Effekte der Geschichtsforschung wirken bei Burckhardt zeitgleich und in nachgerade zirkulärer Verklammerung. Seine Lösung lag im Ideal einer autonomen Lebensführung, die historischen Kontingenzen [sic!] bewältigte. Steiner ging einen anderen Weg als Burckhardt, indem er die theoretisch hochgeschätzte Autonomie des Individuums praktisch wieder in einen festliegenden Gang der Geschichte einfügte: Der festliegende Geschichtsverlauf in der Kosmologie der ›Geheimwissenschaft‹ und die finalisierte Kulturevolution in der Akasha-Chronik wirken wie Bollwerke gegen die schwankenden Konjekturen Burckhardts.«

Allerdings stellen sich diese »schwankenden Konjekturen« Burckhardts bei näherem Hinsehen als granitene Fundamente dar.

Das zeigt sich sowohl in seiner Aufgabenbestimmung der historischen Erkenntnis, als auch in seinen Leitideen, die alles andere als schwankend sind.

In Burckhardts »Weltgeschichtlichen Betrachtungen« kommt dem historischen Denken die Aufgabe zu, angesichts des Bruchs zwischen Vergangenheit und Gegenwart im Revolutionszeitalter eine Kontinuität zu bewahren, deren Inhalt das Erbe der christlich-abendländischen, konservativ-elitär verstandenen Kulturwerte ist, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft über alle Brüche und Diskontinuitäten hinweg umgreift.

Es gibt für Burckhardt im Gegenüber der Revolutionsepoche und des Dahinströmens der Zeit einen allgemein gültigen Maßstab, an dem sich die geschichtliche Arbeit ausrichtet: es ist das, was er als Kontinuität bezeichnet.

Die Kontinuität beruht auf der bewussten Fortsetzung der geschichtlichen Tradition und diese muss gegen den revolutionären Willen ständiger Erneuerung festgehalten werden. Das geschichtliche Bewusstsein selbst ist es, das sich gegen das alles verschlingende Fortströmen des Geistes der Negativität stellt.

Die Tendenzen, die mit der französischen Revolution zu Tage getreten waren, setzten sich aus Burckhardts Sicht in seiner Gegenwart fort und er fürchtete, diese Tendenzen würden zu einem Bruch mit allen bedeutenden Werten der europäischen Überlieferung führen.

Seine Geschichtsauffassung ist nur aus seiner radikalen Ablehnung des revolutionären Zeitalters zu verstehen. Das historische Bewusstsein besitzt laut Burckhardt eine Mission, die darin besteht, die drohende Auflösung des alten Europa aufzuhalten. Darin liegt die Finalität der historischen Wissenschaften innerhalb der Historie, und damit auch der metaphysische Sinn der Geschichte.

Aufgrund dieses finalistischen Geschichtsbewusstseins werden die Ereignisse, die das Kontinuum der westlich-abendländischen Tradition geschaffen haben, von ihm durchaus teleologisch gedeutet. Sie ist durch die Hellenisierung des Orients nach Alexander dem Großen, die politische und kulturelle Einigung unter Rom und die Erhaltung des Bestands der abendländischen Kultur durch die christliche Kirche geschaffen worden. In dieser 2000 Jahre umfassenden geschichtlichen Bewegung ist ein historischer Zweck großen Ausmaßes zu erkennen. »Es fragt sich hierbei nicht, ob Weltmonarchien überhaupt wünschbar seien, sondern, ob die römische ihren Zweck, die große Ausgleichung der alten Kulturen und die Verbreitung des Christentums ... erfüllt habe oder nicht. Ohne die römische Weltmonarchie hätte es keine Kontinuität der Bildung gegeben ... Das unerhörte Glück für die Weltkultur lag in dem Philhellenismus, der die Römer beherrschte ... Ihm verdanken wir ausschließlich die Kontinuität der geistigen Überlieferung.« (Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen = WB, Berlin 1963, S. 82)

Eben dieser Zweck ist durch das Zeitalter der Revolution bedroht. Insofern ist Burckhardts Geschichtsphilosophie pessimistisch und von einem übergreifenden Ordnungsgedanken bestimmt.

Darüber hinaus ist Burckhardts Deutung der Geschichte in seinen »Weltgeschichtlichen Betrachtungen« von einem sozialdarwinistischen Subtext durchdrungen, der ebenso seinem erklärten Verzicht auf eine Philosophie der Geschichte widerspricht, der sich ohnehin nur gegen die Spekulationen der Hegelschen Geschichtsphilosophie wendet, nicht gegen den Eintrag philosophischer Kategorien in die Geschichtsbetrachtung überhaupt.

Das Böse nimmt als Kontrastfolie zum »uneigennützigen Guten« in der großen weltgeschichtlichen Ökonomie eine notwendige Rolle ein, es ist die Gewalt, das Recht des Stärkeren über den Schwächeren, vorgebildet schon im Kampf ums Dasein, der die ganze Natur, Tier- und Pflanzenwelt, erfüllt, weitergeführt in der Menschheit durch Mord und Raub in früheren Zeiten, durch Verdrängung, Vertilgung oder Knechtung »schwächerer Rassen«, schwächerer Völker innerhalb derselben Rassen, schwächerer Staatenbildungen, schwächerer gesellschaftlicher Schichten innerhalb desselben Staates und Volkes. (Jacob Burckhardt, Über Glück und Unglück in der Weltgeschichte = GUW, Berlin 1963, S. 195-196) Schon die Naturgeschichte zeigt einen »angstvollen Kampf ums Dasein« »und dieser nämliche Kampf erstreckt sich bis weit in Völkerleben und Geschichte hinein.« (GUW, S. 196)

Das eherne Gesetz der geschichtlichen Entwicklung findet seinen vielleicht höchsten Ausdruck im Krieg, denn der Krieg ist »ein notwendiges Moment höherer Entwicklung«, erst in ihm erfährt ein Volk »seine volle Nationalkraft«, im vergleichenden Kampf gegen andere Völker, weil sie nur darin vorhanden ist. Im Kampf bewährt sich auch der »physische Adel der Rasse«. (GUW, S. 191) Dieser Krieg kann auch zur »Vernichtung ganzer Völker« führen; wenn sie bereits »verkalkt« waren, ist diese Vernichtung Ausdruck einer geschichtlichen Notwendigkeit. (WB, S. 131)

Eine Überzeugung wird nach Burckhardts Auffassung allgemeine Zustimmung finden: das »Königsrecht der Kultur zur Eroberung und Knechtung der Barbarei, welche nun blutige Kämpfe und scheußliche Gebräuche aufgeben und sich den allgemeinen sittlichen Normen des Kulturstaates fügen müsse.« (WB, S. 47)

Für ihn ist jedoch fraglich, ob solche Eroberung und Knechtung zu einer wirklichen Zivilisierung führt, »was aus den Nachkommen von Herrschern und von überwundenen Barbaren, zumal anderer Rassen Gutes kommt, ob nicht ihr Zurückweichen und Aussterben (wie in Amerika) wünschbar ist.« (WB, S. 47)

Nur jene Invasionen stellen eine Verjüngung dar, die von einem »jungen kulturfähigen Volk gegen ein älteres Kulturvolk ins Werk gesetzt werden«, wie im Fall der germanischen Völker gegenüber den Römern. Die Mongolen hingegen, die im Ganzen eine andere und »geistig geringere Rasse« waren, konnten in Europa nur Verwüstungen hinterlassen. Selbst »hochstehende kaukasische Rassenvölker«, wie die osmanischen Türken, können »durch nomadische und kriegerische Anlagen in Verbindung mit einer besonderen Religion zu permanenter Barbarei«, »zur Unfähigkeit in höhere Kulturen einzumünden, verurteilt sein«. Manche Völker können selbst durch das Christentum nicht sonderlich gehoben werden, wie die Abessinier und andere »ganz verkommene und geistig unfähige Völker«. (WB, S. 121)

Die Religionen stehen ebenso in einer Hierarchie wie die Rassen, aus denen sie hervorgehen. So scheiden die Religionen der »geringern Rassen, der Negervölker, der Wilden und Halbwilden« von vornherein aus den »Weltgeschichtlichen Betrachtungen« aus, da diese Völker oder Rassen den Geist überhaupt nie aus der Natur entbinden (WB, S. 49) ihr Tun »geschichtslos« und »rassenhaft unfrei« ist (WB, S. 29).

Alle Völker und Nationen durchlaufen in der Geschichte Zeiten der Jugend, der Reife und des Verfalls, des Niedergangs. Jedes Element der Kultur hat, »so gut wie Staat und  Religion sein Werden, Blühen, d.h. völliges Sichverwirklichen, Vergehen und Weiterleben in der allgemeinen Tradition (soweit es dessen fähig und würdig ist).« (WB, S. 61)

Andererseits kennt Burckhardt auch Volks- und Zeitgeister: der spezifische Volksgeist prägt den »Organismus« des Volkes in seiner Entwicklung (WB, S. 41), er kennt unterschiedliche Volkstypen: Völker des »Weltlebens und der Arbeit«, wie die Holländer und Engländer, solche der »Extase und der Kontemplation«, wie die Deutschen.

Ebenso sind die Sprachen eine höchst »spezifische Offenbarung« der Volksgeister, das ideale Bild derselben, das dauerhafteste Material, in das sie die Substanz ihres geistigen Lebens niederlegen (WB, S. 61), die Poesie ist in ihren Anfängen eine national-religiöse Offenbarung, eine Manifestation des Volksgeistes (WB, S. 71), aus den epischen Sängern der Frühzeit spricht der konzentrierte Volksgeist, der sich in ihnen »magisch« zusammenfasst, ebenso sind die Architektur und andere Künste Äußerungen des jeweiligen Geistes eines Volkes. (WB, S. 76) Die Religion stellt einen wesentlichen, für alle Zeit bestimmenden Faktor in der Entwicklung eines Volksgeistes dar. (WB, S. 90)

Was den Zeitgeist anbetrifft, so ist die Machtentfaltung Ludwig XIV. »eine gewaltsame Restauration gegen den wahren Geist der Zeiten, der seit dem 16. Jahrhundert auf politische und intellektuelle Freiheit« hindrängte (WB, S. 84), und die katholische Kirche, die sich seit den Ketzerkreuzzügen im 12. Jahrhundert des weltlichen Arms der Macht bedient, steht als rücksichtslose Reaktion »gegen den eigentlichen Geist der Zeit« (WB, S. 99), seitdem sie in der Gegenreformation das Bündnis von Thron und Altar eingegangen ist, ist sie »dem modernen politischen Völkergeist direkt zuwider«. (WB, S. 100)

All diese Anschauungen Burckhardts setzen eine Teleologisierung, eine Philosophie der Geschichte voraus, widersprechen Zanders These von der Entmythologisierung der Geschichte durch den Historismus, und heben den zu Steiner konstruierten Gegensatz auf. Es ist im übrigen sonderbar, wenn Zander so penetrant auf der gefährlichen Nähe Steiners zum Rassismus insistiert, den nach seinen Kriterien in von ihm herangezogenen Kontrastautor Burckhardt tatsächlich vorhandenen Rassismus aber stillschweigend toleriert.

Für Steiner ist das »menschliche Individuum Quell aller Sittlichkeit und Mittelpunkt des Erdenlebens« (GA 4, Dornach 1995, S. 174) und diese Grundüberzeugung wird durch seine spätere Periodisierung der Geschichte nicht aufgehoben.

Was die Entfaltung in der Vergangenheit veranlagter Entwicklungstendenzen, die sich auf Rahmenbedingungen der menschlichen Existenz beziehen, in der Zukunft betrifft, so führt Steiner in der »Geheimwissenschaft im Umriss« aus: »Wer da meint, dass die menschliche Freiheit mit dem Vorauswissen und Vorausbestimmtsein der zukünftigen Gestaltung der Dinge nicht vereinbar sei, der sollte bedenken, dass des Menschen freies Handeln in der Zukunft ebensowenig davon abhängt, wie die vorausbestimmten Dinge sein werden, wie diese Freiheit davon abhängt, dass er sich vornimmt, nach einem Jahr in einem Hause zu wohnen, dessen Plan er gegenwärtig feststellt. Er wird in dem Grade frei sein, als er es nach seiner inneren Wesenheit sein kann, eben in dem Hause, das er sich gebaut hat; und er wird auf dem Jupiter und der Venus so frei sein, wie es seinem Innern entspricht, eben innerhalb der Verhältnisse, die dort entstehen werden. Freiheit wird nicht abhängen von dem, was durch die vorhergehenden Verhältnisse vorausbestimmt ist, sondern von dem, was die Seele aus sich gemacht hat.« (GA 13, Dornach 1989, S. 413-414)

Die Geschichte geht nach der Darstellung der »Geheimwissenschaft im Umriss« zwar einem Ziel entgegen, dem Ziel der Rückkehr in Gott, aber dieses Ziel ist nur unter Einschluss der menschlichen Freiheit erreichbar und insofern ist offen, ob sie dieses Ziel auch tatsächlich erreicht und wie, auf welchem Wege, sie es erreicht.

Von einer »Finalisierung« der Kulturevolution in der »Akasha-Chronik«, wie Zander sie unterstellt, kann insofern keine Rede sein, als sich deren Darstellung auf die Vergangenheit und nicht auf die Zukunft bezieht. Die »Akasha-Chronik« schildert die gewordene und nicht die werdende Geschichte, eine Finalisierung kann sich aber nur auf die Zukunft beziehen.

Dass der gewordenen Geschichte ein Richtungssinn innewohnt, der auf die Ermöglichung und Realisation der Freiheit abzielt, steht weder im Widerspruch zur zentralen Bedeutung des Individuums für Steiners Geschichtsverständnis, noch widerstreitet es der Kontingenz. Kontingenz entfaltet sich jeweils innerhalb der Rahmenbedingungen, von denen die Kulturentwicklung abhängt. Das Vorhandensein solcher Rahmenbedingungen zu leugnen würde bedeuten, die Voraussetzungen der menschlichen Existenz auf der Erde zu ignorieren.

Dass diese Rahmenbedingungen der Kulturentwicklung nach anderen zeitlichen Verlaufsformen evolvieren als die Kultur, ist eine Einsicht, die sich nicht zuletzt aus den Forschungsarbeiten der französischen Annales-Schule gewinnen lässt, die das Augenmerk auf die unterschiedlichen Ebenen der Wirklichkeit gelegt hat, in die das geschichtliche Wesen des Menschen eingebettet ist.

Die von Fernand Braudel unterschiedenen Ebenen – die materiellen Lebensgrundlagen und geographischen Rahmenbedingungen mit ihrer »longue durée«, die Zyklen sozialer und wirtschaftlicher Konjunkturen mit ihren Verlaufsformen zwischen 30 und 100 Jahren sowie die kurzzeitigen Ereignisse der politischen und kulturellen Geschichte – lassen sich unschwer mit jenen ontologisch-spirituellen Schichten in Beziehung setzen, in die nach Steiner der Mensch verflochten ist. (Siehe Fernand Braudel, Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II,  Frankfurt a.M. 1990, ders,. Schriften zur Geschichte I und II, Stuttgart 1992, 1993.)

Die nahezu immobilen Rahmenbedingungen der Geschichte »mit ihren mineralischen Landschaften, Äckern und Blumen« (Braudel) können zum langzeitlichen Horizont der Zeitgeister in Beziehung gesetzt werden, die sozialen und ökonomischen Konjunkturen mit ihren »Lebens- und Wachstumsrhythmen« (Braudel) zum Wirken der Erzengel und die an die »großen Männer«, an ihre Ideen und Taten gebundene politische und kulturelle Geschichte der »ruhelos wogenden Oberflächen« (Braudel) zu den Engeln, die, wie Steiner in GA 121 ausführt, zwischen den Erzengeln und den historischen Individuen vermitteln. (Siehe GA 121, Vorträge vom 8. und 9.6.1910, Dornach 1982.)

Auch die als »Mentalitäten« bezeichneten Vorstellungswelten und Denkmuster sozialer Gruppen und ganzer Epochen, denen sich die Annales-Historiker zuwandten, verweisen auf die kollektiven Denk- und Bewusstseinsformen, deren Beharrungsvermögen nach Steiner darauf zurückzuführen ist, dass sie substantiell in den »morphogenetischen Feldern« der »Zeit«- und »Denkgeister« verwurzelt sind. (Siehe GA 121, Vorträge vom 8. und 9.6.1910, Dornach 1982.)

Zander beruft sich auch auf Max Weber, den er sowohl hinsichtlich der »Wertbindung des Forschers« als auch der »historischen Relativierung aller wissenschaftlichen Erkenntnis« als Autorität gegen »Steiners Theorem der subjektunabhängigen und kulturinvarianten ›objektiven‹ Erkenntnis« ins Feld führt. Auch der »religiösen Verwendung von Geschichtsphilosophie« habe Weber eine Absage erteilt. Damit habe er der Theosophie diametral entgegengesetzte Positionen bezogen.

Auf S. 749-750 schreibt Zander:

»Sowohl hinsichtlich der Wertbindung des Forschers als auch hinsichtlich der historischen Relativierung aller wissenschaftlichen Erkenntnis ließe sich Webers Position als Dementi von Steiners Theorem der subjektunabhängigen und kulturinvarianten ›objektiven‹ Erkenntnis lesen. Auch der religiösen Verwendung von Geschichtsphilosophie, sowohl hinsichtlich letzter Antworten im Sinn religiösen Heils als auch für die Konstitution von Totalitäten, die durch keine Forschung mehr überholbar sein sollten, hat Weber den Abschied gegeben und damit ebenfalls eine der Theosophie diametral entgegengesetzte Position bezogen.«

Zanders Weberrezeption ist genauso verquer wie seine Rezeption der Anthroposophie. Weber war mitnichten Vertreter eines Wertepluralismus.

Vielmehr war er der Überzeugung, die Werte stünden in einem antagonistischen Verhältnis zueinander und es sei notwendig, sich für bestimmte Werte zu entscheiden. »Es handelt sich nämlich zwischen den Werten letztlich überall und immer wieder nicht nur um Alternativen, sondern um unüberbrückbar tödlichen Kampf, so wie zwischen ›Gott‹ und ›Teufel‹. Zwischen diesen gibt es keine Relativierungen und Kompromisse ... Die aller menschlichen Bequemlichkeit unwillkommene, aber unvermeidliche Frucht vom Baum der Erkenntnis ist gar keine andere als eben die: um jene Gegensätze wissen und also sehen zu müssen, dass jede einzelne wichtige Handlung und dass vollends das Leben als Ganzes, wenn es nicht wie ein Naturereignis dahingleiten, sondern bewusst geführt werden soll, eine Kette letzter Entscheidungen bedeutet, durch welche die Seele ... ihr eigenes Schicksal: – den Sinn ihres Tuns und Seins heißt das – wählt. Wohl das gröblichste Missverständnis, welches den Ansichten der Vertreter der Wertkollision gelegentlich immer wieder zuteil geworden ist, enthält daher die Deutung dieses Standpunkts als ›Relativismus« ...« (Max Weber, Der Sinn der »Wertfreiheit« der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1968, S. 507 f.)

Weber war weder Relativist noch Pluralist. Während der Relativismus die relative Gültigkeit unterschiedlicher Werte anerkennt und der Pluralist die Anerkennung einer Vielzahl unterschiedlicher Werte zum Prinzip erhebt, ist die Welt für Weber ein Dschungel von Werten, die sich in einem ewigen und tödlichen Kampf ums Dasein befinden. »Die alten vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf.« (Max Weber, Wissenschaft als Beruf, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1968, S. 605.)

Vor 1900 war diese sozialdarwinistische Sicht der kulturellen Konkurrenz bei Weber noch in einer Rassenlehre fundiert, wenn er in seiner Freiburger Antrittsvorlesung die Verdrängung der »rassisch höherwertigen« deutschen durch die slawische Bevölkerung in Ostelbien beklagte (Max Weber, Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik, in: Gesamtausgabe, Abteilung I, Schriften und Reden, Bd. 4, 2. Hb, Tübingen 1993, S. 543-574.), in seinen Auseinandersetzungen über die »Polenfrage« 1896 behauptete, die Polen seien nicht zu Staatsbürgern zweiter Klasse herabgedrückt, sondern von den Deutschen »erst zu Menschen gemacht« worden (Zitiert nach Wolfgang J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920, S. 58) und aus dem Alldeutschen Verband austrat, weil dieser ihm zu wenig nationalistisch war. Später wandte Weber sich zwar von dieser anthropologischen Fundierung, nicht jedoch von der Vorstellung der tödlichen Wertekonkurrenz ab, aus der jene Nationen und Individuen siegreich hervorgehen sollten, die sich die besten Chancen zur Durchsetzung ihrer jeweiligen höchsten Werte verschaffen können.

Die Konkurrenz der Werte hatte für Weber vor allem eine politisch-gesellschaftliche Dimension, sie ließ ihn zu einem der Gründerväter des deutschen Imperialismus werden und das Evangelium des darwinistischen Kampfes ums Dasein als das Lebensgesetz der politischen Beziehungen unter den Nationen ausrufen: »Die Volksvermehrung ist es, was den Kampf ums Dasein, den Kampf des Menschen mit dem Menschen, in Zukunft wieder schwerer und härter gestalten wird, und wir leiten daraus das Evangelium des Kampfes ab als einer Pflicht der Nation ... und wir ›schämen‹ uns dieses Kampfes, des einzigen Weges zur Größe, nicht.« (Verhandlungen des 8. evangelisch-sozialen Kongresses 1897, S. 113)

Während Weber anfangs die höchsten Werte in der rassisch verstandenen deutschen Nation verkörpert sah, wurde später der europäisch-amerikanische Kulturraum deren Träger, dessen weltweiten Siegeszug im Namen rationaler Lebensführung er konstatierte.

In der fraglos hingenommenen Bedeutung der Werte und Wertentscheidungen ist Weber dem Neukantianismus Heinrich Rickerts verpflichtet. Die Themenauswahl der Kulturwissenschaften und deren Begriffsbildung sind deshalb auch bei ihm von Wertentscheidungen bestimmt. Diese schließen stets Urteile über den Wert einer Kultur als Ganzer oder einzelner Kulturerscheinungen ein. Die vergleichende Religionswissenschaft muss untersuchen, warum sich in dem von der protestantischen Ethik geprägten Kulturkreis die »rationale Lebensform« herausgebildet hat und nicht woanders, die Sozialwissenschaften müssen die Frage beantworten, »welchem menschlichen Typus« die jeweiligen gesellschaftlichen Ordnungen auf dem Weg innerer oder äußerer Auslese die optimalen Chancen geben, zum herrschenden zu werden. (Max Weber, Der Sinn der »Wertfreiheit« der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1968, S. 517)

Nicht anders verhält es sich mit der Geschichtswissenschaft, die sich ebenso an den Höchstwerten der europäisch-abendländischen Zivilisation orientieren muss. Deshalb ist eine »Prügelei zwischen zwei Kaffern- oder Indianerstämmen« aus Webers Sicht welthistorisch weniger bedeutsam, als die Schlacht von Marathon und der »Gedanke einer Art von ›sozialpolitischer‹ Gerechtigkeit ..., der die so schnöde vernachlässigten Indianer- und Kaffernstämme in der Geschichte gern – endlich, endlich ! – doch mindestens ebenso wichtig nehmen möchte, wie etwa die Athener ... eben kindlich.« (Max Weber, Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1968, S. 214)

Letztlich kann die Geschichte nur vom Standpunkt einer Gegenwart aus geschrieben werden, auf die sie zugelaufen ist, zwar nicht im Sinne einer Teleologie, aber im Sinne eines darwinistischen Daseinskampfes – und damit doch wieder einer verkappten Teleologie. Die Werte, die aus diesem Daseinskampf als die herrschenden hervorgegangen sind, werden also nicht relativiert, sondern vielmehr verabsolutiert. »Nicht Frieden und Menschenglück haben wir unseren Nachfahren mit auf den Weg zu geben, sondern den ewigen Kampf um die Erhaltung und Emporzüchtung unserer nationalen Art«, war Webers Überzeugung. Sie ließ ihn die Ethik der Bergpredigt als eine »Ethik der Würdelosigkeit« bezeichnen. (Max Weber, Politik als Beruf, S. 550, zitiert nach Wolfgang J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920, Tübingen 2004, S. 48)

Soviel zur »Wertfreiheit des Forschers«. Man kann Weber wirklich nicht als »aufgeklärtes«, »wertfreies« Gegenmodell zu Steiners angeblich wertüberfrachteter Geschichtsmetaphysik hochstilisieren, wie Zander dies tut.

Hat sich nun Weber von der »Objektivität« und »Subjektunabhängigkeit« der Erkenntnis verabschiedet, wie Zander zu glauben scheint?

Mitnichten.

Seine Wissenschaftslehre zielt vielmehr darauf ab, trotz der Fundierung der Erkenntnis in Werturteilen, deren »Objektivität« und »Wissenschaftlichkeit« zu retten. Diese Objektivität sollen Begriffe garantieren, die Weber als »Idealtypen« bezeichnet. Im Anschluss an Kant behauptet Weber, diese Idealtypen seien keine Abbilder der objektiven Wirklichkeit, sondern gedankliche Mittel zur »geistigen Beherrschung des empirisch Gegebenen«. (Max Weber, Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1968, S. 208)

Sie sollen im Sinne Kants »regulative Prinzipien« der Forschung sein. Im Gegensatz zu den generalisierenden Begriffen der Naturwissenschaft, die einzelne Erscheinungen unter allgemeine Gesetze subsumieren, sollen die Idealtypen die Konstruktion und Rekonstruktion geschichtlicher Individualerscheinungen ermöglichen. Tatsächlich subsumieren jedoch aussagekräftige Begriffe der Geschichts- oder Kulturwissenschaften ebenso wie naturwissenschaftliche Gattungsbegriffe stets Reihen von Phänomenen unter bestimmte Kategorien. Die Begriffe des »Charisma«, der »Macht«, des »Kapitalismus« oder des »Bürgertums« subsumieren eine Fülle von Einzelerscheinungen unter ein allgemeines Gesetz und verleihen diesen Bedeutung, indem sie sie in Relation zu anderen Erscheinungen setzen, sie sind außerdem in zentralen Axiomen der höchst persönlichen Weltanschauung Webers verankert. Die Differenzierungsfähigkeit der Idealtypen beruht ihrerseits wiederum auf vorgängigen Wertentscheidungen. Denn in das Chaos der kulturellen Erscheinungen bringen allein solche Wertentscheidungen Ordnung, die Teile der Wirklichkeit aus ihr herausheben, die für uns Interesse und Bedeutung haben, weil sie in Beziehung zu unseren »Kulturwertideen« stehen. Nur jene Teile der Wirklichkeit, denen wir eine »allgemeine Kulturbedeutung« beimessen, sind »wissenswert«. (Max Weber, Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1968, S. 177 f.)

»Wenn wir von dem Historiker und Sozialforscher als elementarer Voraussetzung verlangen, dass er Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden könne, und dass er für diese Unterscheidung die erforderlichen ›Gesichtspunkte‹ habe, so heißt das lediglich, dass er verstehen müsse, die Vorgänge der Wirklichkeit – bewusst oder unbewusst – auf universale ›Kulturwerte‹ zu beziehen und danach die Zusammenhänge herauszuheben, welche für uns bedeutsam sind.« (Max Weber, Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1968, S. 11.)

Die Idealtypen erlangen ihre Bedeutung für uns, für die Wissenschaft, also allein dadurch, dass sie das unter ihnen Begriffene auf Werte beziehen, denn erst dadurch wird ein Gegenstand der Wissenschaft »historisch wesentlich«.

Sowohl die Erkenntnistheorie Rickerts, auf der Webers Überlegungen fußen, ist heute, wie Zander gerne sagt, ad acta gelegt, als auch die politischen Wertentscheidungen Webers, die ihn Partei für die expansive deutsche Weltmachtpolitik ergreifen und in der deutschen Nation den höchsten Wert überhaupt sehen ließen. (Vgl. Wolfgang J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920, Tübingen 2004)

Die Idealtypen Webers erinnern andererseits doch sehr an die naturphilosophischen »Ideen« Goethes oder an die Kulturtypen in Steiners Geschichtsphilosophie, die als genetische Idealtypen im Weberschen Sinne aufgefasst werden können: »Je umfassender die Zusammenhänge sind, um deren Darstellung es sich handelt, und je vielseitiger ihre Kulturbedeutung gewesen ist, desto mehr nähert sich ihre zusammenfassende Darstellung in einem Begriffs- und Gedankensystem dem Charakter des Idealtypus ... Alle Darstellungen eines ›Wesens‹ des Christentums z.B. sind Idealtypen ...« (Max Weber, Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1968, S. 198.)

»Lehnt der Historiker«, so Weber, »einen Formulierungsversuch eines solchen Idealtypus als ›theoretische Konstruktion« ... ab, so ist die Folge regelmäßig entweder, dass er, bewusst oder unbewusst, andere ähnliche ohne sprachliche Formulierung und logische Bearbeitung verwendet, oder dass er im Gebiet des unbestimmt ›Empfundenen‹ stecken bleibt.« (Ebd, S. 195.)

Ebensolche »Idealtypen« sind die Charakterisierungen der einzelnen Kulturepochen durch Steiner, sie arbeiten das Wesentliche bestimmter Kulturen heraus und sind im von Weber gemeinten Sinne »Utopien«. Die zeitliche Aufeinanderfolge dieser Epochen ist die idealtypische Rekonstruktion einer Entwicklung, deren Wert in ihrer heuristischen Funktion liegt.

Jedenfalls erheben Webers Idealtypen den Anspruch, ein Wissen zu generieren, das wissenswert und von allgemeiner Bedeutung ist. In der Konstruktion von Idealtypen wächst das erkennende Subjekt über seinen subjektiven Standpunkt hinaus, und schwingt sich zu Einsichten von  allgemeiner Gültigkeit auf.

Die »objektive Gültigkeit« sozialwissenschaftlicher Erkenntnis wie alles Erfahrungswissens beruht nach Weber gerade auf der subjektiven Voraussetzung unserer Wertentscheidungen, deren Gültigkeit ihrerseits nicht aus der Empirie ableitbar ist: »Die objektive Gültigkeit alles Erfahrungswissens beruht darauf und nur darauf, dass die gegebene Wirklichkeit nach Kategorien geordnet wird, welche in einem spezifischen Sinn subjektiv, nämlich die Voraussetzung unserer Erkenntnis darstellend, und an die Voraussetzung des Wertes derjenigen Wahrheit gebunden sind, die das Erfahrungswissen allein uns zu geben vermag.« Die Möglichkeit sinnvoller Erkenntnis ist in den Kulturwissenschaften gebunden an die »unausgesetzte Verwendung von Gesichtspunkten spezifisch besonderten Charakters, welche alle in letzter Instanz ausgerichtet sind auf Wertideen, die ihrerseits zwar empirisch ... konstatierbar und erlebbar, nicht aber aus dem empirischen Stoff als geltend begründbar sind.« (Ebd., S. 212-213.)

Tatsächlich zeigt sich die Fruchtbarkeit der Weberschen Idealtypen gerade in jenen soziologischen Studien, in denen er umfassende Ideenbilder zu formulieren suchte, wie in seinen Untersuchungen zur protestantischen Ethik und dem Geist des Kapitalismus oder in seiner Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Webers Ideen über Sinn und Wert der wissenschaftlichen Erkenntnis lassen sich schlecht gegen Steiner ins Feld führen, den sie vielmehr bestätigen, statt ihn zu widerlegen. Auch diese Haubitze hat Zander also verkehrt herum aufgestellt.

Steiner habe, so Zander, zur »Rettung der Metaphysik« den Weg beschritten, den Ernst Troeltsch gegangen sei: er habe eine transpersonale Wertedimension postuliert. In der Objektivitätsdebatte habe er Maß an den Naturwissenschaften genommen, die Frage der Definition von Werten und Maßstäben habe er durch eine »Hierarchisierung«, eine »sozialdarwinistische Reihung von Rassen und Kulturen« gelöst und er habe Erkenntnis nicht »hermeneutisch« verstanden, sondern »unmittelbar«, objektiv und »zeitinvariant«.

Auf S. 750-751 schreibt Zander:

»Für die Rettung der Metaphysik standen im Historismus-Diskurs zwei Optionen zur Verfügung, die sich an den antipodischen Zwillingen Weber und Troeltsch einmal mehr verdeutlichen lassen: Die Subjektivierung von Wertentscheidungen, das kulturprotestantische Programm der ›Persönlichkeit‹, die in ihren Lebensentscheidungen die fraktionierte Welt wieder zusammenfassen soll, war Webers Option, eine transpersonale Wertedimension hingegen die Antwort Troeltschs: ›Wir müssen Ordnungen und Werte zunächst aus dem empirischen Wissenschaften herausholen, indem wir den in ihnen liegenden logischen und philosophischen Gehalt aus der empirischen Forschung herausentwickeln‹.

Dass Steiner den zweiten Weg ging, ist evident.

...

In der Objektivitätsdebatte nahm Steiner, wie viele Zeitgenossen, Maß an den Naturwissenschaften. Letztlich beanspruchten seine Lektüren in der Akasha-Chronik eine der wissenschaftlichen Methodik gleichkommende Objektivität, weil sie nicht Interpretation, also Verstehen, sondern ›unmittelbare‹ Schau sein wollten.

...

Die Folgefrage einer Definition von Werten und Maßstäben löste Steiner mit einer evolutionstheoretisch begründeten Hierarchisierung, wie sie etwa die sozialdarwinistische Reihung von Rassen und Kulturen zwischen Atlantis und der Gegenwart dokumentiert.

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Seine Erkenntnistheorie musste der Kritik am Historismus und seiner Methodik konsequenterweise folgen: Erkenntnis sollte nicht hermeneutisch, sondern unmittelbar und deshalb objektiv und folglich zeitinvariant sein. Die Akasha-Chronik als ausserhistorisches Gedächtnis war ein monumentaler Versuch, transhistorische Fakten zu ermitteln und die darauf aufbauenden Wertentscheidungen der historistischen Relativierung zu entziehen.«

Entgegen Zanders Behauptung war die Maxime von Troeltsch: »Wir müssen Ordnungen und Werte zunächst aus den empirischen Wissenschaften herausholen, indem wir den in ihnen liegenden logischen und philosophischen Gehalt aus der empirischen Forschung herausentwickeln«, für Steiner nicht maßgeblich, da für ihn Werte Setzungen der moralischen Phantasie des Menschen sind, keine aus der empirischen Forschung ableitbaren Erkenntnisinhalte. Sind sie aber vom Menschen gesetzt, dann können sie von der Ethik auch beschrieben werden: »Die moralische Phantasie und das moralische Ideenvermögen können erst Gegenstand des Wissens werden, nachdem sie vom Individuum produziert sind. Dann aber regeln sie nicht mehr das Leben, sondern haben es bereits geregelt. Sie sind als wirkende Ursachen wie alle anderen aufzufassen (Zwecke sind sie bloß für das Subjekt). Wir beschäftigen uns mit ihnen als mit einer Naturlehre der moralischen Vorstellungen. Eine Ethik als Normwissenschaft kann es daneben nicht geben.« (GA 4, Dornach 1995, S. 194-195)

Würde man diesen Aussagen gegenüber die Anleitungen des esoterischen Schulungsweges als Normethik deuten, wie Zander dies tut, würde man sie völlig missverstehen. Sie sind lediglich Beschreibungen von Versuchsbedingungen, die die Erzeugung und »Zurichtung« von Erkenntnisinstrumenten schildern, keine normethischen Vorschriften, die das individuelle oder kollektive Leben regeln sollen.

Von hier aus gesehen, stellt sich Steiners Position innerhalb der historistischen »Problemtrias« anders dar, als Zander dies glauben machen will.

In der Objektivitätsdebatte nahm Steiner nicht Maß an den Naturwissenschaften, sondern entwickelte einen eigenständigen Objektivitätsbegriff der übersinnlichen Forschung, der spezifische Kriterien der Überprüfung beinhaltet. Es geht völlig an den Tatsachen vorbei, wenn Zander behauptet, Steiners Lektüren der Akasha-Chronik hätten eine »der wissenschaftlichen Methodik gleichkommende Objektivität beansprucht, weil sie nicht Interpretation, also Verstehen, sondern ›unmittelbare‹ Schau sein wollten«.

Erstens verallgemeinert Zander hier die naturwissenschaftliche zur wissenschaftlichen Methodik schlechthin und setzt Methodik mit Objektivität gleich, was nicht einmal auf die Naturwissenschaften zutrifft, zweitens waren Steiners »Lektüren« der Akasha-Chronik nach dem Modell der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik geformte Akte des Verstehens, der Entzifferung, der Übersetzung und keine unmittelbare Offenbarung sich selbst beweisender Wahrheiten. Davon zeugt die entsprechende Passage aus dem Jahr 1904: »Wenn auch beim Entziffern der ›Akasha-Chronik‹ alle mögliche Sorgfalt angewendet worden ist, so muss doch betont werden, dass nirgends für diese Mitteilungen irgendwelcher dogmatische Charakter in Anspruch genommen werden soll. Ist schon das Lesen von Dingen und Ereignissen, welche dem gegenwärtigen Zeitalter so fern liegen, nicht leicht, so bietet die Übersetzung des Geschauten und Entzifferten in die gegenwärtige Sprache fast unübersteigliche Hindernisse.« (GA 11, 1969, S. 58)

Die Folgefrage der Definition von Werten und Maßstäben, die der Entscheidung zwischen Werten zugrunde gelegt werden, löste Steiner nicht durch eine »Hierarchisierung«, eine »sozialdarwinistische Reihung von Rassen und Kulturen zwischen Atlantis und der Gegenwart«, sondern dadurch, dass er die gesamte Menschheitsgeschichte um zwei absolute Werte gruppierte: Freiheit und Liebe, die die spirituelle Essenz und den Sinn der Weltgeschichte beinhalten, die untrennbar mit ihrem Mittelpunktsereignis, dem Mysterium von Golgatha verbunden sind. An diesem absoluten Fels der Wertbestimmung zerschellt alles oberflächliche Pluralismus- und Relativismusgerede und erhält zugleich eine unendlich tiefere Bedeutung. »Zweierlei Führer hatte ... die kindliche Menschheit«, heißt es in den Aufsätzen »Aus der Akasha-Chronik«, »Liebewesen und Weisheitswesen ... Durch die Liebewesen wurde sie zur physischen Entwicklung angeregt, durch die Weisheitswesen zur Vervollkommnung des inneren Wesens.« (GA 11, 1986, S. 85) Die Liebe führt wieder zusammen, was die Weisheit getrennt hat. »In der Christus-Vorstellung ist ... ein Ideal gegeben, das aller Sonderung entgegenwirkt«, betont die »Geheimwissenschaft im Umriss«, »das Ideal der umfassenden Brüderlichkeit.« (GA 13, 1989, S. 294) Christus aber ist das »große menschliche Erdenvorbild.« (GA 13, 1989, S. 395) Brüderlichkeit ist die Versöhnung von Liebe und Freiheit, denn sie schließt die Freiheit aller anderen in die Liebe ein. Die in bezug auf Liebe und Freiheit relativen und pluralen Werte werden durch sie von einem absoluten Licht beleuchtet, das sie an ihren jeweiligen historischen und systematischen Ort verweist. Der Inhalt der einzelnen Kulturen und Religionen muss an diesem absoluten Wert und Maßstab gemessen werden, und aus ihrer relativen Distanz zu ihnen ergibt sich ihre substantielle Differenzierung. Der ethische Gehalt einer Religion, einer Kultur oder einer Weltanschauung kann daran gemessen werden, wie nah oder fern sie diesen absoluten Werten von Freiheit und Liebe stehen und ihre relative Gültigkeit nimmt mit dem Maß der Distanz zu ihnen ab. Universelle Geltung können nur diese beiden Werte beanspruchen, relative, lokale, regionale oder temporale Geltung auch andere Werte, da sie ihren Sinn gerade aus dieser Bezogenheit auf das Partikuläre schöpfen.

Steiners Erkenntnistheorie war auch nicht das, wozu sie in Zanders Interpretation entstellt wird: »Erkenntnis sollte nicht hermeneutisch, sondern unmittelbar und deshalb objektiv und folglich zeitinvariant sein. Die Akasha-Chronik als außerhistorisches Gedächtnis war ein monumentaler Versuch, transhistorische Fakten zu ermitteln und die darauf aufbauenden Wertentscheidungen der historischen Relativierung zu entziehen.«

Übersinnliche Erkenntnis ist Auslegung von Zeichen und Bildern, Deutung von Wahrnehmungen, Darstellung von geistigen Zusammenhängen in epochen- und kulturgebundenen »Gedankenbildern«, und unterliegt denselben Konjunkturen und Irrtumsmöglichkeiten wie die Sinneserkenntnis. Sie ist ebensowenig unmittelbar, sondern bedarf der Vermittlung durch das erkennende Subjekt und seine Begriffssysteme. Deswegen treten die seherischen Erkenntnisse im Lauf der Geschichte in stets neuen Formen auf, sie beinhalten nicht die absolute Wahrheit, sondern eine Wahrheit, die dem jeweiligen Zeitalter, der jeweiligen Kultur angemessen sein muss. Auch die Theosophie oder Anthroposophie ist nur eine vergängliche Form, in der die Wahrheit in Erscheinung tritt und schon in der nächsten Inkarnation wird sie den heutigen Rezipienten in völlig anderer Form erscheinen. (Steiner 1906: »Die großen Lehrer haben nie absolute Wahrheiten hingestellt, sondern das, was dem Menschen angemessen ist. Die letzten Wahrheiten lehren die großen Lehrer nie, sondern das, was für ein Zeitalter förderlich ist ... Auch was die Geisteswissenschaft lehrt, ist nicht die endgültige Wahrheit ... Die Menschen, die jetzt die geisteswissenschaftlichen Lehren hören, werden die Wahrheit in einer späteren Inkarnation in einer ganz anderen Weise hören.« GA 97, 9.2.1906, Dornach 1998, S. 22-23.)

Laut Zander war Steiner in systematisch-theologischen Fragen um die Jahrhundertwende unbedarft und besaß kaum Kenntnisse der theologisch-dogmatischen Literatur.

Auf S. 786 schreibt Zander:

»Steiner war im systematischen Fragen unbedarft und besaß über die theologisch-dogmatische Literatur am Beginn des Jahrhunderts oft keine Kenntnisse.«

Für diese Behauptung bleibt Zander die Belege schuldig.

Gänzlich anders äußert sich zu Steiners Kenntnissen in systematisch-theologischen Fragen und der dogmatisch-theologischen Literatur der evangelische Theologe Friedrich Rittelmeyer in seinem Buch »Meine Lebensbegegnung mit Rudolf Steiner«, Stuttgart 1953.

Rittelmeyer schreibt auf S. 118:

»Oft fragte ich mich in den ersten Jahren: Weiss Steiner eigentlich, was bei uns [in der evangelischen Theologie] gearbeitet wird? Er wusste es wohl. Dass er Harnack, Troeltsch, Otto, Weinel, Heim gelesen hatte, kam allmählich in den Gesprächen heraus. Auch Schleiermacher kannte er, ließ ihn auch als Theologen noch gelten, nicht aber als Philosophen. Einmal sagte er: ›Die protestantische historisch-kritische Forschung ist wohl das Fleißigste und Scharfsinnigste, was in den letzten Jahrhunderten überhaupt geleistet worden ist. Sie steht darin der naturwissenschaftlichen Forschung durchaus gleich, ja übertrifft sie sogar noch. Die große Tragik an dieser Arbeit ist nur, dass sie ein gänzlicher Irrweg ist und an der Bibel, wie sie wirklich ist, völlig vorbeigeht.‹«

Und auf S. 133:

»Als sich der ganze Inhalt dieser vielen Vorträge und Aussprachestunden [des Jahres 1921 zur Begründung der Christengemeinschaft] vor mir ausbreitete, erstaunte ich aufs neue über Steiner. Das hatte ich doch nicht erwartet, trotz aller Erlebnisse, dass er auch im Reich der Theologie so König war, dass er nicht nur über Bibel und Bibelwissenschaft, sondern auch über Kirchengeschichte und Konfessionsgegensätze, über die geistigen und sittlichen Tiefen des Christentums so Neues und Großes zu sagen habe, das mächtig in die Zukunft wies.«