Steiners Aufsätze aus den Jahren 1905/06 über Geisteswissenschaft und soziale Frage deutet Zander zu einer »ethischen Fundamentalreflexion« um und blendet deren ökonomische Dimension aus.

Auf S. 1249 schreibt Zander:

»In einem wenig später gedruckten Aufsatz in ›Lucifer Gnosis‹ führte er diese Überlegungen weiter, indem er den Unterschied zwischen Unternehmern und kleinen Handwerken egalisierte: beide beuten Steiner zufolge aus (ebd., [GA 34] 205 f.). Was als ethische Fundamentalreflexion Sinn macht, war allerdings angesichts ungleicher Folgen und Armutskonsequenzen für Handwerker (und Arbeiter) keine Antwort auf die Soziale Frage.«

Christoph Strawe kommentiert in »Anthroposophie in Geschichte und Gegenwart« diese Äußerungen wie folgt:

»Auch Zanders Deutung der Ökonomie in der Dreigliederung steckt voller Missverständnisse. Die Aufsätze von 1905/06 [»Geisteswissenschaft und soziale Frage«] fasst er als ›ethische Fundamentalreflexion‹ auf. Der rote Faden – Preisbildung, Lohnbildung, Einrichtungen, die Arbeit und Einkommen entkoppeln – entzieht sich ihm. Daher bemerkt Zander auch nicht, dass der Text die Grundlage für den Ansatz des assoziativen Wirtschaftens ist, der seiner Meinung nach erst 1920 auftaucht.«

Christoph Strawe, »Sozialimpulse«, in »Anthroposophie in Geschichte und Gegenwart«, Berlin 2011, S. 695.

Die Art und Weise, wie Zander die soziale Frage und Ausführungen Steiners über Reinkarnation und Karma miteinander verknüpft, kann man nicht anders als verlogen bezeichnen.

Auf S. 1249 schreibt Zander:

»Die bestehenden Verhältnisse hat er karmisch gerechtfertigt, Politik wurde spiritualisiert. 1912 beschrieb er etwa das Verhältnis von Lohn und Arbeit folgendermaßen:

[1] ›Selbstverständlich muss die bestehende Lebensordnung zunächst so bleiben, denn gerade der Anthroposoph muss einsehen, dass das, was besteht, wiederum durch die Karmaordnung hervorgerufen worden ist und dass es in dieser Beziehung zu Recht und mit Notwendigkeit besteht‹ (GA 35,88).

[2] Wenn also ein Arbeiter an Lungentuberkulose erkranke, so Steiner 1907, habe man dies primär als Folge von ›Klassen- und Standeshass‹ des ›Industrieproletariats‹ (GA 99,60) zu deuten. Hilfe gebe es dann nicht im gesellschaftlichen Engagement, sondern im Karmakonzept: ›Den einzelnen unter solchem Gesamtkarma Stehenden können wir oftmals nicht helfen. … Nur indem wir das Gesamtkarma verbessern, kann auch dem einzelnen geholfen werden.‹ (ebd., 60) Die Verlagerung von Problemen ins theosophische Jenseits band dem sozialen Engagement die Hände.«

Zunächst ein philologischer Fehler:

Zander weist das erste Zitat [1] GA 35 zu. Dort sucht man es vergeblich. Es steht in GA 135, auf S. 88 (Ausgabe Dornach 1989) und ist in einem Vortrag vom 21.02.1912 enthalten.

Dann ein logischer Fehler:

Zander schließt an das erste Steinerzitat den Satz an: »wenn also ein Arbeiter an Lungentuberkulose erkranke ...« und belegt seine Folgerung mit einem Steiner-Zitat von 1907. Man kann aber nicht aus einem Gedankengang, der historisch 5 Jahre später entstand, eine Schlussfolgerung ziehen, die angeblich fünf Jahre früher entstand.

Dann die gravierendsten inhaltlichen Lügen:

Steiner habe die »bestehenden Verhältnisse karmisch gerechtfertigt«, die Probleme »ins theosophische Jenseits verlagert« und somit allem sozialen Engagement eine Absage erteilt.

Da Zander aus GA 99 zitiert, um seine Behauptung zu rechtfertigen, Steiner habe jedem gesellschaftlichen Engagement eine Absage erteilt, muss man davon ausgehen, dass er GA 99 auch gelesen hat. Demnach müsste er die Ausführungen kennen, die sich auf S. 78-79 in GA 99 finden, 18 Seiten nach der von ihm zitierten Stelle und die seinen Behauptungen direkt ins Gesicht schlagen:

»Man glaubt oft, der Mensch stünde unter dem unabänderlichen Gesetz des Karma, es wäre nichts daran zu ändern. Führen wir ein Gleichnis aus dem gewöhnlichen Leben für das Wirken dieses Karmagesetzes an. Ein Kaufmann hat in seinem Buche Posten für Soll und Haben.

Wenn er diese zusammenzählt und vergleicht, drückt sich in ihnen der Stand seines Geschäftes aus. Der Geschäftsstand des Kaufmanns steht unter dem unerbittlichen Rechnungsgesetze des Soll und Haben. Macht er jedoch neue Geschäfte, so kann er neue Posten eintragen, und er wäre ein Tor, wenn er keine neuen Geschäfte machen wollte, weil er einmal die Bilanz gezogen hat. In bezug auf das Karma steht auf der Habenseite alles, was der Mensch Gutes, Kluges, Wahres, Richtiges getan hat, auf der Sollseite alles, was er Böses, Törichtes getan hat. Es steht ihm in jedem Momente frei, neue Posten ins karmische Lebensbuch einzutragen. Daher glaube man niemals, dass im Leben ein unabänderliches Schicksalsgesetz herrschend sei. Die Freiheit wird nicht beeinträchtigt durch das Karmagesetz. Und deshalb müssen Sie bei dem Karmagesetz ebensosehr an die Zukunft denken wie an die Vergangenheit. Wir tragen in uns die Wirkungen vergangener Taten, und wir sind die Sklaven der Vergangenheit, aber die Herren der Zukunft. Wollen wir dieselbe gut gestalten, müssen wir möglichst günstige Posten ins Lebensbuch eintragen.

Es ist ein großer, gewaltiger Gedanke, zu wissen, dass, was man auch tut, nichts vergeblich ist, dass alles seine Wirkung in die Zukunft hinein hat. So wirkt das Gesetz nicht bedrückend, sondern es erfüllt uns mit schönster Hoffnung. Es ist die schönste Gabe der Geisteswissenschaft.

Wir werden froh durch das Karmagesetz, dadurch, dass wir hineinschauen in die Zukunft. Es gibt uns die Aufgabe, tätig zu sein im Sinne eines solchen Gesetzes, es hat nichts, was den Menschen traurig machen kann, nichts, was der Welt eine pessimistische Färbung geben könnte.

Es beflügelt unsere Tätigkeit, mitzuwirken an dem Erden-Werdegang. In solche Gefühle muss sich das Wissen vom Karmagesetz umsetzen.

Wenn ein Mensch leidet, sagt man oft: Er verdient sein Leiden, er muss sein Karma austragen; helfe ich, so greife ich ein in sein Karma. –

Das ist eine Torheit. Seine Armut, sein Elend ist bewirkt durch sein voriges Leben, aber wenn ich ihm helfe, wird meine Hilfe einen neuen Posten in sein Leben eintragen. Ich bringe ihn dadurch vorwärts. Es ist ja auch töricht, einem Kaufmann, den man mit 1.000 Mark oder 10.000 Mark vor dem Untergang retten könnte, zu sagen: Nein, dann würde ja deine Bilanz verändert werden. – Gerade das muss uns drängen, dem Menschen zu helfen. Ich helfe ihm, weil ich weiß, dass im karmischen Zusammenhange nichts ohne Wirkung ist. Das sollte uns ein Ansporn sein für ein wirkliches Handeln.

Von vielen Leuten wird vom Gesichtspunkte des Christentums aus das  Gesetz des Karma bestritten. Die Theologen sagen: Das Christentum kann das Karmagesetz nicht anerkennen, denn wenn dieses richtig wäre, könnte es niemals das Prinzip des stellvertretenden Todes zulassen. – Aber es gibt auch Theosophen, die sagen, das Karmagesetz stände in Widerspruch mit dem Erlösungsprinzip. Sie sagen, sie könnten diese Hilfe, die ein einzelnes Wesen vielen Menschen gibt, nicht anerkennen. Sie haben beide unrecht, sie haben das Karmagesetz beide nicht verstanden.

Nehmen Sie einen elenden Menschen. Sie selbst sind in einer glücklicheren Lage, Sie können ihm helfen. Durch diese Hilfe schreiben Sie einen neuen Posten in sein Leben ein. Eine noch mächtigere Person kann zweien Menschen helfen und auf das Karma von zweien einwirken. Ein noch Mächtigerer kann zehn oder hundert Menschen helfen, und der Mächtigste kann Ungezählten helfen. Das widerstrebt durchaus nicht dem Prinzip der karmischen Zusammenhänge. Gerade durch die Zuverlässigkeit des Karmagesetzes wissen wir, daß diese Hilfe auch wirklich eingreift in das Schicksal des Menschen.«

GA 99 (Dornach 1985), S. 78-79

Es trifft auch nicht zu, dass Steiner 1912 über das Verhältnis von Lohn und Arbeit gesprochen hätte, um »die bestehenden Verhältnisse« zu rechtfertigen. Vielmehr hat er darauf hingewiesen, dass die »bestehenden Verhältnisse« sich in grundlegendem Widerspruch zu den Ideen von Reinkarnation und Karma befinden und dass die Vorstellung, Arbeit könne bezahlt werden, eine menschenwürdige Gestaltung der sozialen Verhältnisse verhindere.

»Alles äußere Leben, so wie es sich uns heute darbietet, ist aber überall ein Bild eines solchen menschlichen Zusammenhanges, der geformt und gebildet worden ist mit Ausschluss, ja mit Verleugnung der Idee von Reinkarnation und Karma. Und gleichsam, als ob man verschütten wollte alle Möglichkeiten, dass die Menschen durch die eigene Seelenentwickelung darauf kommen könnten, dass es Reinkarnation und Karma gibt, so ist dieses äußere Leben heute eingerichtet. In der Tat, es gibt zum Beispiel nichts, was so sehr feindlich gesinnt ist einer wirklichen Überzeugung von Reinkarnation und Karma als der Grundsatz des Lebens, dass man für dasjenige, was man unmittelbar als Arbeit leistet, einen der Arbeit entsprechenden Lohn, der die Arbeit geradezu bezahlt, einheimsen müsse. Nicht wahr, eine solche Rede klingt sonderbar, recht sonderbar! Nun müssen Sie die Sache auch nicht so betrachten, als wenn die Anthroposophie nun gleich radikal die Grundsätze einer Lebenspraxis über den Haufen werfen und über Nacht eine neue Lebensordnung einführen wollte. Das kann nicht sein. Aber der Gedanke müsste den Menschen nahetreten, dass in der Tat in einer Weltordnung, in der man daran denkt, Lohn und Arbeit müssten sich unmittelbar entsprechen, in der man sozusagen durch seine Arbeit dasjenige verdienen muss, was zum Leben notwendig ist, niemals eine wirkliche Grundüberzeugung von Reinkarnation und Karma gedeihen kann. Selbstverständlich muss die bestehende Lebensordnung zunächst so bleiben, denn gerade der Anthroposoph muss einsehen, dass das, was besteht, wiederum durch die Karmaordnung hervorgerufen worden ist, und dass es in dieser Beziehung zu Recht und mit Notwendigkeit besteht. Aber er muss durchaus die Möglichkeit haben zu begreifen, dass sich wie ein neuer Keim innerhalb des Organismus unserer Weltordnung dasjenige entwickelt, was aus der Anerkennung der Idee von Reinkarnation und Karma folgen kann und muss.«

GA 135 (Dornach 1989), S. 88

Schließlich trifft auch nicht zu, dass Steiner 1907 behauptet hätte, wenn ein Arbeiter an Lungentuberkulose erkranke, dann sei das »primär« eine Folge von »Klassen- und Standeshass«, in dem Sinn, dass man ihm nicht helfen müsse oder könne oder in dem Sinn, dass es nicht auch andere Ursachen gebe. Denn unmittelbar vor den von Zander zitierten Sätzen stehen die folgenden:

»Der physische Arzt würde selbstverständlich physische Ursachen ... ins Feld führen. Ich will nicht bekämpfen, was der Arzt sagt, aber es liegt bei ihm folgende logische Schlussfolgerung vor: Es verletzt jemand bei einer Rauferei einen anderen mit einem Messer, er hatte ein altes Rachegefühl gegen ihn. Nun sagt der eine, die Verletzung entstand aus dem Rachegefühl, der andere sagt, das Messer war die Ursache. — Beide haben recht. Das Messer war die letzte physische Ursache, aber dahinter liegt die geistige. Wer nach geistigen Ursachen sucht, wird immer die physischen gelten lassen. Wir sehen hier, wie geschichtliche Ereignisse bedeutsam wirken auf ganze Generationen hin, und wir lernen, wie wir verbessernd eingreifen können auf lange Zeiten bis tief in die Gesundheitsverhältnisse hinein.«

Darauf folgen die Ausführungen über das Industrieproletariat:

»In den letzten Jahrhunderten entwickelte sich bei unserer europäischen Bevölkerung durch die technischen Fortschritte ein Industrie-Proletariat, und mit demselben hat sich eine Unsumme von Klassen- und Standeshass gebildet. Die sitzen im Astralleib des Menschen und wirken sich physisch aus als Lungentuberkulose. Diese Erkenntnis ist ein Ergebnis okkulter Forschung. Den einzelnen unter solchem Gesamtkarma Stehenden können wir oftmals nicht helfen. Wir müssen oft mit schwerer Seele sehen, wie der einzelne leidet, wir können ihn nicht gesund oder froh machen, weil er im Zusammenhang mit dem gemeinschaftlichen Karma steht. Nur indem wir das Gesamtkarma verbessern, kann auch dem einzelnen geholfen werden. Nicht das einzelne egoistische Selbst sollen wir hochbringen wollen, sondern so wirken, dass wir der gesamten Menschheit zum Heile dienen.«

GA 99 (Dornach 1985), S. 59-60.

Steiner habe, so Zander, gestanden, dass der I. Weltkrieg überraschend »über ihn« hereingebrochen sei und damit seine hellseherisch-prophetischen Fähigkeiten Lügen gestraft.

Auf S. 1251 schreibt Zander:

»Denn es musste für einen ›Hellseher‹ peinlich scheinen, den Jahrhundertkrieg nicht vorhergesehen zu haben. Aber am 13. September 1914 gestand er offen, dass der Krieg für ihn ›überraschend ... hereingebrochen‹ sei.« (G 174a,12)

In seinem Vortrag vom 13. September 1914 sagte Rudolf Steiner das Gegenteil von dem, was Zander behauptet: er sagte nicht, dass der Krieg für ihn überraschend hereingebrochen sei, sondern dass er über die Menschheit »scheinbar« überraschend hereingebrochen sei. Von sich selbst dagegen sagte er, er habe ihn lange vorausgesehen.

»Lange voraussehen konnte man dasjenige, was jetzt scheinbar so überraschend hereingebrochen ist über die, man muss ja wohl sagen, Erdenmenschheit. So überraschend ist es hereingebrochen, weil mitgewirkt haben bei diesem Ereignis auch, man darf schon sagen, okkulte Ursachen, die sich eigentlich erst seit dem 28. Juni allmählich nach und nach gezeigt haben.«

GA 174a, (Dornach 1982), S. 12.

Steiner selbst hat 1918 verschiedentlich darauf hingewiesen, dass eine Äußerung von ihm in einem Vortrag Anfang 1914 als eine verhüllte Prophetie auf den bevorstehenden Krieg hätte gedeutet werden können. Am 17. Februar 1918 führte er in München aus:

»Und noch im Frühling 1914 im Vortragszyklus zu Wien über das Leben zwischen Tod und neuer Geburt habe ich einen eindringlichen Satz gewagt, den Satz, dass das soziale Leben unserer Zeit in einem wahrhaftigen Sinne verglichen werden kann mit einer besonderen Krankheitsform, mit einem Karzinom, dass eine schleichende Krebskrankheit durch das soziale Leben geht. – Natürlich, diese Dinge können unter unseren gegenwärtigen Verhältnissen nicht anders als so gesagt werden, aber sie müssen verstanden werden.«

GA 174a, München, 17. Februar 1918, (Dornach 1982) S. 230

Etwas ausführlicher am 22. September 1918 in Dornach, in dem er aus jenem Wiener Vortragszyklus wörtlich zitiert:

»Es ist die wichtigste der gegenwärtigen sogenannten Kriegsursachen in diesem Satze enthalten; aber sie ist aus dem geistigen Leben abzuleiten.

›Es entsteht dadurch, dass diese Art von Produktion im sozialen Leben eintritt,  im sozialen Zusammenhang der Menschen auf der Erde genau dasselbe, was im Organismus entsteht, wenn so ein Karzinom entsteht. Ganz genau dasselbe, eine Krebsbildung, eine Karzinombildung, Kulturkrebs, Kulturkarzinom! So eine Krebsbildung schaut derjenige, der das soziale Leben geistig durchblickt; er schaut, wie überall furchtbare Anlagen zu sozialen Geschwürbildungen  aufsprossen. Das ist die große Kultursorge, die auftritt für den, der das Dasein durchschaut. Das ist das Furchtbare, was so bedrückend wirkt, und was selbst dann, wenn man sonst allen Enthusiasmus für Geisteswissenschaft unterdrücken könnte, wenn man unterdrücken könnte das, was den Mund öffnen kann für die Geisteswissenschaft,  einen dahin bringt, das Heilmittel der Welt gleichsam entgegenzuschreien für das, was so stark schon im Anzug ist und was immer stärker und stärker werden wird. Was auf seinem Felde in dem Verbreiten geistiger Wahrheiten in einer Sphäre sein muss, die wie die Natur schafft, das wird zur Krebsbildung, wenn es in der geschilderten Weise in die Kultur eintritt ...‹

Dass in der heutigen Gesellschaftsordnung eine Summe von Krebsgeschwüren waltet, das wurde dazumal ausgesprochen – die Vorträge sind datiert vom 9. bis 14. April 1914 –, aber nur ausgesprochen als zusammenfassend dasjenige, was im Grunde genommen unsere ganze anthroposophische Entwickelung hindurch von mir in den verschiedensten Formen gesagt wurde, um die Menschheit auf den Zeitpunkt vorzubereiten, wo das soziale Krebsgeschwür seine besondere Krisis erreichen würde, 1914!«

GA 184, 22. September 1918, (Dornach 1983) S. 186-187.

Zander sieht in Steiner auch während des I. Weltkriegs nichts als einen deutschnationalen Kulturimperialisten. Der Münchner Historiker Ulrich Linse kommt zu einer gänzlich anderen Einschätzung.

Auf S. 1253 schreibt Zander:

»Steiners deutschnationaler Kulturimperialismus war nur eine der möglichen theosophischen Haltungen zum Ersten Weltkrieg. Andere Gesellschaften konnten sich aufgrund ihrer internationalen Verflechtungen weniger leicht in nationalistischen Grenzen einrichten.«

Ulrich Linse schreibt als Fazit seines Überblicks zu den »deutschen Theosophen im Ersten Weltkrieg«:

»Völlig verfielen dem nationalistischen Geist der Zeit aber nur die theosophischen Gruppierungen um Hugo Vollrath und Paul Zillmann. Bei ihnen änderte sich auch der Gehalt der Theosophie nicht zuletzt durch die Rezeption der rassistischen ›Ariosophie‹, die ihre Wurzeln in den Nationalitätenkonflikten Österreichs hatte ...

Dagegen konnte unsere Untersuchung auch zeigen, dass die anderen theosophischen Gruppierungen [diejenige Steiners eingeschlossen], auch die spezifisch deutsche Richtung von Franz Hartmann und Hermann Rudolph, doch bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten in ihren politischen Anschauungen moderat blieben. Der rassistische Nationalismus insbesondere der Vollrathschen ›Theosophischen Gesellschaft (Leipzig)‹ und der Verlagserzeugnisse Zillmanns und Vollraths darf also keineswegs verallgemeinernd allen deutschen Theosophen unterschoben werden. ... Diese Differenzierung kann selbst noch in der Zeit der politischen Pressionen der beginnenden nationalsozialistischen Herrschaft wahrgenommen werden: Nur die Vollrath-Theosophen gingen mit fliegenden Fahnen ins nationalsozialistische Lager über, während die andere theosophischen Gruppierungen weiterhin durchaus liberale Töne hören ließen, allerdings zum Zweck des Überlebens ihrer Organisationen auch manches uns unnötig erscheinende Zugeständnis an den Zeitgeist machten.

Die deutsche Theosophische Bewegung insgesamt aber, das dürfte ein wesentliches Resultat unserer Untersuchung sein, kann nicht wie in bisherigen Pauschalverurteilungen zu den ideologischen Wurzeln des Nationalsozialismus und Rassismus gezählt werden; vielmehr trug diese Bewegung – im Gegensatz zum ›Armanismus‹ eines Guido von List und zur ›Ariosophie‹ eines Jörg Lanz von Liebenfels (=Adolf Lanz) – durchaus westlich-liberale Auffassungen ins Lager der Okkultisten.«

Ulrich Linse, »Universale Bruderschaft« oder nationaler Rassenkrieg – die deutschen Theosophen im Ersten Weltkrieg, in: Haupt / Langewiesche, Nation und Religion in der deutschen Geschichte, Frankfurt / New York 2001, S. 643-644.

Zu dieser inneren Differenzierung der theosophischen Gruppierungen und der Gegnerschaft der nationalistisch-rassistischen Ariosophen gegen Steiner und die Anthroposophie siehe auch: Lorenzo Ravagli,  Unter Hammer und Hakenkreuz. Der völkisch-nationalsozialistische Kampf gegen die Anthroposophie, Stuttgart 2004

Zander deutet auch Steiners Völkerpsychologie hemmungslos um. Aus einer spirituellen Erzengelkunde, in deren Zentrum die menschheitsvereinigende Christuswesenheit steht, der alle »Volksgeister« dienen, wird bei Zander eine »Rassentheorie«, in welcher der »Volkscharakter biologistisch fixiert« wurde.

Zander schreibt auf S. 1254:

»Aus der sprachtheoretisch konzipierten Völkerpsychologie ... war um 1900 eine Rassentheorie geworden, in deren eindimensionaler Bestimmung ›der‹ Volkscharakter (im Singular) biologistisch fixiert wurde. Bei Steiner tauchen diese Ausprägungen der Völkerpsychologie als Ergebnis okkulter Einsichten wieder auf: Seine Vorstellungen von ›Volksseelenwesen‹ ... sind hochreduktive Vereindeutigungen, bei denen aus der biologistischen Determination die evolutive geistige ›Notwendigkeit‹ geworden war.

›Es ist ein Fortschritt in der menschlichen Entwickelung ... Es ist gleichgültig wie wir die Dinge bewerten; der notwendige Gang führt die Menschheit vorwärts, mag man das auch später Niedergang nennen. Die Notwendigkeit führt die Menschheit vorwärts. (GA 121,25)«

Zunächst zu Zanders Zitat.

Bemerkenswert ist die Auslassung, die er vornimmt. Da Zander Wert darauf legt, Steiner eine »deterministische« Hierarchisierung der Völker unterzujubeln, die biologistisch (rassistisch) fundiert sei, und das deutsche Volk (die »deutsche« Rasse – die es bei Steiner nicht gibt) an die Spitze stelle, muss er natürlich Aussagen Steiners, die seiner Umdeutung widersprechen, eliminieren. So auch in seinem Zitat. Im Originalzitat weist nämlich Steiner explizit eine Hierarchisierung zurück, er sagt:

»So können wir die Völker nebeneinander und nacheinander [im Gang der aufeinanderfolgenden Kulturepochen der Geschichte] betrachten. Aber in allem, was sich in und mit den Völkern entwickelt, entwickelt sich noch etwas anderes. Es ist ein Fortschritt in der menschlichen Entwickelung. Es kommt dabei nicht in Betracht, ob wir das eine höher oder niedriger stellen. Es kann zum Beispiel einer sagen: Mir gefällt die indische Kultur am besten. Das mag ein persönliches Urteil sein. Wer aber nicht auf persönliche Urteile schwört, der wird sagen: Es ist gleichgültig, wie wir die Dinge bewerten; der notwendige Gang führt die Menschheit vorwärts, mag man das später auch Niedergang nennen. Die Notwendigkeit führt die Menschheit vorwärts.«

Diese »Notwendigkeit«, von der Steiner spricht, ist nicht etwa eine »biologische Determination«, sondern eine geistige Inspiration (exakter: »Intuierung«) der Geschichte, die auf das Wirken der sogenannten Zeitgeister zurückzuführen ist. Diese stehen höher als die Volksgeister, bei denen es sich um Erzengel handelt, und überformen deren Wirken, so wie der Gang der Geschichte in der Zeit die geographischen Räume überwölbt, in denen sich die geschichtlichen Ereignisse abspielen. Selbst wenn es also eine Hierarchisierung von Völkern gäbe, wäre diese durch das Wirken der Zeitgeister wieder aufgehoben, denen gegenüber die Volksgeister alle auf demselben untergeordneten Niveau stehen. Denn die Zeitgeister haben es nicht mit einzelnen Völkern, sondern mit der Menschheit als Ganzer zu tun, sie heben die Menschen, die in den Gebieten einzelner Volksgeister leben, über diese begrenzte Sphäre hinaus und machen sie zu Angehörigen der Menschheit, die sich trotz der Unterschiede ihrer Volkskulturen und -sprachen verstehen können.

Steiners Ausführungen im Kontext:

»So können wir die Völker nebeneinander und nacheinander betrachten. Aber in allem, was sich in und mit den Völkern entwickelt, entwickelt sich noch etwas anderes. Es ist ein Fortschritt in der menschlichen Entwickelung. Es kommt dabei nicht in Betracht, ob wir das eine höher oder niedriger stellen. Es kann zum Beispiel einer sagen: Mir gefällt die indische Kultur am besten. Das mag ein persönliches Urteil sein.

Wer aber nicht auf persönliche Urteile schwört, der wird sagen: Es ist gleichgültig, wie wir die Dinge bewerten; der notwendige Gang führt die Menschheit vorwärts, mag man das später auch Niedergang nennen. Die Notwendigkeit führt die Menschheit vorwärts. Wenn wir die verschiedenen Zeiträume vergleichen, 5000 Jahre vor Christus, 3000 Jahre vor Christus und 1000 Jahre nach Christus, dann ist etwas noch da, was über die Volksgeister hinübergreift, etwas, woran die verschiedenen Volksgeister teilnehmen. Sie brauchen das nur in unserer Zeit ins Auge zu fassen. Woher kommt es, dass in diesem Saale so viele Menschen zusammensitzen können, die aus den verschiedensten Volksgebieten herkommen und sich verstehen und sich zu verstehen versuchen in bezug auf das Allerwichtigste, was sie hier zusammengeführt hat? Die verschiedenen Menschen kommen aus dem Bereich der verschiedensten Volksgeister heraus, und dennoch gibt es etwas, worin sie sich verstehen. In ähnlicher Weise verstanden sich und konnten sich verstehen in damaliger Zeit die verschiedenen Völker untereinander, weil es in jeder Zeit etwas gibt, was die Volksseele übergreift, die verschiedenen Volksseelen zusammenführen kann, etwas, was man überall mehr oder weniger versteht. Das ist dasjenige, was man mit dem recht schlechten, aber gebräuchlichen deutschen Wort ›Zeitgeist‹ benennt oder auch ›Geist der Epoche‹. Der Geist der Epoche, der Zeitgeist, ist ein anderer in der griechischen Zeit, ein anderer in der unsrigen. Diejenigen, welche den Geist in unserer Zeit erfassen, werden zur Theosophie hingetrieben. Das ist das aus dem Geiste der Epoche über die einzelnen Volksgeister Übergreifende. In derjenigen Zeit, in der Christus Jesus auf der Erde erschien, bezeichnete sein Vorläufer, Johannes der Täufer, den Geist, den man als Zeitgeist bezeichnen könnte, mit den Worten: ›Ändert die Verfassung der Seele, denn die Reiche der Himmel sind nahe herbeigekommen.‹«

Zander behauptet, Völker seien bei Steiner »biologisch«, also letztlich »rassisch« »determiniert«. Diese Behauptung ist Unsinn. Völker sind nicht biologistisch – von unten – »determiniert«, sondern spirituell – von oben – »inspiriert« – und zwar durch die jeweiligen Volksgeister, die Erzengel, die eine Gruppe von Menschen erst zu einem Volk machen: »Ein Volk«, so Steiner, »ist eine zusammengehörige Gruppe von Menschen, welche von einem der Archangeloi, einem der Erzengel geleitet wird.«

Steiner im Kontext:

»Wenn Sie sich solche Wesenheiten denken, die also auf der Stufe der geistigen Hierarchien stehen, die wir Erzengel nennen, haben Sie einen Begriff von dem, was man ›Volksgeister‹ nennt, was man die dirigierenden Volksgeister der Erde nennt. Die Volksgeister gehören in die Stufe der Archangeloi oder Erzengel. Wir werden sehen, wie sie ihrerseits den Äther- oder Lebensleib dirigieren, und wie sie dadurch wieder hineinwirken in die Menschheit und diese in ihre eigene Tätigkeit einbeziehen. Wenn wir die verschiedenen Völker unserer Erde betrachten und einzelne herausheben, dann werden wir in dem eigentümlichen Weben und Leben dieser Völker, in dem, was wir die besonderen, charakteristischen Eigenschaften dieser Völker nennen, ein Abbild von dem haben, was wir als die Mission der Volksgeister betrachten können.

Wenn wir die Mission dieser Wesenheiten erkennen – Inspiratoren der Völker sind diese Wesenheiten –, dann können wir sagen, was ein Volk ist. Ein Volk ist eine zusammengehörige Gruppe von Menschen, welche von einem der Archangeloi, einem der Erzengel geleitet wird.

Die einzelnen Glieder eines Volkes bekommen das, was sie als Glieder des Volkes tun, was sie als Glieder des Volkes vollführen, von einer solchen Seite her inspiriert. Dadurch, dass wir uns vorstellen, dass diese Volksgeister individuell verschieden sind, wie die Menschen auf unserer Erde, werden wir es begreiflich finden, dass die einzelnen verschiedenen Gruppen der Völker die individuelle Mission dieser Archangeloi sind.

Wenn wir uns einmal geistig veranschaulichen, wie in der Weltgeschichte Volk nach Volk und auch Volk neben Volk wirkt, so können wir jetzt, wenigstens in abstrakter Form – die Form wird immer konkreter und konkreter werden in den nächsten Vorträgen – uns vorstellen, dass alles, was da vor sich geht, inspiriert ist von diesen geistigen Wesenheiten.«

GA 121 (Dornach 1982), S. 27-28

Dass Völker und einzelne Menschen als Angehörige von Völkern nicht »biologisch determiniert« sind, ergibt sich auch aus Steiners kursorischer Abgrenzung des Volksbegriffs von jenem der »Rasse«. Hierzu ein Zitat, das gleichzeitig deutlich macht, dass die physischen und ätherischen Unterschiede die Einheit der menschlichen Gattung lediglich differenzieren, also keinen Menschen von seiner Zugehörigkeit zum einen einheitlichen Menschengeschlecht ausschließen:

»Wir bekommen keinen verwirrenden Begriff, wenn wir die Sache so betrachten, sondern einen flüssigen Begriff; wir dürfen das nicht alles zusammenwerfen. Ein Volk ist keine Rasse. Der Volksbegriff hat nichts zu tun mit dem Rassenbegriff. Es kann sich eine Rasse in die verschiedensten Völker spalten. Rassen sind andere Gemeinschaften als Volksgemeinschaften. Wir sprechen gewiss mit Recht von einem deutschen, einem holländischen, einem norwegischen Volke; wir sprechen aber von einer germanischen Rasse*. Was wirkt da nun in dem Rassenbegriff? Da wirken zusammen diejenigen Wesenheiten, die wir als die normalen Geister der Form oder Gewalten bezeichnen, und die Wesenheiten, die wir als die abnormen Geister der Form, die eigentlich Geister der Bewegung sind mit Missionen der Geister der Form, kennengelernt haben. Deshalb sind die Menschen in Rassen gespalten. Das, was die Menschen über das ganze Erdenrund hin gleich macht, was jeden Menschen, gleichgültig welcher Rasse er angehört, zum Menschen, zum Angehörigen des ganzen Menschentums macht, das bewirken die normalen Geister der Form. Dasjenige aber, was über die ganze Erde dahinspielt, was das gesamte Menschentum in Rassen gliedert, das bewirken die abnormen Geister der Form  die verzichtet haben zugunsten der Tatsache, dass nicht eine einzige Menschheit auf der Erde erscheint, sondern eine Mannigfaltigkeit von Menschen.«

GA 121 (Dornach 1982), S. 66-67

* Steiner spricht ansonsten nicht von einer »germanischen Rasse«, offenbar bezieht er sich an dieser Stelle lediglich auf den allgemeinen Sprachgebrauch.