Mehr als einen »strukturellen Nukleus« der Dreigliederungsidee kann Zander in den Memoranden Steiners vom Sommer 1917 nicht finden. Stattdessen glaubt er auch abweichende »Dreiteilungen« erkennen zu können.

Auf S. 1287 schreibt Zander:

»Der erste Beleg einer triadischen sozialen Ordnung findet sich in Steiners ›Memoranden‹ zur Abwehr der Wilsonschen Vorstellung einer Neuordnung Europas ...

›Der Mensch muss sich zu einem Volke, zu einer Religionsgemeinschaft, zu jedem Zusammenhang, der sich aus seinen allgemein-menschlichen Aspirationen ergibt, bekennen können, ohne dass er in diesem Bekenntnisse von seinem politischen oder wirtschaftlichen Zusammenhange durch die Staatsstruktur abgehalten wird. … Eine parlamentarische Gestaltung dieser Staaten mag aus Gründen der Zeitentwickelung und des Völkerempfindens heute als notwendig angesehen werden. Mit den Fragen, die angesichts dieser Kriegswirren jetzt in die Weltöffentlichkeit geworfen werden müssen, hat nur die charakterisierte Dreigliedrigkeit der Staatsstruktur zu schaffen. Die bloße Frage nach dem Parlamentarismus ändert an den Verhältnissen, die in das gegenwärtige Chaos geführt haben, nichts. … Für Mitteleuropa gilt, auch wenn Parlamentarismus herrschen soll, ein solcher, in dem die politischen, die wirtschaftlichen und die allgemeinmenschlichen Verhältnisse unabhängig voneinander in Gesetzgebung und Verwaltung sich entfalten, und so sich gegenseitig stützen, statt sich in ihren Wirkungen nach außen zu verstricken und in Konfliktsstoffen [sic] sich zu entladen.‹ (GA 24,371 f.)

In der Unabhängigkeit der politischen, wirtschaftlichen und ›allgemein-menschlichen‹ Verhältnisse legte Steiner ein Alternativprogramm vor, in dem man den strukturellen Nukleus der späteren Dreigliederung sehen kann215.

Anmerkung 215:

Mehr als ein struktureller Nukleus war dies nicht, denn noch in den Memoranden präsentierte Steiner weitere Dreiteilungen, indem er ›politisch-militärische, wirtschaftliche und juristisch-pädagogische Angelegenheiten‹ trennen wollte (GA 24,354).«

Zunächst zitiert Zander ungenau aus der zweiten Fassung des zweiten (österreichischen) Memorandums. Der vollständige Text lautet (Auslassungen und Hinzufügungen Zanders durch Unterstreichung und Durchstreichung gekennzeichnet):

»Der Mensch muss sich zu einem Volke, zu einer Religionsgemeinschaft, zu jedem Zusammenhang, der sich aus seinen allgemein-menschlichen Aspirationen ergibt, bekennen können, ohne dass er in diesem Bekenntnisse von seinem politischen oder wirtschaftlichen Zusammenhange durch die Staatsstruktur abgehalten wird.

Darauf kommt es an, einzusehen, dass alle Formen der Staatsstruktur als historisch Gewordenes fähig sind, die Menschenbefreiung durchzuführen, wenn sie durch ihr eigenes Interesse darauf gewiesen sind, was im eminenten Sinne gerade bei den mitteleuropäischen Staaten der Fall ist. Eine parlamentarische Gestaltung dieser Staaten mag aus Gründen der Zeitentwickelung und des Völkerempfindens heute als notwendig angesehen werden. Mit den Fragen, die angesichts dieser Kriegswirren jetzt in die Weltöffentlichkeit geworfen werden müssen, hat nur die charakterisierte Dreigliedrigkeit der Staatsstruktur zu schaffen. Die bloße Frage nach dem Parlamentarismus ändert an den Verhältnissen, die in das gegenwärtige Chaos geführt haben, nichts. Von diesem reden die westlichen Völker so viel, weil sie von den mitteleuropäischen Verhältnissen nichts verstehen und dem Glauben sich hingeben, was für ihre Interessen von ihnen für das richtige gehalten wird, müsse als Allerweltsschablone dienen. Für Mitteleuropa gilt, auch wenn Parlamentarismus herrschen soll, dann ein solcher, in dem die politischen, die wirtschaftlichen und die allgemein-menschlichen Verhältnisse unabhängig voneinander in Gesetzgebung und Verwaltung sich entfalten, und so sich gegenseitig stützen, statt sich in ihren Wirkungen nach außen zu verstricken und in Konfliktstoffen [sich] zu entladen.«

Bereits in der ersten Fassung des zweiten Memorandums standen ähnliche Sätze, hier allerdings auch ein Hinweis auf den von Steiner abgelehnten »Rassenegoismus«:

»Die allgemein-menschlichen und die Verhältnisse der Völker fordern im Sinne der Gegenwart und der Zukunft die individuelle Freiheit des Menschen. Der Mensch muss sich zu einem Volke, zu einer Religionsgemeinschaft, zu einem anderen Zusammenhange, der mit seinen allgemein-menschlichen Aspirationen zusammenhängt, bekennen können, ohne dass er in diesem Bekenntnis von seinem politischen oder wirtschaftlichen Zusammenhange durch die Staatsstruktur abgehalten wird.

Darauf kommt es an, einzusehen, dass alle Formen der Staatsstruktur als historisch Gewordenes fähig sind, die Menschheitsbefreiung durchzuführen, wenn sie durch ihr eigenes Interesse darauf angewiesen sind, nicht bloß dem Rassenegoismus zu dienen. Eine parlamentarische Vertretung eines Volkes mag aus Gründen der Zeitentwickelung wünschenswert sein, sie ändert an den Verhältnissen, die in das gegenwärtige Chaos geführt haben, nichts, wenn in diesem Parlamente die politischen, die wirtschaftlichen und die allgemein-menschlichen Verhältnisse sich fortwährend stören. Und Mitteleuropa strebt seinem Wesen nach dahin, solche Störung auszuschließen. Keine Entente, keine Wilsonschen Ziele können aufkommen gegenüber der Kraft, die in der Verwirklichung der europäischen Freiheitsinstinkte durch Mitteleuropa liegt. Denn diese Freiheitsinstinkte sind der Keim der europäischen Völkerfreiheiten, nicht die Wilsonschen Ideen.

Die Gesetzgebung, Verwaltung und soziale Struktur, die Trennung des Politischen, Wirtschaftlichen, Allgemein-Menschlichen als Ziel des mitteleuropäischen Strebens anerkennen und annehmen, das paralysiert die Westmächtekräfte, das zwingt sie, neben den europäischen Mittelmächten, in deren Verein mit Osteuropa zu einem Frieden sich zu bekennen, der diese Westmächte sich darauf beschränken lässt, im Gebiete ihrer Volksinstinkte sich die soziale Struktur zu suchen, die ihnen angemessen ist, und die Mittel- und Osteuropäer, ihre Völkergemeinsamkeiten sich im Sinne wirklicher Menschheitsbefreiung auch innerhalb des ihnen historisch gewordenen Raumes ausleben zu lassen.

Der Parlamentarismus, der für Mitteleuropa nötig ist, wird sich ergeben, wenn man nicht mehr ihn als das erste ansieht, sondern als die Folge, wie sie herauskommen muss, wenn man als erstes anerkennt die Trennung in das Politisch-Militärische, das sich sein Verhältnis zu anderen Staaten nach seinem Wesen ebenso ordnet, wie die Anforderungen der inneren Volksstruktur – in das Wirtschaftliche, das nach seiner eigenen Natur opportunistisch geordnet wird, das heißt in diesem Sinne gesetzgeberisch vertreten und verwaltet wird –, und in das Allgemein-Menschliche, das auf die Korporationen aufgebaut ist, zu denen sich der Mensch im Sinne seiner eigenen freien Empfindung bekennt.« (GA 24, S. 382-384)

Zander spricht von einem bloßen »strukturellen Nukleus« und glaubt, in den Memoranden fänden sich auch andere »Dreiteilungen« (in Anmerkung 215).

Bereits im ersten Memorandum findet sich aber die Essenz der Dreigliederungsidee, die den in den anderen Fassungen vorgetragenen Ideen nicht widerspricht. Im ersten Memorandum (um es noch einmal zu zitieren) schreibt Steiner:

»Deshalb kann nur ein mitteleuropäisches Programm das Wilsonische schlagen, das real ist, das heißt nicht das oder jenes Wünschenswerte betont, sondern das einfach eine Umschreibung dessen ist, was Mitteleuropa tun kann, weil es zu diesem Tun die Kräfte in sich hat. Dazu gehört:

1. Dass man einsehe: Gegenstand einer demokratischen Volksvertretung können nur die rein politischen, die militärischen und die polizeilichen Angelegenheiten sein. Diese sind nur möglich auf Grund des historisch gebildeten Untergrundes. Werden sie vertreten für sich in einer Volksvertretung und verwaltet von einer dieser Volksvertretung verantwortlichen Beamtenschaft, so entwickeln sie sich notwendig konservativ. Ein äußerer Beweis dafür ist, dass seit dem Kriegsausbruche selbst die Sozialdemokratie in diesen Dingen konservativ geworden ist. Und sie wird es noch mehr werden, je mehr sie gezwungen wird, sinn- und sachgemäß dadurch zu denken, dass in den Volksvertretungen wirklich nur politische, militärische und polizeiliche Angelegenheiten der Gegenstand sein können. Innerhalb einer solchen Einrichtung kann sich auch der deutsche Individualismus entfalten mit seinem bundesstaatlichen System, das nicht eine zufällige Sache ist, sondern das im deutschen Volkscharakter enthalten ist.

2. Alle wirtschaftlichen Angelegenheiten werden geordnet in einem besonderen Wirtschaftsparlamente. Wenn dieses entlastet ist von allem Politischen und Militärischen, so wird es seine Angelegenheiten rein so entfalten, wie es diesen einzig und allein angemessen ist, nämlich opportunistisch. Die Verwaltungsbeamtenschaft dieser wirtschaftlichen Angelegenheiten, innerhalb deren Gebiet auch die gesamte Zollgesetzgebung liegt, ist unmittelbar nur dem Wirtschaftsparlamente verantwortlich.

3. Alle juristischen, pädagogischen und geistigen Angelegenheiten werden in die Freiheit der Personen gegeben. Auf diesem Gebiete hat der Staat nur das Polizeirecht, nicht die Initiative. Es ist, was hier gemeint ist, nur scheinbar radikal. In Wirklichkeit kann sich nur derjenige an dem hier gemeinten stoßen, der den Tatsachen nicht unbefangen ins Auge sehen will. Der Staat überlässt es den sach-, berufs- und völkermäßigen Korporationen, ihre Gerichte, ihre Schulen, ihre Kirchen und so weiter zu errichten, und er überlässt es dem einzelnen, sich seine Schule, seine Kirche, seinen Richter zu bestimmen. Natürlich nicht etwa von Fall zu Fall, sondern auf eine gewisse Zeit. Im Anfange wird dies wohl durch die territorialen Grenzen beschränkt werden müssen, doch trägt es die Möglichkeit in sich, auf friedlichem Wege die nationalen Gegensätze - auch andere - auszugleichen. Es trägt sogar die Möglichkeit in sich, etwas Wirkliches zu schaffen an Stelle des schattenhaften Staaten-Schiedsgerichts. Nationalen oder anderweitigen Agitatoren werden dadurch ihre Kräfte ganz genommen. Kein Italiener in Triest fände Anhänger in dieser Stadt, wenn jedermann seine nationalen Kräfte in ihr entfalten könnte, trotzdem aus selbstverständlichen opportunistischen Gründen seine wirtschaftlichen Interessen in Wien geordnet werden, und trotzdem sein Gendarm von Wien aus bezahlt wird ...

Die wirtschaftlichen Gebilde würden sich opportunistisch gesund entwickeln; denn niemand kann Triest in einem Wirtschaftsgebilde haben wollen, in dem es wirtschaftlich zugrunde gehen muß, wenn ihn das Wirtschaftsgebilde nicht hindert, kirchlich, national und so weiter zu tun, was er will.

Die Kulturangelegenheiten werden von dem Drucke befreit, den auf sie die wirtschaftlichen und politischen Dinge ausüben, und sie hören auf, auf diese einen Druck auszuüben. Alle diese Kulturangelegenheiten werden fortdauernd in gesunder Bewegung erhalten. Eine Art Senat, gewählt aus den drei Körperschaften, welchen die Ordnung der politisch-militärischen, wirtschaftlichen und juristisch-pädagogischen Angelegenheiten obliegt, versieht die gemeinsamen Angelegenheiten, wozu auch zum Beispiel die gemeinsamen Finanzen gehören.« (GA 24, S. 351-354)

Die entsprechenden Passagen im zweiten Memorandum lauten wie folgt:

»Die rechte Verwirklichung wird nie geschehen, wenn das, was Mitteleuropa wollen muss, verdeckt bleibt durch die unnatürliche Vermischung von politischen, wirtschaftlichen und allgemein menschlichen Interessen.

Denn die politischen Verhältnisse fordern, wenn sie gedeihen sollen, den gesunden Konservatismus im Sinne der Erhaltung und des Ausbaues der historisch gewordenen Staatsgebilde. Gegen diesen Konservatismus, der für Mitteleuropa eine Lebensbedingung ist, sträuben sich die wirtschaftlichen und allgemein-menschlichen Interessen nur so lange, als sie durch ihre Vermischung mit ihm zu leiden haben. Und der politische Konservatismus hat, wenn er sich auf sein wahres Interesse besinnt, nicht die geringste Veranlassung, sich durch das Zusammenwerfen mit wirtschaftlichen und allgemein-menschlichen Interessen seine berechtigten Kreise fortwährend stören zu lassen. Hört die Vermischung auf, dann versöhnen sich die wirtschaftlichen und allgemein-menschlichen Verhältnisse mit dem politischen Konservatismus, und dieser kann sich seinem eigenen Wesen gemäß ruhig entwickeln. Die wirtschaftlichen Verhältnisse fordern zu ihrem Gedeihen den Opportunismus, der ihre Ordnung nur nach ihrem eigenen Wesen zustande bringt. Es muss zu Konflikten führen, wenn die wirtschaftlichen Maßnahmen in einem anderen Zusammenhang mit politischen und allgemein-menschlichen Anforderungen stehen, als bloß in einem solchen, der sich bei ihnen zukommenden eigenen Gesetzgebungen und Verwaltungen durch den selbstverständlichen Lebenszusammenhang ergibt. Gemeint sind hier nicht etwa bloß innerstaatliche Konflikte, sondern vorwiegend solche, welche nach außen hin in politischen Schwierigkeiten und in kriegerischen Explosionen sich entladen.

Die allgemein-menschlichen Verhältnisse und die mit ihnen zusammenhängenden Völkerfreiheitsfragen fordern im Sinne der Gegenwart und Zukunft zu ihrer Grundlage die individuelle Freiheit des Menschen. In diesem Punkte wird man nicht einmal einen Anfang mit sachgemäßen Anschauungen machen, solange man glaubt, von einer Freiheit oder Befreiung der Völker könne gesprochen werden, ohne dass man diese auf der individuellen Freiheit des Einzelmenschen aufbaut, und solange man nicht einsieht, dass mit der wirklichen individuellen Freiheit die Befreiung der Völker auch notwendig gegeben ist, weil sie als Folge der ersteren durch einen naturgemäßen Zusammenhang sich einstellen muss. Der Mensch muss sich zu einem Volke, zu einer Religionsgemeinschaft, zu jedem Zusammenhang, der sich aus seinen allgemein-menschlichen Aspirationen ergibt, bekennen können, ohne dass er in diesem Bekenntnisse von seinem politischen oder wirtschaftlichen Zusammenhange durch die Staatsstruktur abgehalten wird ...

Für Mitteleuropa gilt, auch wenn Parlamentarismus herrschen soll, dann ein solcher, in dem die politischen, die wirtschaftlichen und die allgemein-menschlichen Verhältnisse unabhängig voneinander in Gesetzgebung und Verwaltung sich entfalten, und so sich gegenseitig stützen, statt sich in ihren Wirkungen nach außen zu verstricken und in Konfliktstoffen zu entladen. Mitteleuropa befreit sich und die Welt von solchen Konfliktstoffen, wenn es die angedeutete gegenseitige Störung der drei menschlichen Lebensformen in seinen Staatsstrukturen ausschließt ...

In Gesetzgebung, Verwaltung und sozialer Struktur die Trennung des Politischen, Wirtschaftlichen und Allgemein-Menschlichen als Ziel des mitteleuropäischen Strebens anerkennen und annehmen, das paralysiert die Kräfte der Westmächte.« (GA 24, S. 370-375)

Im ersten Memorandum ist also die Rede von:

• einer demokratischen Volksvertretung deren Gegenstand die rein politischen, militärischen und polizeilichen Angelegenheiten sind,

• einem besonderen Wirtschaftsparlament, das die wirtschaftlichen Angelegenheiten ordnet

• einem Freiheitsbereich, dem alle juristischen, pädagogischen und geistigen Angelegenheiten der Personen zugeordnet werden.

Im zweiten Memorandum ist die Rede von:

politischen,

wirtschaftlichen und

allgemein-menschlichen Verhältnissen;

von der Trennung

• des Politischen,

Wirtschaftlichen und

Allgemein-Menschlichen;

• die politischen Verhältnisse fordern einen »gesunden Konservatismus«

• die wirtschaftlichen fordern »Opportunismus«

• die allgemein-menschlichen »die individuelle Freiheit des Menschen«.

»Abweichende Dreiteilungen« sind hier nirgends zu erkennen.

Zander entdeckt auch im Kleinen Wandlungen bei Steiner, wo keine vorhanden sind. Das zeigt sich an einigen Bemerkungen über Eduard Graf Taaffe, der zwischen 1879 und 1893 zeitweise Ministerpräsident bzw. Innenminister Cisleithaniens, des östereichischen Teils der Doppelmonarchie war.

Auf S. 1288  schreibt Zander:

»Die Minderheitenthematik hat er [Steiner] in der ›Deutschen Wochenschrift‹ regelmäßig behandelt und Taaffe als ›nicht unbedeutenden Politiker‹ bewertet, wenngleich er die deutschen Interessen bei ihm nicht ausreichend vertreten sah (GA 31,119); schon 1897 war das Lob für Taaffe verschwunden (ebd., 216), 1923 war nur Kritik an der in Steiners Augen deutschfeindlichen Politik Taaffes übriggeblieben (GA 28,65).«

An diesen Sätzen ist nahezu nichts wahr.

1888 schrieb Steiner über Taaffe:

»Es gibt eben ein zweifaches Regieren. Ein solches mit einem politischen Programm, das den Verhältnissen die Richtung vorzeichnet, und ein solches von Fall zu Fall, das sich durch diplomatische Benützung der sich gerade darbietenden Konstellationen um jeden Preis an der Oberfläche erhalten will. Was man im gewöhnlichen Leben einen Politiker nennt, der ist entschieden auch für das Regieren im letzteren Sinne. Und Graf Taaffe ist in diesem Sinne ein nicht unbedeutender Politiker ... Das ›Sich-ober-Wasser-halten‹ durch Diplomatenkünste ohne leitenden Staatsgedanken kann ja nicht ohne Ende sein; was nicht getragen ist von inneren Notwendigkeit, sondern nur von dem Ehrgeize, das muss sich selbst auflösen.« (GA 31, S. 119-120)

Steiner hielt also Taaffe in Wahrheit nicht für einen bedeutenden Politiker, sondern für unbedeutend. Vor allem ist die Äußerung von 1888 nicht als »Lob«, sondern vielmehr als Tadel zu verstehen.

1897 schrieb Steiner im »Magazin für Literatur« über einen Brief Theodor Mommsens an die Deutschen Österreichs. Dieser kurze Artikel ist in mehrfacher Hinsicht interessant. Durch seine Kritik am inhaltsleeren Nationalismus der Deutschen in Österreich macht er deutlich, was von Zanders permanenten Unterstellungen zu halten ist, Steiner sei »Nationalist und Kulturimperialist« gewesen. Steiner wirft den Deutschen vor, sie hätten nur noch den »nationalen Gedanken« gepflegt. Er frägt: »Warum sollte es nicht möglich sein, dass die Deutschen einen österreichischen Staat schaffen, in dem die andern Nationen sich wohlfühlen?« Der »rein nationalen Partei« die in Österreich regiert, wirft Steiner vor, dass sie bloß die deutsche Nationalität verteidigen wolle. Und schließlich zeigt sich eine Kontinuität in der Kritik an Taaffe. Auch 1898 wirft Steiner wie schon 1888 diesem Opportunismus und Dilettantismus vor.

»Es ist nun zweifellos, dass sich die politischen Verhältnisse in Österreich, so wie Mommsen andeutet, entwickelt haben, weil den Deutschen nach und nach die inhaltvollen politischen Ideen ausgegangen sind, und weil sie sich immer mehr der Aufgabe zugewendet haben, ihre Nationalität gegenüber den Ansprüchen der andern österreichischen Völker zu verteidigen und den ›nationalen Gedanken‹ zu pflegen. Die Macht der Deutschen in Österreich wird immer in demselben Maße wachsen, in dem sich bei ihnen politische Ideen entwickeln, die den Lebensbedingungen dieses Staates entsprechen, in welchem eben viele Sprachen gesprochen werden. Und diese Macht wird geringer in dem Maße, in dem sie sich beschränken auf die Betonung und Pflege der nationalen Empfindungen.

Taaffes Stärke lag darinnen, dass er über die oben angedeuteten politischen Aufgaben Ansichten hatte. Seine Schwäche darinnen, daß diese Ansichten nicht bestimmt genug waren, weil sie nicht einer tieferen politischen Bildung, sondern einem in den wichtigsten Augenblicken versagenden Dilettantismus ihren Ursprung verdankten. Badeni kann nicht regieren, weil er keinen eigenen Gedanken hat, sondern nur die Taaffeschen Ideen in unwirksamer Weise nachahmt. Der Tag wird den Deutschen Österreichs wieder die ihrer Kulturhöhe entsprechende Machtstellung bringen, der ihnen politische Führer bringt, welche die Frage beantworten können: was ist in Österreich zu tun? Die slawischen Nationen wollen dem Staate ein bestimmtes Gefüge geben. Sie wollen Einrichtungen, bei denen sich die nationalen Individualitäten frei entwickeln können. Diese freie Entwicklung kann durch Gewalt nicht verhindert werden. Warum sollte es nicht möglich sein, daß die Deutschen einen österreichischen Staat schaffen, in dem die andern Nationen sich wohlfühlen? Die alte Verfassungspartei hat es nicht gekonnt. Unter ihrem Regiment fühlten sich die Nicht-Deutschen vergewaltigt. Sie hatte politische Ideen. Aber diese bewegten sich nicht in der Richtung, in der sich der Staat entwickeln muss. Diese Verfassungspartei ist jetzt abgelöst worden von einer rein nationalen Partei. Diese scheint zunächst kein Interesse an der Gesamtgestaltung des Staates zu haben. Ihre Mitglieder sprechen nicht von spezifisch österreichischen politischen Ideen. Sie wollen bloß die deutsche Nationalität verteidigen. Diese Verteidigung wird am besten gelingen, wenn sie nicht mehr Selbstzweck ist.« (GA 31, S. 215-216)

1923 schließlich, in »Mein Lebensgang«, von dem Zander behauptet, es sei nur noch die Kritik an Taaffes »deutschfeindlicher Politik« übrig geblieben, schrieb Steiner:

»Mich interessierten außer den oft in das Leben tief einschneidenden Maßnahmen der Parlamente ganz besonders die Persönlichkeiten der Abgeordneten. Da stand an seiner Bankecke jedes Jahr als ein Hauptbudgetredner der feinsinnige Philosoph Bartholomäus Carneri. Seine Worte hagelten schneidende Anklagen gegen das Ministerium Taaffe, sie bildeten eine Verteidigung des Deutschtums in Österreich.« (GA 28, S. 65)

Steiner spricht also über Carneri, dessen Worte »schneidende Anklagen« gegen Taaffe gebildet und das Deutschtum in Österreich verteidigt hätten. Steiner selbst enthält sich jeglichen Urteils über Taaffe.

Angeblich benennt Steiner für seine Idee eines besonderen Wirtschaftsparlaments in den Memoranden eine zeitnahe Quelle, den »späteren überzeugten Nationalsozialisten« Ernst Krieck.

Auf S. 1289 schreibt Zander:

»Und Steiner nannte zumindest für die Vorstellung eines neben der allgemeinen Volksvertretung existierenden »besonderen Wirtschaftsparlaments« eine andere zeitnahe Quelle, Ernst Kriecks »Deutsche Staatsidee« von 1917 (ebd., 355). Der Pädagoge Krieck (1882–1947), der später als überzeugter Nationalsozialist Rektor an den Universitäten Frankfurt am Main (1933) und Heidelberg (1937 / 38) war, hatte allerdings  ein Wirtschaftsparlament wegen der organisatorischen Aufwendigkeit und der unabgrenzbaren Zuständigkeitsfragen abgelehnt ..., während seine Einrichtung sich für Steiner »aus den wirklichen Verhältnissen der Entwicklung« ergab (GA 24,355).«

Benennt Steiner Kriecks Schrift als Quelle für seine Idee eines Wirtschaftsparlaments? Nein, er tut es nicht. Steiner erwähnt Krieck als jemanden, der eine solche Idee ablehne. In der letzten Fassung des zweiten Memorandums schreibt Steiner:

»In Mitteleuropa muss die Kollektivfreiheit der Völker aus der allgemeinen menschlichen Freiheit sich ergeben, und sie wird sich ergeben, wenn man durch Ablösung aller nicht zum rein politischen, militärischen und wirtschaftlichen Leben gehörigen Lebenskreise dafür freie Bahn schafft. Es ist ganz selbstverständlich, dass gegen solche Loslösung diejenigen, welche stets nur mit ihren Ideen, nicht mit der Wirklichkeit rechnen, solche Einwände erheben, wie man sie in einem eben erschienenen Buche findet, nämlich in Kriecks ›Die deutsche Staatsidee‹ auf Seite 167 f.: ›Gelegentlich wurde früher, unter anderen von E. von Hartmann, die Forderung nach einem Wirtschaftsparlamente neben der Volksvertretung erhoben. Der Gedanke liegt ganz in der Richtung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwickelung. Abgesehen aber davon, dass ein neues großes Rad die ohnehin reichliche Unbeholfenheit und Reibung der Maschine vermehren würde, wäre die Zuständigkeit zweier Parlamente unmöglich gegeneinander abzugrenzen.‹« (GA 24, Dornach 1982, S. 355)

Einmal mehr nutzt Zander en passant eine Gelegenheit, Steiner Nähe zum Nationalsozialismus zu unterstellen.

Unterschiedliche Darstellungen Steiners aus den Jahren 1917 und 1918, die nicht unmittelbar mit der »Dreigliederung des sozialen Organismus« zu tun haben, wirft Zander in einen Topf, und wundert sich, dass sich aus dem Vergleich des nicht Vergleichbaren ein »Verschiebebahnhof mit umetikettierbaren Containern« ergibt. Dieser Verschiebebahnhof wird aber erst dadurch erzeugt, dass Zander Analogien oder Homologien in Ausführungen Steiner hineinprojiziert, die offensichtlich nicht als solche intendiert waren.

Auf S. 1295 schreibt Zander:

»Am 14. November 1917 beschrieb er in einem Exkurs ›drei soziale Lebensgebiete‹, das ›ökonomische‹ und das ›unbewußte‹ ›moralische‹ Gebiet sowie das Rechtsleben (GA 73,196.200.202). Inhaltlich waren die Begriffe kaum gefüllt, und die ›unbewußte‹ Moralität war fast das Gegenteil des späteren kognitiven ›Geisteslebens‹ ...

Erst nach einer einjährigen Abstinenz bot Steiner am 24. November 1918 wieder Überlegungen zu einer ›Dreigliederung‹ an, möglicherweise fiel hier der Begriff in einer politischen Verwendung zum ersten Mal (GA 185a,218).

...

Im Vergleich mit den Äußerungen vom 14. November 1917 ist die Dreiteilung nur formal stabil, die Inhalte gleichen umetikettierbaren Containern auf einem Verschiebebahnhof.«

Zander vergleicht drei Vorträge miteinander, von denen erst der dritte explizit auf die soziale Dreigliederung Bezug nimmt.

Steiner schildert in seinem Vortrag vom 14. November 1917 zunächst die physiologische Dreigliederung des Menschen und ihren Zusammenhang mit den Seelenkräften des Vorstellens, Fühlen und Wollens. In einem zweiten Schritt stellt er eine Beziehung zwischen den drei Seelenkräften und den höheren Erkenntnisarten Imagination, Inspiration und Intuition her, durch die erst erkennbar wird, was den gewöhnlichen Seelenkräften geistig zugrunde liegt. In einem dritten Schritt schließlich stellt er dar, dass die Imagination erforderlich ist, um das Wirtschaftsleben (die Ökonomie), die Inspiration um die »im weitesten Sinne« moralischen Impulse, die sich in einer Gesamtheit von Menschen ausleben, und die Intuition, um das Rechtsleben zu erkennen.

Auch in seinem Vortrag vom 17. November 1918, der sich mit der »historischen Dreigliederung« befasst, schildert Steiner drei Sphären. Er beschreibt die historische Herausbildung der drei Stände oder Klassen als eine instinktiv entstandene Offenbarung des dreigegliederten Menschen und den Niedergang dieser Ordnung in der Neuzeit. An die Stelle der verloren gegangenen sozialen Ordnung muss eine neue, bewusst gestaltete treten, die zugleich die alte Klassenordnung durchbricht, indem sie jedem Menschen Anteil an den drei gesellschaftlichen Sphären gewährt.

Erst in seinem Vortrag vom 24. November 1918 geht Steiner erstmals konkret und explizit auf eine Dreigliederung des sozialen Organismus ein. Hier unterscheidet er drei Gebiete:

• Sicherheitsdienst nach dem Prinzip der Gleichheit,

• wirtschaftliches Leben nach dem Prinzip der Brüderlichkeit,

• Jurisprudenz, Unterrichtswesen, freies geistiges Leben, religiöses Leben, unter dem Gesichtspunkte der Freiheit, der absoluten Freiheit.

Zusammenfassend:

14.11.1917

• Vorstellungsleben – Imagination – Wirtschaftsleben (Ökonomie);

• Atem-Blutkreislauf – Inspiration – allgemein-menschliche Aspirationen (moralische Impulse);

• Stoffwechsel – Intuition – Rechtsleben.

17.11.1918

• Adel – Vereinseitigung des Brustmenschen – Grundlage des Studiums der Ökonomie;

• Bourgeoisie – Vereinseitigung des Kopfmenschen – Grundlage der Gesellschaftswissenschaft;

• Proletariat – Vereinseitigung des Stoffwechselmenschen – geschichtliche Auffassung des Menschen.

24.11.1918:

• Sicherheitsdienst nach dem Prinzip der Gleichheit,

• wirtschaftliches Leben nach dem Prinzip der Brüderlichkeit,

• Jurisprudenz, Unterrichtswesen, freies geistiges Leben, religiöses Leben, unter dem Gesichtspunkte der Freiheit, der absoluten Freiheit.


Die Wortlaute im Kontext:


14. November 1917, GA 73

»Ich habe das letzte Mal und heute andeutungsweise darauf hingewiesen, wie dieses Geistig-Seelische zusammenhängt: als Vorstellungsleben mit dem Nervenleben, als Gefühlsleben mit dem Atmungsrhythmusleben, als Willensleben mit dem Stoffwechselleben

...

So wie das Vorstellungsleben auf der einen Seite seinen leiblichen Grund und Boden in dem Nervenleben hat, so hängt das Vorstellungsleben nach der anderen, nach der geistigen Seite, mit einer Welt zusammen, zu der es gehört. Aber diese Welt, mit welcher das Vorstellungsleben nach der geistigen Seite zusammenhängt, kann man nur erkennen durch das schauende Bewusstsein, und zwar durch die erste Stufe dieses schauenden Bewusstseins, durch dasjenige, was ich das imaginative Erkennen, das imaginative Schauen genannt habe, das aus der Seele selbst herausgeholt wird, wie ein geistiges Auge aufgeht

...

Ich fahre nun fort in der Schilderung des Menschen, wie er sich in den sozialen Lebenszusammenhang hineinzustellen hat: Das Gefühlsleben – jetzt nicht das Vorstellungsleben, sondern das Gefühlsleben des Menschen – hat auf der einen Seite, wie ich schon ausgeführt habe, sein leibliches Gegenstück in dem Atmungsrhythmus, auf der anderen Seite aber hat es seine Beziehung zu geistigen Inhalten. Was auf der geistigen Seite dem Gefühlsleben entspricht, wie auf der leiblichen Seite das Atmungsrhythmusleben, das kann als ein geistiger Inhalt, als Inhalt von geistigen Wesenheiten, geistigen Kräften, nur mit dem durchdrungen werden, was ich in diesen Vorträgen das inspirierte Bewusstsein genannt habe.

Mit diesem inspirierten Bewusstsein aber kommt man nicht bloß zu einem geistigen Inhalte, der unser Dasein erfüllt zwischen Geburt, oder sagen wir Empfängnis und Tod; sondern da kommt man zu der Anschauung desjenigen, was durch Geburt und Tod hindurchgeht, was zu tun hat mit unserem Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, des Wesens also, das auch dann lebt, wenn der Mensch diesen physischen Leib nicht mehr trägt.

...

Und als drittes muss geltend gemacht werden, dass das Willensleben des Menschen auf der einen Seite eigentlich zu der niedersten Betätigung des menschlichen Organismus in Beziehung steht zu dem Stoffwechsel, zu dem, was im weitesten Umfange in Hunger und Durst sich ausdrückt, auf der anderen Seite aber geistig zu der höchsten geistigen Welt, zu der intuitiven Welt, wie ich sie hier in diesen Vorträgen schon öfter erwähnt habe. So dass in der Tat eine völlige Umkehrung der Verhältnisse stattfindet.

Das Vorstellungsleben steht zunächst unterbewusst mit der imaginativen Welt in Berührung, mit dem Nervenleben nach der anderen Seite. In einer Welt, die über unser persönliches leibliches Leben als unser Wesenskern hinausragt, steht das Gefühlsleben drinnen nach der geistigen Seite hin. Und das Willensleben, das seinen leiblichen Ausdruck immer, wenn ein Willensimpuls stattfindet, in irgendeinem Stoffwechselvorgang findet, das sich also in den niedersten Vorgängen des Organismus ausdrückt, steht nach der geistigen Seite im Zusammenhange mit der höchsten geistigen Welt, der intuitiven Welt.

Und auf diesem Gebiet erst kann erforscht werden, was man wiederholte Erdenleben nennt. Was aus einem Erdenleben in das andere hinüberspielt, das ist kein Impuls, der erfasst werden kann durch Imagination, geschweige denn durch gewöhnliches Bewusstsein, nicht einmal mit dem inspirierten Bewusstsein, sondern erst mit dem intuitiven Bewusstsein. In unser Leben spielen die Impulse herein aus früheren Erdenleben. Aus diesem Leben spielen die Impulse in spätere Erdenleben. Was dieser Forschung allein das Gepräge geben kann, das ist der erweckte Sinn für wirkliche, nicht bloß für verschwommene Intuitionen, von denen man im gewöhnlichen Leben spricht.

...

Dieser volle Mensch nun – nicht ein abstrakter Mensch, der von der Naturwissenschaft oder den Naturwissenschaftlern hineingestellt wird in einen leeren, abstrakten, nicht von der vollen Wirklichkeit erfüllten Vorstellungszusammenhang –, dieser volle Mensch steht in dem sozialen Lebenszusammenhang ...

Und drei Gebiete treten einem zunächst entgegen in den sozialen Gemeinschaften, welche ihre Beleuchtung finden müssen durch die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft ...

Drei soziale Lebensgebiete treten einem entgegen. Das erste soziale Lebensgebiet, das dem Menschen entgegentritt und auf das das Anwendung findet, was ich eben charakterisiert habe, das ist das ökonomische Gebiet ...

In diesem ökonomischen Leben herrschen schon ganz andere Impulse als in der Natur, als selbst in der menschlichen Naturgrundlage. In der menschlichen Naturgrundlage liegen der Betrachtung zum Beispiel die Bedürfnisfragen zugrunde. In der äußeren ökonomischen Ordnung liegen die Befriedigungsfragen zugrunde. Habe ich ein soziales Gemeinwesen mit seiner ökonomischen Struktur wirklich zu erkennen, so habe ich zu erkennen, wie nach der geographischen und sonstigen Beschaffenheit für menschliche Verhältnisse befriedigende Mittel da sind. Von der Bedürfnisfrage geht man aus, wenn man den Menschen individuell betrachtet. Gerade aber von der entgegengesetzten Seite muss man ausgehen, wenn man die ökonomische Struktur betrachtet. Da hat man nicht zu betrachten, wessen Menschen bedürfen, sondern was da ist für Menschen auf einem bestimmten Gebiete, wenn sich ein Gemeinschaftsleben entwickelt. Das ist nur eine Andeutung. Vieles müsste gesagt werden, wenn nun die ökonomische Struktur in ihrer Gesamtheit besprochen werden sollte. Allein, was da eigentlich der Organismus der ökonomischen Struktur eines Staates oder eines Gemeinwesens ist, das kann nicht beherrscht werden mit den Begriffen, die der gewöhnlichen Naturwissenschaft entlehnt sind...

Ökonomische Strukturen durchschaut man nicht mit naturwissenschaftlichen – sei es am Darwinismus, sei es am Newtonismus gewonnenen – Begriffen, die nur auf Naturfakten gehen können. Sondern da muss man zu anderen Begriffen fortschreiten.

Und diese kann ich nur so charakterisieren, dass ich sage, zugrunde liegen muss diesen Begriffen, wenn auch nicht vielleicht ein deutliches Vorstellen, so doch ein Gefühl des Sich-Hineinversenkens in die soziale Struktur, so dass auftauchen Vorstellungen, die dem imaginativen Leben angehören. Nur mit Hilfe von imaginativen Vorstellungen kann ein Bild geschaffen werden einer konkreten sozialen Struktur, die irgendwo auftritt. Sonst kommt man zu wesenlosen, zu wertlosen Abstraktionen.

...

Ein zweites Gebiet des sozialen Lebens ist das moralische, die moralische Struktur, der moralische Impuls, der sich in einer Gesamtheit auslebt. Wieder taucht man hinunter in alle möglichen unbewussten Gebiete, wenn man jene Impulse erforschen will, die in den menschlichen moralischen – im weitesten Sinne moralischen – Aspirationen zutage treten. Wer da eingreifen will, sei es als Staatsmann, sei es als Parlamentarier, sei es auch, indem er irgendeinem Unternehmen vorsteht und leitend sein will, versteht die Struktur nur, wenn er sie beherrschen kann mit Begriffen, die in inspirierten Erkenntnissen wenigstens ihre Grundlage haben ...

Es ist also mehr notwendig, als man heute oftmals glaubt, um in dieses Soziale insofern einzugreifen, als moralische Impulse mitspielen. Diese moralischen Impulse müssen wahrhaft ebenso aus der Wirklichkeit heraus studiert werden, wie die Impulse des organischen Lebens nicht erfunden werden können, sondern studiert werden müssen aus dem Organismus selbst heraus. Würde man in einer ähnlichen Weise über die Löwennatur, über die Katzennatur, meinetwillen die Igelnatur, aus dem menschlichen Geistesleben heraus Begriffe spinnen, wie man Begriffe spinnt, indem man heute den Marxismus oder andere sozialistische Theorien ausdenkt, ohne die Natur in Wirklichkeit zu studieren, würde man in solcher Weise rein a priori über die tierische Natur Begriffe konstruieren, so würde man auf sonderbare Theorien über die tierische Organisation kommen.

Das Wesentliche ist, dass in seiner vollen Konkretheit der soziale Organismus auch da studiert werden muss, wo moralische Kräfte im weitesten Sinne walten. Auch die Bedürfniskräfte, die der Mensch geltend macht – sie sind immer auch im weiteren Sinn moralische Kräfte –, können nur gemeistert werden, wenn man in seiner Konkretheit den sozialen Organismus aus solchen, wenn auch dunklen Vorstellungen heraus erforscht, welche in der inspirierten Welt wurzeln. Wie weit ist man heute entfernt von einer solchen Vorstellungsweise!

Geisteswissenschaft kommt dazu, im einzelnen wirklich zu studieren, worinnen die Impulse der Bevölkerung Mitteleuropas, der Bevölkerung Westeuropas, Osteuropas bestehen. Sie kommt dazu, im Konkreten zu sehen, wie die verschiedenen Seelenimpulse, die aus dem sozialen Organismus heraufsteigen, ebenso begründete konkrete Impulse sind wie die Impulse, die aus dem physischen Organismus heraufsteigen. Sie lernt erkennen, dass auch das Zusammenleben der Völker mit diesen aus der Tiefe heraus studierbaren Impulsen zusammenhängt. Geisteswissenschaft findet eine ganz andere Seelenstruktur als im Westen bei dem Menschen des europäischen Ostens und weiß, wie sich eine solche Struktur im ganzen europäischen Leben einleben muss. Ich kann darauf aufmerksam machen, dass ich seit Jahrzehnten über die verschiedenen Seelenstrukturen gesprochen habe, die dem sozialen Leben Europas zugrunde liegen, rein aus geisteswissenschaftlichen Vorstellungen heraus; aber das, was so gefunden wurde, wird bestätigt durch das, was empirische Kenner sagen, die in dem konkreten Leben drinnenstehen. Lesen Sie in der gestrigen und heutigen ›Neuen Zürcher Zeitung‹, was als Dostojewskische Anschauungen über die russische Volksseele, über die russischen Ideale gesagt wird, und Sie haben da – was ich nur anführen kann, die Zeit reicht nicht aus, im einzelnen zu schildern – einen vollständigen Beleg: die äußere Beobachtung eines Resultates im eminentesten Sinne desjenigen, was durch Geisteswissenschaft seit Jahren vertreten wird.

...

Und weiter: ein drittes Gebiet, das uns im sozialen Leben entgegentritt, ist dasjenige, das wir das Rechtsleben benennen. Aus ökonomischem, moralischem und Rechtsleben besteht im wesentlichen die soziale Struktur einer Gesamtheit. Nur muss man diese Begriffe alle im geistigen Sinne nehmen. So wie das ökonomische Leben nur wirklich studiert werden kann, wenn die imaginativen Vorstellungen zugrunde gelegt werden, das moralische, in dem, was es wirklich enthält, nur, wenn die inspirierten Vorstellungen zugrunde gelegt werden, so kann das Rechtsleben nur mit intuitiven Vorstellungen, die wiederum aus der vollen konkreten Wirklichkeit heraus gewonnen werden, begriffen werden.«


17. November 1918, GA 185a

»Aus der Urweisheit heraus, die auf atavistische Art, wie ich es Ihnen öfter auseinandergesetzt habe, von der Menschheit erworben worden ist, in vollbewusster Art aber wiederum errungen werden muss vom Zeitalter der Bewusstseinsseele, aus dieser Urweisheit heraus hat Plato den Menschen dreigegliedert. Das sieht man heute als etwas Kindliches an. Das ist aber aus einer sehr tiefen Weisheit heraus, aus einer Weisheit, die wahrlich tiefer ist als dasjenige, was heute über den Menschen, sei es von Naturwissenschaft, sei es von Nationalökonomie oder von anderen Wissenschaften an unseren Universitäten gelehrt wird.

Plato hat den Menschen dreigeteilt. Wir gliedern heute etwas anders, aber man hat ein Bewusstsein dieser Dreiteilung noch bis in das achtzehnte Jahrhundert hinein gehabt. Dann ist es erst ganz verlorengegangen. Und die Menschen des neunzehnten Jahrhunderts, diese so gescheiten, so aufgeklärten Menschen haben über diese Dreiteilung in ihrer konkreten Form nur gelacht, lachen bis heute. Plato teilte den Menschen, den man verstehen muss, wenn man die gesellschaftliche Struktur verstehen will, zunächst in den Menschen, welcher die Weisheit entfaltet, Erkenntnis, Wissen, den logischen Teil der Seele, dasjenige, was wir an den Kopf-Organismus knüpfen, als sein Wissen an seinen Sinnes- und Nerven-Organismus knüpfen. Plato unterschied dann den sogenannten tatkräftigen, zornmütigen Teil der Seele, den irasziblen, den mutigen, tapferen Teil der Seele, alles dasjenige, was wir an das rhythmische Leben knüpfen. Sie brauchen nur in meinem Buch ›Von Seelenrätseln‹ nachzulesen. Dann unterschied er den Begierdemenschen, den Menschen, insoferne er Quell des Begehrungsvermögens ist, alles das, was wir jetzt in viel vollkommenerer Form kennen; das konnte Plato knüpfen physisch an den Stoffwechsel, spirituell an die Intuition, so wie wir sie meinen in unserer Dreigliederung des höheren Erkenntnisvermögens: Imagination, Inspiration, Intuition. Man kann nicht verstehen, was in der gesellschaftlichen Struktur der Menschheit vorgeht und wie sich die gesellschaftlichen Strukturen ausleben, wenn man den Menschen nicht selbst kennenlernt nach dieser seiner dreigliedrigen Beschaffenheit. Denn der Mensch ist ja nicht so in der Welt, in der er als Angehöriger des physischen Planes ist, dass er diese drei Glieder auch in bezug auf ihre inneren, intimen Gestaltungen und Eigenschaften gleichmäßig ausbildet, sondern er bildet sie in verschiedener Art aus; der eine bildet den einen Teil mehr aus, der andere bildet den anderen Teil mehr aus. Und auf der verschiedenartigen Ausbildung der Teile beruht namentlich die Heranbildung der Klassen, wie sie sich im Laufe der Entwickelung der europäischen Menschheit mit ihrem amerikanischen Anhang ergeben hat.

Man kann sagen: Der Teil, der hauptsächlich das rhythmische Leben ins Auge fasste, der Erziehung, Zusammenleben, soziale Anschauung so einrichtete, dass das rhythmische Leben dabei dasjenige war, was man vorzugsweise als das Menschliche fühlte, das ist der Stand oder die Klasse, die sich als der alte Adelsstand herausgebildet hat. Wenn Sie sich denken eine gesellschaftliche Struktur, entstanden dadurch, dass Menschen hauptsächlich sich fühlten als Brustmenschen, dann haben Sie dasjenige, was die Gruppe des Adels, der Adelsklasse ausmacht.

Wenn Sie sich denken diejenigen Menschen, welche vorzugsweise die Kopfkräfte, den weisen Teil ausbilden jetzt sage ich auch einmal etwas, was vielleicht versöhnen kann mit mancherlei, was ich gesagt habe —, diejenigen Menschen, die in der Klasse zusammengeschlossen waren, die vorzugsweise den weisen Teil ausbildet, den Kopf, den Sinnes- und Nerventeil, so ist das diejenige Gruppe, die sich allmählich zusammengeschlossen hat im Bürgerstande, in der Bourgeoisie.

Diejenigen Menschen, die ja heute die weitaus zahllosesten bilden, die sich vorzugsweise zusammengeschlossen haben in alledem — Sie wissen aber, die Intuition hängt geistig mit dem Stoffwechsel zusammen –, das seinen Quell im Wollen, im Stoffwechsel hat, das ist das Proletariat. So dass tatsächlich die Menschen sozial so gegliedert sind, wie der Mensch im einzelnen gegliedert ist.

Nun muss man allerdings die besondere Natur des menschlichen Zusammenschlusses erkennen. Und in dieser Beziehung ist geradezu für das Bewusstsein, für die Vorstellungsgewinnung der Menschen noch alles zu tun, denn in bezug auf das, was ich jetzt meine, hat gerade die moderne Menschheit die allerverkehrtesten Vorstellungen. Diese moderne Menschheit hat es ja sogar dahin gebracht, sich vorzustellen, dass der Mensch als einzelnes Wesen weniger vollkommen ist denn als Staatstier, dass der Mensch etwas gewinne dadurch, dass er Glied eines Staatswesens wird, und es wird sehr schwer werden, in die Köpfe die Vorstellung hineinzubringen, dass der Mensch dadurch, dass er sich in einen staatlichen Organismus hineingliedert, nichts gewinne, sondern verliert. So verliert er auch, indem er sich in Stände hineingliedert, in Klassen hineingliedert. Dasjenige, was der Mensch im einzelnen entwickelt, das wird dadurch, dass es in der sozialen Struktur in der Mehrheit lebt, nicht etwa gefördert, sondern es wird abgelähmt, es wird unterdrückt.

So unterdrücken die Traditionen, die Vorstellungen der Adelskaste die urindividuellen Kräfte des Brustmenschen. Also nicht, dass sie sie fördern, sondern sie unterdrücken sie, sie lähmen sie zurück. Darauf kommt es an. Es kommt darauf an, einzusehen, dass zwar in der Gruppe der adeligen Menschen diejenigen Menschen vereinigt sind, deren Seelen bei einer Verkörperung vorzugsweise hintendieren nach dem Brustmenschen, dass aber die äußere Vereinigung auf dem physischen Plan ablähmt dasjenige, was aus dem Brustmenschen herauskommen würde. Es würde zu weit führen, wenn ich Ihnen das im einzelnen zeigen würde. Aber nehmen Sie nur einmal an, dass zum Beispiel das, was Ehrgefühl ist, sich auf ganz individuelle Weise aus dem Brustmenschen heraus entwickelt; der äußere Ehrbegriff aber, der ist gerade dazu da, das Äußere zu schaffen, damit das Innere schlafen kann. Alle Zusammenfügung ist eigentlich dazu da, auf äußerliche Weise etwas zu konstituieren, damit das Innerliche, Ursprüngliche, Elementare schlafen kann. Ich brauche nicht wiederum an Roseggers Ausspruch, den ich ja schon oft angeführt habe, zu erinnern: ›Oaner is a Mensch, Mehre san Leit und Vüle san Viecher‹. Der Mensch ist tatsächlich dasjenige, was er ist, aus den elementaren Kräften heraus als Individualität. Das versuchte ich auch in wissenschaftlicher Grundlegung zu zeigen in meiner ›Philosophie der Freiheit‹.

Alles dasjenige nun, wonach das moderne Proletariat strebt, das ist nicht geeignet, das, was in ihm gerade elementar wirkt, zur Vollendung zu bringen, sondern es geradezu zu unterdrücken, es in den Hintergrund zu drängen, abzulähmen. Und heute ist die Zeit, wo man so etwas einsehen muss, wo man nur weiterkommt, wenn man die Dinge durchschaut. Denn die instinktiven Kräfte das habe ich öfter ausgeführt —, die wirken nicht mehr. Und die Bourgeoisie – jetzt kommt die Kehrseite der Sache –, die ist in ihrem Zusammenschlüsse hauptsächlich dagewesen, um herabzulähmen die Weisheit. Die Menschen haben sich schon zusammengefunden in der Bourgeoisie, deren Seelen hineingestrebt haben, um den Kopfmenschen auszubilden; aber namentlich die sogenannte Wissenschaftlichkeit der sozialen Bourgeoisie, die hat eine solche Struktur bewirkt, dass der Kopfmensch möglichst kopflos geworden ist. Und er erweist sich ja immer mehr und mehr gegenüber dem Anstürmen der neueren Zeit als ein recht kopfloses Wesen.

Nun, auf der einen Seite hat sich in ausgesprochener Weise, in signifikanter Art herausgebildet diese menschliche Gliederung. Aber man hatte den Verständnisanschluss versäumt; man konnte nicht mehr sich Vorstellungen bilden über die Art, wie man unter den Menschen lebt, denn man hatte verloren das Verständnis für den dreigliedrigen Menschen.

Es würde zum Beispiel notwendig sein und so etwas würde auch geschehen müssen, bevor man daran gehen kann, eine neue soziale Ordnung zu begründen irgendwo oder irgendwann –, es wird zum Beispiel notwendig sein, alles das, was zusammenhängt mit dem Impulse des Brustmenschen, zu studieren. Und erst, wenn man das wirklich studiert, nicht so, wie es sich die Theosophen denken, sondern so, wie es der Wirklichkeit entspricht, erst dann bekommt man eine wahrhafte Wissenschaft von der Art, wie Arbeit, Erträgnis der Arbeit, Lohn, Rente, Kapital, Produktionsmittel und so weiter in der Welt angeordnet werden müssen unter den instinktiven Forderungen der neueren Zeit. So weit wie möglich entfernt ist dasjenige, was man offiziell Nationalökonomie nennt, die eigentlich nur ein Spiel mit Begriffen und Worten ist und die hoffentlich recht bald verschwinden wird vom wissenschaftlichen Schauplatz, so weit entfernt als möglich ist das von dem, was herauskommt, wenn man wirklich den Menschen studiert als Brustmenschen, wo dann herauskommt, was mit Bezug auf die Verteilung der Arbeit, der Produktionsmittel, des Grundes und Bodens und so weiter, als Forderung in der Menschheitsentwickelung verlangt werden muss.

Ebenso muss studiert werden dasjenige, was mit dem Kopfmenschen, mit dem Sinnes- und Nervenmenschen zusammenhängt im weitesten Umfange, wiederum nicht so abstrakt, wie es sich die Theosophen vorstellen, sondern es muss in aller Konkretheit studiert werden, was der Mensch ist in der Sinneswelt als ein geistiges, als ein spirituelles Geschöpf mit anderen Menschen zusammen in der Gesellschaft, mit anderen Menschen zusammen in irgendeiner, sei es staatlichen oder sonstigen Struktur. Es muss aus der Beschaffenheit des Nerven- und Sinnesmenschen studiert werden. Das Studium des Nerven- und Sinnesmenschen gibt eine wirkliche Gesellschaftswissenschaft. Und endlich das Studium des Stoffwechselmenschen, der mit der Intuition zusammenhängt, das gibt erst eine wirkliche Anschauung über die Entwickelung, über das Werden des Menschen, das gibt erst eine geschichtliche Auffassung der Menschheitsentwickelung.

Nun werden Sie leicht verstehen, dass man weder eine geschichtliche Auffassung der Menschheitsentwickelung haben konnte, ohne den mikrokosmischen Menschen wirklich zu verstehen, noch auch eine wirkliche Anschauung über die Verteilung der wirtschaftlichen Werte, weil man den Brustmenschen nicht studiert; noch konnte man verstehen, wie der einzelne individuelle Mensch in der menschlichen Gesellschaft drinnensteht, weil man den Kopfmenschen, eben den Sinnes- und Nervenmenschen, in seiner Wirklichkeit, in seinem ganzen Zusammenhange mit dem Kosmos und seiner geschichtlichen Entwickelung nicht studiert; denn man hatte alle diese Dinge eigentlich aus dem Auge verloren. Man hat sich seit Jahrhunderten keine Vorstellung mehr über diese Dinge gemacht oder hat nur gelacht über diese Dinge. Daher ist vor allen Dingen in den Vorstellungen und dann auch in der Wirklichkeit das Chaos gekommen.

Nun entstanden aus derjenigen Menschenklasse, welche sozusagen durch das moderne Leben, das sich nun nicht richtete nach den zurückgebliebenen Vorstellungen, sondern das weiterging, aus jener Klasse, welche geradezu durch das moderne Leben herausgebildet worden ist, da entstanden Forderungen. Das moderne Proletariat ist aus dem modernen Maschinenwesen, Industriewesen, aus der Mechanisierung der Welt heraus entstanden. Daraus entwickelten sich die Forderungen, weil dieses moderne Proletariat in Gegensatz trat zu denjenigen, die die Maschinen als Produktionsmittel besorgen konnten.

Sehen Sie, die Impulse zur Weltanschauung dieses Proletariats kamen aus dem Stoffwechselmenschen. Aber natürlich steht der Mensch mit den anderen Gliedern in Berührung. Dadurch bildeten sich von da ausgehend Ansichten über dasjenige, was auch aus den anderen Gliedern Impulse des dreigliedrigen Menschen ausstrahlte; es bildeten sich Ansichten, die eine Notwendigkeit waren auf der Grundlage der proletarischen Menschenkaste. Es bildeten sich Anschauungen mit Hilfe dessen, was das Bürgertum als Wissenschaft begründet hatte. Denn die Proletarier hatten ja nur die Wissenschaft von den vier oder, was weiß ich, sechs Fakultäten, zu denen sie jetzt angewachsen sind, die das Bürgertum geschaffen hat, geerbt. Mit der rein bürgerlichen Wissenschaft versuchten die Proletarier allmählich sich Vorstellungen zu machen in dem Zeitalter der Bewusstseinsseele über dasjenige, worinnen sie lebten als in der sozialen Struktur. Das konnte natürlich nicht genügen. Aus all den scharfsinnigen und sonstigen Grundlagen heraus, aber wiederum, weil er eben ein Kind seiner Zeit war und gar nichts ahnte von dem Vorhandensein einer Geisteswissenschaft, wie wir sie denken, schuf gerade als Ausdruck dessen, was die Instinkte des Proletariats elementar aus sich selbst heraus entwickeln, eben der gestern erwähnte Karl Marx den Proletariern eine Wissenschaft.

Dieser Karl Marx ist von den Proletariern eben anders behandelt worden, als die sogenannten Größen von der Bourgeoisie in den letzten Jahrhunderten behandelt worden sind. Er ist wirklich eingedrungen in das ganze Denken des Proletariats über die zivilisierte und industrialisierte Erde hin. Er beherrschte die Gedanken der Proletarier, und er hat diese Gedanken ausgebildet zu einer Lehre. Ja, zum ersten Mal eigentlich sind Gedanken Tatsachen geworden, denn die Gedanken der Bourgeoisie sind keine Tatsachen, sind aus Illusionen erwachsen, auch wenn man noch so sehr glaubt, dass sie auf wirklich positiver Wissenschaft fußen. Aber die Gedanken von Karl Marx sind im Proletariat Tatsachen geworden und leben als Tatsachen und wirken sich als Tatsachen aus, so wie sich Tatsachen auswirken, mit allem Widerspruch des Lebens, mit aller Kontradiktion, die im Leben auftritt, mit aller Disharmonie, mit allem Befruchtenden und Zerstörenden und Lähmenden, mit dem das Leben auftritt. In den Instinkten, im Unterbewusstsein der Menschen wirkt mehr, insbesondere in unserem Zeitalter, als in seinem Bewusstsein.

Ins Bewusstsein wurde der dreigliedrige Mensch nicht aufgenommen; aber aus Instinkten, und deshalb ungenügend und die Wirklichkeit zwar befruchtend, Gedanken in Taten umsetzend, aber sie ungenügend in Taten umsetzend, so hat Karl Marx seine Lehre von der ›politischen Ökonomie‹ begründet. Sie drang schon 1848 hervor in dem ›Kommunistischen Manifest‹, von dem ich gestern sprach, dann in seinem Buch von der ›Politischen Ökonomie‹, das 1859 erschien, in dem Jahr, das an allerlei Hervorbringungen so unendlich fruchtbar war, wenigstens am Ende der fünfziger Jahre noch. Es gehört zu dem Verschiedenen, was am Ende der fünfziger Jahre aufgetreten ist, auch dieses Buch über die ›Politische Ökonomie‹ von Karl Marx.«


24. November 1918, 185a

»Einen anderen Richtsatz finden Sie in der angefangenen Abhandlung über ›Theosophie und soziale Frage‹, die ich vor Jahren in ›Lucifer-Gnosis‹ veröffentlicht habe, einen Richtsatz, von dem ich mich überzeugt habe, dass er von den wenigsten Menschen mit dem vollen Gewicht genommen wird. Ich habe da auf etwas aufmerksam zu machen versucht, was als ein soziales Axiom wirken soll.

Darauf habe ich aufmerksam gemacht, dass schon einmal in jeglicher sozialer Struktur nichts Gedeihliches herauskommen kann, wenn das Verhältnis eintritt, dass der Mensch für seine unmittelbare Arbeit entlohnt wird. Soll eine gedeihliche soziale Struktur herauskommen, so darf das nicht sein – lesen Sie den Aufsatz, er wird ja doch noch zu haben sein –, so darf das nicht sein, dass der Mensch bezahlt wird für seine Arbeit.

Die Arbeit gehört der Menschheit, und die Existenzmittel müssen den Menschen auf anderem Wege geschaffen werden als durch Bezahlung seiner Arbeit. Ich möchte sagen, wie ich es schon in jener Abhandlung getan habe: Wenn gerade das Prinzip des Militarismus, aber ohne Staat, übertragen werden würde auf einen gewissen Teil – ich will gleich von diesem Teil sprechen – der sozialen Ordnung, dann würde ungeheuer viel gewonnen werden. Aber zugrunde liegen muss eben die Einsicht, dass gleich Unheil da ist auf sozialem Boden, wenn der Mensch so in der Sozietät drinnensteht, dass er für seine Arbeit, je nachdem er viel oder wenig tut, also nach seiner Arbeit eben, bezahlt wird. Der Mensch muss aus anderer sozialer Struktur heraus seine Existenz haben. Der Soldat bekommt seine Existenzmittel, dann muss er arbeiten; aber er wird nicht unmittelbar für seine Arbeit entlohnt, sondern dafür, dass er als Mensch an einer bestimmten Stelle steht. Darum handelt es sich.

Das ist es, was das notwendigste soziale Prinzip ist, dass das Erträgnis der Arbeit von der Beschaffung der Existenzmittel völlig getrennt wird, wenigstens auf einem gewissen Gebiete des sozialen Zusammenhangs. Solange nicht diese Dinge klar durchschaut werden, solange kommen wir zu nichts Sozialem, solange werden Dilettanten, die manchmal aber Professoren sind, wie Menger, von ›vollem Arbeitsertrag‹ und dergleichen sprechen, was alles Wischiwaschi ist. Denn gerade der Arbeitsertrag muss von der Beschaffung der Existenzmittel in einer gesunden sozialen Ordnung völlig getrennt werden. Der Beamte, wenn er nicht durch den Mangel an Ideen Bureaukrat würde, der Soldat, wenn er nicht durch den Mangel an Ideen Militarist würde, ist in gewisser Beziehung – in gewisser Beziehung, missverstehen Sie mich nicht – das Ideal des sozialen Zusammenhanges. Und kein Ideal des sozialen Zusammenhanges, sondern der Widerpart des sozialen Zusammenhanges ist es, wenn dieser soziale Zusammenhang so ist, dass der Mensch nicht arbeitet für die Gesellschaft, sondern für sich. Das ist die Übertragung des unegoistischen Prinzips auf die soziale Ordnung.

Wer nur in sentimentalem Sinne Egoismus und Altruismus versteht, der versteht eigentlich nichts von den Dingen. Derjenige aber, der praktisch, ohne Sentimentalität, mit reinem gesundem Menschenverstand durchschaut, dass jede Sozietät notwendigerweise zugrunde gehen muss, indem der Mensch nur für sich selber arbeitet also rein das, mit anderen Worten, was in der sozialen Ordnung egoistisch gestaltet ist –, der weiß das Richtige.

Das ist ein Gesetz, so sicher wirksam, wie die Gesetze der Natur wirken, und man muss dieses Gesetz einfach kennen. Man muss einfach die Möglichkeit besitzen, den gesunden Menschenverstand so zu handhaben, dass einem ein solches Gesetz als ein Axiom der sozialen Wissenschaft erscheint. Man ist heute noch weit entfernt davon, so etwas einzusehen. Aber die Gesundung der Verhältnisse hängt doch ganz und gar davon ab, dass geradeso, wie jemand den pythagoräischen Lehrsatz in der Mathematik als etwas Grundlegendes ansieht, er diesen Satz zugrunde legt der sozialen Struktur: Alles Arbeiten in der Gesellschaft muss so sein, dass der Arbeitsertrag der Sozietät zufällt und die Existenzmittel nicht als Arbeitsertrag, sondern durch die soziale Struktur geschaffen werden.

Solche sozialen Axiome gibt es natürlich eine ganze Anzahl, denn das soziale Leben ist natürlich kompliziert. Aber wir stehen heute einmal vor der Notwendigkeit, auf irgendeine Weise daran zu denken, wie die soziale Struktur der menschlichen Entwickelung in gesunde Bahnen gebracht werden soll. Da muss man vor allen Dingen einen gesunden Blick haben für die Partien, für die Teile, für die Glieder des sozialen Lebens. Man muss in gesunder Weise auseinanderhalten können die verschiedenen Glieder des sozialen Lebens. Sehen Sie, bei all den Dingen, um die es sich heute handelt, kommt es nicht so sehr darauf an, dass man auf die Schlagworte hört, die, sei es von bolschewistischer, sei es von der Entente-Seite her kommen, denn das sind ja heute fast Gegensätze, nicht wahr, sondern darauf kommt es an, dass man einsieht, was der Menschheit nottut, dass man ein gesundes Urteil für die Gliederung des sozialen Lebens sich aneignet. Natürlich, soziales Leben muss da sein. Und gerade, weil soziales Leben da sein muss, deshalb hängen die Menschen so sehr an der mongolischen nun, verzeihen Sie, es ist ja nur symptomatisch gemeint –, an der mongolischen Staatsidee, an der Allmacht des Staates, weil sich die Menschen vorstellen: Was der Staat nicht tut, das kann gar nicht zum Heile der Menschen geschehen.

Es ist übrigens diese Ansicht noch nicht so sehr alt. Denn es war das neunzehnte Jahrhundert schon ziemlich weit herangerückt, da hat ein einsichtiger Mann die schöne Abhandlung geschrieben: ›Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen.‹ Es war ein preußischer Minister, Wilhelm von Humboldt. Diese Abhandlung lag mir ganz besonders deshalb am Herzen, weil in den neunziger Jahren und noch etwas in das zwanzigste Jahrhundert herein gerade meine ›Philosophie der Freiheit‹ nicht durch meinen Willen, aber durch andere immer unter die Literatur ›individualistischer Anarchismus‹ gestellt wurde. Das erste Werk war immer Wilhelm von Humboldts ›Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen‹, als das letzte Werk war gewöhnlich immer meine ›Philosophie der Freiheit‹, zeitlich angeordnet, eingereiht worden. Nun, Sie sehen, es ist möglich gewesen, registriert zu werden unter ›individualistischer Anarchismus‹, aber immerhin zusammen mit einem preußischen Minister!

Soziale Gestaltung, soziale Struktur muss da sein, aber sie kann nicht uniformiert werden. Sie kann nicht so gemacht werden, dass alles gewissermaßen unter einen Hut gebracht wird. Was heute nottut, was das Wichtige ist, hätte in einer bestimmten Gestalt geschehen können vor langer Zeit schon, hätte auch wahrend dieser Kriegskatastrophe entstehen können, kann auch jetzt entstehen, aber immer modifiziert. Denn Sie müssen nicht vergessen, dass die Welt in den letzten Wochen für Mitteleuropa eine andere geworden ist, und dass das eine auf das andere wirkt. Nun, ich habe mich bemüht die ganzen Jahre her, da oder dort Verständnis zu erwecken für diejenige Form, die zum Beispiel von Mitteleuropa aus wirksam nach Osteuropa denn die Entente ist nicht belehrbar, selbstverständlich, und sollte auch nicht belehrt werden –, die für Mittel- und Osteuropa wirksam sein soll; ich habe mich bemüht, das geltend zu machen.

Da handelt es sich darum, dass man, wenn man so etwas geltend machen will, das Leben, das die Menschen zusammen führen müssen, in der richtigen Weise gliedern muss. Als diese Ideen, nun, sagen wir, Staatsmännern vorgelegt wurden ich kann Ihnen diese Ideen nur kurz skizzieren; dasjenige, um was es sich handelt, ist, dass sie immer mehr individualisiert werden müssen –, als diese Ideen einem Staatsmanne vorgelegt wurden vor einiger Zeit, wo es ohnedies schon ziemlich zu spät war für die damalige Gestalt, die ich diesen Ideen gegeben hatte, da habe ich aber immerhin dem Herrn gesagt: Wenn er irgendwie daran dächte, an diese Ideen heranzutreten, so würde ich natürlich gern bereit sein, auch für die Zeit, die damals die Gegenwart war, sie in entsprechender Weise umzuarbeiten. Heute müssten sie selbstverständlich wiederum für die besonderen Verhältnisse umgearbeitet werden. Da handelt es sich darum, dass man wirklich appellieren muss an den gesunden Menschenverstand, wenn man solche Ideen zunächst gibt. Dann handelt es sich darum, dass jemand einsehen kann, dass das soziale und sonstige menschliche Zusammenleben wirklich richtig gegliedert wird.

Die Frage entsteht als Hauptfrage: Wie muss man unterscheiden in dem, was Menschen als gemeinschaftliches Leben führen? Und da handelt es sich darum, dass man drei Glieder unterscheiden muss. Ohne diese Unterscheidung geht es nicht, und keine Vorwärtsentwickelung von der Gegenwart aus in die nächste Zukunft wird kommen, ohne dass diese dreigliedrige Unterscheidung gemacht wird.

Da handelt es sich darum, dass erstens einmal – es mag die soziale Gruppe, die da vorliegt, so oder so gestaltet sein, klein oder groß sein, darauf kommt es nicht an –, aber dass irgendeine soziale Gruppe so gestaltet sein muss, dass darinnen in bezug auf Sicherheit des Lebens und Sicherheit nach außen Ordnung herrscht. Der Sicherheitsdienst im weitesten Umfange gedacht ich muss solche umfassenden Worte gebrauchen –, das ist das eine Glied. Dieser Sicherheitsdienst ist aber auch das einzige Glied, welches in das Licht der Idee der Gleichheit gelenkt werden kann. Dieser Sicherheitsdienst, alles Polizeilich-Militärische, wenn ich jetzt im alten Sinne sprechen will, der ist auch das einzige, was im Sinne zum Beispiel eines demokratischen Parlamentes behandelt werden kann. Mitbestimmend an diesem Sicherheitsdienst kann jeder Mensch sein. Es muss also ein Parlament geben, wie die soziale Gruppe auch beschaffen ist, in dem Abgeordnete, meinetwillen nach ganz allgemeinem, geheimem, direktem Wahlrecht sein können, welche die Gesetze und alles das zu bilden haben, was für diesen Sicherheitsdienst bestimmt ist. Denn das, dieser Sicherheitsdienst, ist ein Glied der Ordnung, aber er muss abgesondert von dem übrigen behandelt werden und nur von höherem Gesichtspunkte aus dann wiederum harmonisiert werden mit anderem.

Ein zweites, das aber ganz abgesondert werden muss von all dem, was Sicherheitsdienst ist, Sicherheit im Innern und Sicherheit nach außen, was auch nicht nach der Idee der Gleichheit behandelt werden kann, das ist dasjenige, was die eigentliche wirtschaftliche Gestaltung der sozialen Gruppen ist. Diese wirtschaftliche Gestaltung, die darf nicht im unmittelbaren Zusammenhange stehen mit dem, was ich als erstes Glied genannt habe, sondern sie muss für sich behandelt sein. Sie muss ihr eigenes Ministerium, ihr eigenes Volkskommissariat heute sagt man Volkskommissariat haben, das vollständig unabhängig von dem Ministerium, vom Kommissariat des Sicherheitsdienstes sein muss. Sie muss ihr eigenes Ministerium haben, das vollständig unabhängig ist, das nach rein ökonomischen Gesichtspunkten gewählt wird, so dass Leute in diesem ökonomischen Ministerium sind, die etwas von den einzelnen Zweigen verstehen, sowohl als Produzenten wie als Konsumenten. Nach ganz anderen Gesichtspunkten muss sowohl parlamentarisch wie ministeriell dieses zweite Glied der sozialen Ordnung gelenkt werden.

Das erste Glied kann also, sagen wir, in die Demokratie eingestellt werden; wenn es nach dem Geschmack besser ist, könnte es auch in das Konservative eingestellt werden. Das kommt ganz darauf an; wenn es ordentlich gemacht wird, wird es schon etwas werden, und das andere ist Geschmacksache. Dasjenige, worauf es ankommt, ist diese Dreiheit. Denn auf dem Gebiete des wirtschaftlichen Lebens muss Brüderlichkeit herrschen. Geradeso wie alles auf dem Gebiete des Sicherheitsdienstes gerückt werden muss unter den Gesichtspunkt der Gleichheit, so muss auf dem Gebiete des wirtschaftlichen Lebens überall die Maxime der Brüderlichkeit herrschen.

Dann gibt es ein drittes Gebiet, das ist das Gebiet des geistigen Lebens. Zu dem rechne ich alles Religionstreiben, das gar nichts zu tun haben darf mit demjenigen, was Sicherheitsdienst ist und wirtschaftliches Leben; dazu rechne ich allen Unterricht, dazu rechne ich alle übrige freie Geistigkeit, allen wissenschaftlichen Betrieb, und dazu rechne ich auch alle Jurisprudenz. Ohne dass die Jurisprudenz dazu gerechnet wird, ist alles übrige falsch. Sie kommen sogleich zu einer widersinnigen Dreigliederung, wenn Sie nicht so gliedern:

Sicherheitsdienst nach dem Prinzip der Gleichheit,

wirtschaftliches Leben nach dem Prinzip der Brüderlichkeit, die Gebiete, die ich eben aufgezählt habe:

Jurisprudenz, Unterrichtswesen, freies geistiges Leben, religiöses Leben, unter dem Gesichtspunkte der Freiheit, der absoluten Freiheit.

Wiederum muss aus absoluter Freiheit die notwendige Verwaltung dieses dritten Gliedes der gesellschaftlichen Ordnung hervorgehen. Und der notwendige Ausgleich, der kann erst durch den freien Verkehr der diese drei Glieder Leitenden und Bestimmenden gesucht werden. Auf dem Gebiete des geistigen Lebens, zu dem eben die Jurisprudenz gehört, wird sich ja nicht so etwas herausstellen, wenn es wirklich einmal durchgeführt würde, wie ein Ministerium oder Parlament, sondern etwas viel freieres; es wird die Struktur ganz anders verlaufen.

Zu dem, was da angestrebt werden muss, müssen natürlich Übergangsformen sein. Aber das sollte den Menschen einleuchten. Und nicht früher kommen wir zu einer Gesundung, bevor es den Menschen einleuchtet, dass in dieser Weise diese Dreigliederung, von der ich gesprochen habe, zugrunde liegen muss, dass alles so gedacht werden muss, dass man nicht einen uniformierten Staat beibehalten kann. Denn die Staatsidee ist unmittelbar nur anzuwenden auf den ersten Teil, auf den Sicherheits- und Militärdienst. Was unter Staatsomnipotenz gestellt wird außer Sicherheits- und Militärdienst, das steht auf ungesunder Basis, denn das wirtschaftliche Leben muss auf rein, sei es korporativer, sei es auf assoziativer Basis aufgebaut werden, wenn es sich gesund entwickeln will. Und das geistige Leben einschließlich der Jurisprudenz ist nur dann auf gesunder Basis aufgebaut, wenn der einzelne vollständig frei ist.

Er muss frei sein in bezug auf alles andere. Er muss auch, meinetwillen von fünf zu fünf, von zehn zu zehn Jahren seinen Richter bestellen können, der sowohl sein Privat-, wie sein Strafrichter ist. Ohne das geht es nicht, ohne das kommen Sie zu keiner entsprechenden Struktur.

Diese nationalen Fragen hätten ohne territoriale Verschiebungen gelöst werden können! Das sagt Ihnen ein Mann, der studiert hat an den schwierigen österreichischen Verhältnissen, wo dreizehn verschiedene Amtssprachen oder wenigstens Gebrauchssprachen sind im amtlichen Verkehre, und der studieren konnte an diesen österreichischen Verhältnissen, was gerade auf dem Gebiete der Jurisprudenz nötig ist.

Nehmen Sie an, es stoßen an irgendeiner Grenze zwei Länder zusammen, meinetwillen seien sie getrennt durch Nationalität oder durch etwas anderes. Hier ist ein Gericht und hier ist ein Gericht, da ist die Grenze hinüber. Der Mann hier bestimmt sich: Ich werde in den nächsten zehn Jahren von diesem Gerichte abgeurteilt –, der andere bestimmt sich: Ich werde von diesem Gerichte abgeurteilt. Die Sache ist absolut durchführbar, wenn man sie im einzelnen durchführt. Aber alle anderen Dinge sind unwirksam, wenn nicht solche Dinge da sind. Denn alles muss in der Tat zusammenwirken. Es wirkt aber nur zusammen, wenn die Dinge so gestellt sind, dass sie mit wirklichem Verständnis desjenigen, was da ist, gemacht werden.«

Angeblich artikulierte Steiner am 3. Februar 1919 eine weitere Variante der Dreigliederung, in der er das Wirtschaftssystem, ein System, aus dem das Verständnis der Arbeit hervorgehe und das geistige Leben einander gegenübergestellt habe. Zander will in Steiners Ausführungen nicht nur einen Widerspruch zu früheren Darstellungen erkennen, sondern auch einen Antagonismus von Kapital und Arbeit, der durch eine geistige Theorie einen alternativen Überbau erhalte, worin er wohl eine neue Form der Dreigliederung sieht. Zwei Tage später habe Steiner aber wieder die »kanonische Dreiteilung« präsentiert. 

Auf S. 1299 schreibt Zander:

»Am 3. Februar 1919 artikulierte Steiner eine weitere Variante der Dreigliederung: das ›Wirtschaftssystem‹ sei ein Glied (GA 328,21), ›ein anderes Glied ist dasjenige, aus dem heraus entspringen muss das Verständnis für die Funktion der menschlichen Arbeitskraft‹ (ebd., 21), und als drittes könne man ein ›geistiges Leben‹, das mehr als ›bloße Ideologie‹ sei (womit Steiner den Materialismus des ›proletarischen Bewusstseins‹ meinte [ebd., 22]), erschließen. Da die Funktion der ›Arbeitskraft‹ als antagonistische Vorstellung zur Wirtschaft fungierte und er zwei Tage später das Wirtschaftsleben mit ›modernem Kapitalismus‹ identifizierte (ebd., 25), stand hinter dem Dualismus der ersten beiden Glieder der Gegensatz von Kapital und Arbeit, der, so kann man schließen, durch eine ›geistige‹ Theorie einen alternativen Überbau erhielt. Zwei Tage später präsentierte Steiner aber erneut die später kanonische Dreiteilung in Wirtschafts-, Rechts- und Geistesleben (ebd., 30 f.)275.

Anmerkung 275:

Dabei konzedierte er, dass einfache Analogisierungen nicht funktionierten, so dass er zum ›gerade umgekehrten‹ gegenüber der erwarteten Vorstellung greifen müsse und beispielsweise das Geistesleben gerade nicht mit dem Nerven-Sinnessystem korreliere. Steiner kam zu folgender Zuordnung: Recht – rhythmisches System; Wirtschaft – Nerven-Sinnessystem; Geistesleben – Stoffwechselsystem (GA 328,329).«

All die Widersprüche, die in diesem Absatz konstruiert werden, sind ein Produkt der Phantasie Zanders. Man kann die Mühlen des Unverstandes in Zanders Gehirn geradezu mahlen sehen.

• Eine »weitere Variante der Dreigliederung«:

Es handelt sich um keine weitere Variante, sondern um dieselbe Dreigliederung wie auch schon in früheren Darstellungen. Steiner spricht vom Wirtschaftssystem, einem zweiten Glied, aus dem das Verständnis der menschlichen Arbeitskraft hervorgehen müsse (gemeint ist natürlich das Rechtssystem) und vom dritten Glied, dem geistigen Leben.

Der Originaltext:

»Und so ist auch der soziale Organismus eine Dreigliedrigkeit. Was heute unter einer mächtigen Suggestion als einziger sozialer Organismus angesehen wird, das Wirtschaftssystem, das ist nur ein Glied. Ein anderes Glied ist dasjenige, aus dem heraus entspringen muss das Verständnis für die Funktion der menschlichen Arbeitskraft in der ganzen Struktur des sozialen Organismus. Die beiden Systeme müssen nebeneinanderstehen. Und der Charakter der Ware wird der Arbeitskraft nur im falschen neuzeitlichen Denken verliehen.

Und dieses engherzige neuzeitliche Denken, das hat auf der anderen Seite das dritte, das sich selbständig in den ganzen sozialen Organismus hineinstellen muss, das geistige Leben, zur bloßen Ideologie gemacht. Die theoretische Ansicht, dass das Geistige bloß Ideologie ist, sie ist das Ungefährlichste [möglicherweise: »Gefährlichste«?]. Das Wichtigste ist, das in einem Menschen, der die Anschauung hat, das Geistige wurzele nicht in einer allen Dingen zugrunde liegenden geistigen Wirklichkeit, sondern in einer bloßen Ideologie, nicht die geistige wirkliche Stoßkraft vorhanden sein kann. Ein solcher Mensch hat kein Interesse daran, dem geistigen Leben seine richtige Rolle in der Welt zuzuerteilen. (GA 328, Dornach 1977, S. 21-22)

• Arbeitskraft als »Antagonismus zur Wirtschaft« und »Identifikation des Wirtschaftslebens mit dem modernen Kapitalismus«:

Steiner konstruiert weder einen Antagonismus zwischen Arbeitskraft und Wirtschaft, noch identifiziert er letztere mit dem Kapitalismus. Vielmehr beschreibt er als Kern der sozialen Frage die Tatsache, dass die menschliche Arbeitskraft wie eine Ware in den Wirtschaftskreislauf eingegliedert werde und der Mensch seine Arbeit verkaufen müsse. Arbeit und Erzielung eines Einkommens müssen, so der bekannte Gedanke, voneinander getrennt werden. Die Eingliederung der Arbeit in das soziale Leben hat in einem anderen Gebiet, als dem der Wirtschaft zu erfolgen.

Das Wirtschaftsleben wird von Steiner nicht mit dem »Kapitalismus identifiziert«, sondern Steiner weist auf die zentrale Bedeutung des Kapitalismus für die Gestaltung des modernen Wirtschaftslebens hin.

Der Originalwortlaut:

»Im Altertum gab es Sklaven. Der ganze Mensch wurde wie eine Ware verkauft. Etwas weniger vom Menschen wurde verkauft, aber noch immer nahezu der ganze Mensch, in der Leibeigenschaft. Das Kapital ist die Macht geworden, die noch etwas vom Menschen als eine Ware in Anspruch nimmt, nämlich seine Arbeitskraft. Die Methoden müssen gesucht werden, durch die getrennt werden kann von der übrigen Warenzirkulation die Ware Arbeitskraft. Man wird erst durchschauen, was hinter dieser Tatsache steckt, wenn man nicht suggestiv auf das Wirtschaftsleben hinsieht, das nach ganz anderen Methoden begriffen werden muss als der Mensch selber, wenn man wissen wird, dass nicht aus diesem Wirtschaftsleben heraus, sondern aus einem ganz anderen Erleben im sozialen Organismus herausfließen muss die Art, wie die menschliche Arbeitskraft dem Charakter der Ware entzogen werden könne ...

Für unsere Zeit gilt dies, was ich als Wahrheit hier andeute und im Laufe der Vorträge erhärten will: dass das ganze moderne Leben, oder man kann eben auch sagen, der moderne soziale Organismus, eine ganz bestimmte Gestaltung erfahren hat durch das, was ja oftmals als das Charakteristische dieses modernen Lebens ausgesprochen wird, durch die moderne Technik, durch den technischen Betrieb des Wirtschaftslebens und was damit im Zusammenhange steht, durch die kapitalistische Art, diesen Wirtschaftsbetrieb zu organisieren. Auf dasjenige, was moderne Technik, was moderner Kapitalismus in das Leben hereingebracht haben, hat sich notwendig nicht nur der beobachtende Blick der Menschen gerichtet, sondern es haben sich darauf gerichtet auch die mehr oder weniger bewussten oder mehr oder weniger instinktiv wirkenden organisierenden Kräfte innerhalb der sozialen Struktur der menschlichen Gesellschaft.

Man kann nun das Charakteristische, das gerade zu der besonderen Gestalt der sozialen Frage in der neueren Zeit geführt hat, wohl so aussprechen, dass man sagt: Das Wirtschaftsleben, von der Technik getragen, der moderne Kapitalismus, sie haben mit einer gewissen naturhaften Selbstverständlichkeit gewirkt und die moderne Gesellschaft in eine gewisse innere Ordnung gebracht. Neben der Inanspruchnahme der menschlichen Aufmerksamkeit für das, was Technik und Kapitalismus gebracht haben, ist die Aufmerksamkeit abgelenkt worden von anderen Zweigen, anderen Gebieten des sozialen Organismus, die ebenso notwendig wirksam werden müssen, wenn der soziale Organismus gesund sein soll wie das wirtschaftliche Gebiet.« (GA 328, Dornach 1977, S. 20-22)

• Rückkehr zur »kanonischen Dreiteilung«: Steiner kehrt nicht wieder zur kanonischen Dreiteilung zurück, sondern hat die ganze Zeit von nichts anderem gesprochen. Die in Anmerkung 275 erwähnte Seite 329 existiert in GA 328 nicht.

»Die Betrachtung des sozialen Organismus – allerdings hat man es da mit einem Werdenden, mit einem eigentlich erst Entstehenden zu tun –, insoferne er gesund sein soll, führt ebenfalls zu drei Gliedern dieses sozialen Organismus; aber man erkennt beides selbständig für sich, wenn man objektiv die Dinge nehmen kann.

Man erkennt auf der einen Seite die drei Glieder des menschlichen Organismus, auf der anderen Seite objektiv für sich die drei Glieder des sozialen Organismus. Würde man Analogien suchen, dann würde man vielleicht in der folgenden Weise verfahren. Man würde sagen: Das menschliche Kopf- oder Nerven-Sinnessystem hängt zusammen mit dem menschlichen Geistesleben, mit den geistigen Fähigkeiten; das Zirkulationssystem regelt den Zusammenhang dieses geistigen Systems mit dem gröbsten System, mit dem materiellen System, mit dem Stoffwechselsystem. Das Stoffwechselsystem wird dann nach gewissen Empfindungen, die man nun schon einmal aus gewissen Untergründen heraus hat, als das gröbste System des menschlichen Organismus angesehen.

Was wäre nun, wenn man ein Analogiespiel treiben würde, das Nächstliegende? Das Nächstliegende wäre, dass man sagte: Nun ja, auch der soziale Organismus zerfällt in drei Glieder. In ihm wickelt sich ab das menschliche Geistesleben. Das wäre ein Glied. In ihm wickelt sich ab das eigentliche politische Leben – wir werden gleich nachher von dieser Gliederung sprechen –, in ihm wickelt sich aber auch ab das Wirtschaftsleben. Nun könnte man, wenn man Analogiespiel treiben wollte, glauben, dasjenige, was als geistiges Leben, als geistige Kultur im sozialen Organismus gewissen Gesetzen unterworfen ist, das hätte solche Gesetze, die sich vergleichen ließen mit den Gesetzen des geistigen Systems, des Nerven- und Sinnessystems. Dasjenige System, das im Menschen als das gröbste, als das eigentlich Stoffliche angesehen wird, eben das Stoffwechselsystem, das würde ein bloßes Analogiespiel wahrscheinlich vergleichen mit dem, was man nennt das grobe, materielle Wirtschaftsleben.

Derjenige, der die Dinge nun für sich betrachten kann, der weit von sich weist ein bloßes Analogiespiel, der weiß, dass das, was wirklich ist, gerade umgekehrt ist gegenüber dem, was durch ein bloßes Analogiespiel herauskommt. Für den sozialen Organismus liegen gegenüber der wirtschaftlichen Produktion und Konsumtion, gegenüber der wirtschaftlichen Warenzirkulation so die Gesetze dem Leben zugrunde, wie im menschlichen natürlichen Organismus Gesetze zugrunde liegen seinem Nerven- und Sinnesleben, gerade seinem Geistsystem. Allerdings, dasjenige, was das Leben des öffentlichen Rechtes ist, das eigentliche politische Leben, das Leben, welches man oftmals viel zu umfassend denkt, das man bezeichnen kann als das eigentliche Staatsleben, das lässt sich nun vergleichen mit dem zwischen den zwei natürlichen Systemen, dem Stoffwechselsystem und dem Nerven-Sinnessystem liegenden rhythmischen System, dem regulierenden System, dem Atmungs- und dem Herzsystem. Aber nur dadurch lässt es sich vergleichen, dass eben, wie im menschlichen Organismus zwischen dem Stoffwechsel- und dem Nervensystem in der Mitte das Zirkulations- oder rhythmische System liegt, so liegt das System des öffentlichen Rechtes zwischen dem Wirtschaftssystem und zwischen dem eigentlichen Leben der Geisteskultur. Und dieses Leben der Geisteskultur, dieses Leben des Geistes im sozialen Organismus, das hat nun nicht Gesetze, die sich analog denken lassen den Gesetzen der menschlichen Begabungen, den Gesetzen des menschlichen Sinnes- und Nervenlebens, sondern das, was geistiges Leben im sozialen Organismus ist, das hat Gesetze, die sich nur vergleichen lassen mit den Gesetzen des menschlichen gröbsten Systems, des Stoffwechselsystems.« (GA 328, Dornach 1977, S. 28-30)