Wie immer tendenziös ist auch Zanders Behandlung des Themas Rudolf Steiner als Pädagoge. Nachdem er in einer dürftigen kursorischen Übersicht Steiners Berührungen mit pädagogischen Fragen bis zum Ersten Weltkrieg – unter Auslassung einer Reihe von pädagogischen Tätigkeiten – aufgezählt hat, die ein Muster der Tiefstapelei darstellt, tituliert er ihn als »pädagogischen Laien«.

Auf S. 1357 schreibt Zander:

»Damit stieg der pädagogische Laie Steiner in Molts Projekt ein.«

Was genau Steiner für Zander zu einem »pädagogischen Laien« macht, bleibt sein Geheimnis. Vermutlich die Tatsache, dass Steiner kein Pädagogikstudium absolvierte. Was jedenfalls seine pädagogische Erfahrung anbetrifft – Zander selbst weist darauf hin, dass Steiner bereits mit 15 Jahren begann, Nachhilfeunterricht zu erteilen (Zander S. 1364) – lässt sich diese Taxierung kaum rechtfertigen.

Zanders historiographische Ausführungen über die Monate bis zur Gründung der ersten Waldorfschule bieten ein Konzentrat der Geschichtsklitterung.

Zwei Tage, nachdem Steiner von Emil Molt um die Leitung der geplanten Schule gebeten worden war, am 25. April 1919, habe Steiner die österreichische Staatsschule – genauer gesagt die österreichische Unterrealschule – als Modell empfohlen und sei erst in den folgenden Monaten unter dem Einfluss reformpädagogischer Ideen auf die später entwickelten waldorfpädagogischen Konzepte gekommen.

Auf S. 1370 schreibt Zander:

»Am 25. April 1919 ... verwies Steiner weder auf die theosophischen Überlegungen von 1907 noch auf ein Reformmodell, sondern – auf die Staatsschule. Er ›empfiehlt, eine Schule im Sinne der ehemaligen österreichischen Unterrealschule zu errichten, die bis zum vollendeten 16. Lebensjahr ... führt.‹ [Hier zitiert Zander aus einem Bericht E.A.K. Stockmeyers]«

Und auf S. 1372:

»Leider ist momentan unklar, wann genau Steiner das Realschulmodell zugunsten einer reformpädagogischen Einheitsschule zurückgedrängt hat. ... Steiners Changieren zwischen Staatsschule und Reformpädagogik, zwischen Fortbildungsanstalt und Einheitsschule beleuchtet nur die Rahmenbedingungen dieses Prozesses, der auch für die kommenden Monate noch nicht offenliegt.«

Interessant am Bericht E.A.K. Stockmeyers, den Zander als Beweis dafür anführt, Steiner hätte die Staatsschule empfohlen, ist die Formulierung: er »empfiehlt eine Schule im Sinne ...«. Steiner empfahl also nicht die österreichische Unterrealschule als Modell der zu gründenden Einrichtung, sondern eine Schule »im Sinne« dieser Unterrealschule. Entscheidend dürfte für Steiner nicht die Tatsache gewesen sein, dass es sich um eine staatlich betriebene Einrichtung handelte, sondern – wie Zander im übrigen selbst bemerkt – die allgemeinbildende, lebenspraktische Intention und Ausrichtung dieser Bildungsanstalt.

Zwar zitiert Zander im weiteren Verlauf Steiners Vortrag vom 11. Mai 1919 mit seiner Forderung nach einer »Einheitsschule«, geht aber nicht näher auf dessen Inhalt ein, bzw. bietet nur einen tendenziös ausgewählten Aspekt aus diesem Vortrag dar (S. 1371). Dadurch entgeht dem Leser eine wichtige Pointe dieses Vortrages, der sich wie eine Skizze der späteren Waldorfpädagogik liest und jenen von Zander vermissten Zusammenhang zu Steiners theosophisch-pädagogischer Anthropologie aus dem Jahr 1907 herstellt. Steiner spricht hier nicht nur über eine »Realschule oder Gewerbeschule für Arbeiter«, wie Zander behauptet (S. 1371), sondern über die Einrichtung einer Volks- und höheren Schule, über die Reformation der Hochschulen und vor allem auch der Lehrerbildung. All seine Ausführungen sind auf die anthropologischen, entwicklungspsychologischen Prinzipien bezogen, die er bereits 1907 in »Die Erziehung des Kindes ...« entwickelt hatte.

Steiner führt in diesem Vortrag unter anderem aus:

»Wir wollen auf Einzelheiten einmal, um einiges zur Deutlichkeit zu bringen, hinsehen. Wir wollen beginnen bei dem, was wir zunächst die Volksschule nennen. Ich rechne zur Volksschule gehörig alles, was dem Menschen beigebracht werden kann, wenn er entwachsen ist der bloßen Familienerziehung, und wenn zu dieser Familienerziehung die Schule als Erziehungs- und Unterrichtsanstalt dazutreten muss. Für denjenigen, der die menschliche Natur kennt, ist klar, dass für keinen werdenden Menschen diese Schulbildung in das menschliche Entwickelungssystem eher eingreifen sollte als ungefähr um die Zeit, wenn der Zahnwechsel vorüber ist. Das ist ein ebenso wissenschaftliches Gesetz wie andere wissenschaftliche Gesetze. Würde man, statt sich nach Schablonen zu richten, nach dem Wesen des Menschen sich richten, dann würde man als Vorschrift nehmen, dass mit dem Ablauf des Zahnwechsels der Schulunterricht der Kinder zu beginnen hat.

Nur handelt es sich dann darum, nach welchen Grundsätzen dieser Schulunterricht der Kinder zu leiten ist. Wir müssen dabei im Auge haben, dass, wer wirklich mit der aufsteigenden Kulturentwickelung zu denken und zu streben vermag, heute gar nichts anderes kann, als für die Grundsätze, welche Geltung haben müssen für Schulerziehung und Schulunterricht, anzuerkennen das, was in der menschlichen Natur selbst liegt. Erkenntnis der menschlichen Natur vom Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife, das muss zugrunde liegen allen Prinzipien der sogenannten Volksschulbildung. Aus diesem und vielem Ähnlichen werden Sie erkennen können, dass sich ja, wenn man von dieser Unterlage ausgeht, nichts anderes ergeben kann als eine Einheitsschule für alle Menschen; denn selbstverständlich: diese Gesetze, die sich abspielen in der menschlichen Entwickelung zwischen dem ungefähr siebenten und ungefähr vierzehnten bis fünfzehnten Jahr, diese Gesetze sind für alle Menschen die gleichen. Und nichts anderes dürfte in Frage kommen, als durch die Erziehung und den Unterricht zu beantworten die Frage: Wie weit muss ich einen Menschen als Menschen bringen bis in sein vierzehntes bis fünfzehntes Jahr hinein? Das allein heißt volkspädagogisch denken. Das allein aber heißt auch, in wirklich modernem Sinne über das Unterrichtswesen denken. Dann aber ergibt sich, dass man nimmermehr wird heute vorbeikommen an der Notwendigkeit, in gründlicher, radikaler Weise mit dem alten Schulwesen zu brechen, dass man ernsthaftig wird darauf losgehen müssen, dasjenige, was heranzubringen ist an die Kinder in den angedeuteten Jahren, einzurichten nach der Entwickelung des werdenden Menschen. Dazu wird eine gewisse Grundlage geschaffen werden müssen – etwas, das, wenn sozialer guter Wille vorhanden ist, nicht irgendeine nebulose Idee der Zukunft sein wird, sondern sogleich praktisch in Angriff genommen werden kann. Es wird vor allen Dingen die Grundlage dazu geschaffen werden müssen dadurch, dass das gesamte Prüfungs- und Schulwesen für Lehrer selbst absolut umgeändert wird. Wenn heute der Lehrer geprüft wird, so ist es oftmals nur so, dass man konstatiert, ob er dasjenige weiß, was er, wenn er ein bisschen geschickt ist, auch wenn er es nicht weiß, später im Konversationslexikon oder Handbuch nachlesen kann. Das kann man ganz auslassen bei der Lehrerprüfung. Damit aber wird wegfallen der größte Teil dessen, was heute der Inhalt der Lehrerprüfungen ist. Denn zu konstatieren wird sein bei dem, was an die Stelle der heutigen Examina zu treten hat, ob der Mensch, der es zu tun hat mit der Erziehung und dem Unterricht werdender Menschen, ob der eine persönlich aktive, für den werdenden Menschen ersprießliche Beziehung zu diesen werdenden Menschen herstellen kann, ob er mit seiner ganzen Mentalität – wenn ich das sehr in Mode gekommene Wort gebrauchen will – untertauchen kann in die Seelen und in die ganze Wesenheit des werdenden Menschen. Dann wird er nicht Leselehrer, Rechenlehrer, Zeichenlehrer und so weiter sein, sondern dann wird er der wirkliche Bildner der werdenden Menschen sein können.

Darauf wird zu sehen sein bei allen künftigen sogenannten Prüfungen, die anders sich ausnehmen werden, als die Prüfungen sich ausnehmen von heute: dass das Lehrpersonal wirklich Bildner des werdenden Menschen sein kann. Das heißt, der Lehrer wird wissen: Ich muss dieses oder jenes an den Menschen heranbringen, wenn er denken lernen soll; ich muss dieses oder jenes an den Menschen heranbringen, wenn er ausbilden soll die Gefühlswelt, die übrigens innig verwandt ist mit der Gedächtniswelt, was die wenigsten Menschen heute wissen, weil die meisten Gelehrten heute die schlechtesten Psychologen sind. Der Lehrer muss wissen, was er an den Menschen heranzubringen hat, wenn der Wille so ausgebildet werden soll, dass er aus den Keimen, die er aufnimmt zwischen dem siebenten und fünfzehnten Jahr, kraftvoll für das ganze Leben bleiben kann. Willensbildung wird erzielt, wenn alles dasjenige, was praktische Körper- und Kunstübungen sind, so getrieben wird, dass es angepasst ist der werdenden Wesenheit des Menschen. Der Mensch wird dasjenige sein, worauf hingerichtet werden muss die Sorgfalt desjenigen, der der Lehrer werdender Menschen ist.

Und so wird sich erweisen, wie man verwenden kann alles dasjenige, was konventionelle Menschenkultur ist: Sprachen, Lesen, Schreiben. Das kann man am besten verwenden in diesen Jahren, um gerade das Denken des werdenden Menschen auszubilden. Das Denken ist das Äußerlichste am Menschen, so sonderbar das heute klingt, und es muss gerade ausgebildet werden an dem, was uns in den sozialen Organismus hineinstellt. Denken Sie doch nur, dass der Mensch durch seine Geburt nicht Anlagen auf die Welt bringt zu dem, was Lesen und Schreiben ist, sondern dass das beruht auf dem Zusammenleben der Menschen. Und so wird verhältnismäßig früh eintreten müssen gerade für die Ausbildung des Denkens ein vernünftiger Sprachunterricht; natürlich nicht derjenigen Sprachen, die man in alter Zeit gesprochen hat, sondern derjenigen Sprachen, die die heutigen Kulturvölker sprechen, mit denen man zusammenlebt. Sprachunterricht in vernünftiger Weise, nicht in Anknüpfung an die grammatikalischen Tollheiten, die in den Mittelschulen heute getrieben werden, Sprachunterricht muss von der untersten Schulstufe an getrieben werden.

Dann wird es sich darum handeln, dass in bewusster Art solcher Unterricht getrieben wird, der auf das Fühlen und das damit verbundene Gedächtnis geht. Während alles dasjenige, was sich – und Kinder können in dieser Beziehung außerordentlich viel aufnehmen, wenn man es nur richtig macht –, was sich auf Arithmetik, Rechnen, Geometrie bezieht, mitten drinnen steht zwischen Denkerischem und Gefühlsmäßigem, wirkt auf das Gefühlsmäßige alles dasjenige, was durch das Gedächtnis aufzunehmen ist. Also alles dasjenige, was zum Beispiel als Geschichtsunterricht zu erteilen ist, was als Unterricht zu erteilen ist in der Mitteilung der Fabelwelt und so weiter. Ich kann die Dinge nur andeuten.

Dann aber handelt es sich darum, schon in diesen Jahren besondere Willenskultur zu treiben. Dazu ist in Anspruch zu nehmen alles, was Körper- und Kunstübungen sind. Darinnen wird man ganz Neues brauchen in diesen Jahren. Der Anfang ist dazu gemacht in dem, was wir die Eurythmie nennen. Sie sehen heute viel von Körperkultur in Dekadenz, im Niedergang: es gefällt vielen Leuten. Dahinein wollen wir stellen etwas – wofür wir bisher hier nur Gelegenheit gehabt haben, es den Arbeitern der Waldorf-Astoria zu zeigen durch das verständnisvolle Behandeln unserer Fragen von Seiten unseres lieben Herrn Molt –, dahinein wollen wir etwas stellen, was nun wirklich, wenn es dem werdenden Menschen statt des bisherigen bloß körperlichen Turnens beigebracht wird, beseelte Körperkultur ist. Diese allein kann aber einen solchen Willen erzeugen, der einem dann durch das Leben bleibt, während alle andere Willenskultur die Eigentümlichkeit hat, dass sie im Laufe des Lebens durch die verschiedenen Vorkommnisse und Erfahrungen des Lebens wiederum abgeschwächt wird. Insbesondere auf diesem Gebiet wird aber rationell vorzugehen sein. Da wird man Verbindungen im Unterrichtswesen schaffen, an die heute noch keiner denkt, zum Beispiel Zeichenunterricht mit Geographie. Es würde von ungeheurer Bedeutung für den werdenden Menschen sein, wenn er auf der einen Seite wirklich verständigen Zeichenunterricht bekäme, aber in diesem Zeichenunterricht dazu angeleitet würde, nun, sagen wir, den Globus von den verschiedensten Seiten her zu zeichnen, die Gebirgs- und Flussverhältnisse der Erde zu zeichnen, und dann wiederum selbst Astronomisches, das Planetensystem und so weiter zu zeichnen. Selbstverständlich wird man das in die richtigen Jahre hineinverlegen müssen, nicht beim siebenjährigen Kinde anfangen; aber vor dem Ablauf des vierzehnten bis fünfzehnten Jahres ist es nicht nur möglich, sondern es ist dasjenige, was ungeheuer wohltätig auf den werdenden Menschen wirkt, wenn es in der richtigen Weise gemacht wird, vielleicht vom zwölften Jahr an.

Für die Gemüts- und Gedächtnisbildung wird dann notwendig sein, eine lebendige Naturanschauung schon in dem jüngsten Menschen zu entwickeln. Diese lebendige Naturanschauung, Sie wissen, wie ich oftmals darüber gesprochen habe, und wie ich mancherlei Betrachtungen zusammengefasst habe in die Worte: Es gibt leider heute innerhalb der Stadtbevölkerung zahlreiche Menschen, die nicht unterscheiden können, wenn sie auf das Feld hinausgeführt werden, einen Weizen von einem Roggen. Es kommt nicht auf die Namen an, aber auf das lebendige Verhältnis zu den Dingen kommt es an. Es ist etwas Ungeheures für den, der die menschliche Natur überblicken kann, was da dem Menschen verlorengeht, wenn er nicht zur rechten Zeit – und die Entwickelung der menschlichen Fähigkeiten muss immer zur rechten Zeit geschehen –, wenn er nicht zur rechten Zeit solche Unterscheidungen lernt, wenn er nicht lernt – Sie wissen, es ist nur symptomatologisch gesprochen – zu unterscheiden Weizenkorn vom Roggenkorn. Es umfasst, was hier gemeint ist, natürlich sehr, sehr vieles.

Das, was ich jetzt auseinandergesetzt habe in didaktisch-pädagogischer Art für den Volks- Schulunterricht, das wird nach der Tatsachenlogik etwas ganz Bestimmtes im Gefolge haben, nämlich das, dass nichts in den Unterricht hineinspielen wird, was nicht in der einen oder anderen Form für das ganze Leben erhalten bleibt, während heute nur in der Regel dasjenige hineinspielt, was sich kondensiert in den Fähigkeiten. Das, was man im Lesenlernen treibt, kondensiert sich in der Fähigkeit des Lesenkönnens; was man im Rechnenlernen treibt, kondensiert sich in der Fähigkeit des Rechnenkönnens. Aber bedenken Sie, wie das ist mit Bezug auf Dinge, die mehr auf Gefühl und Gedächtnis gehen: da lernen die heutigen Kinder eigentlich unendlich viel, nur um es zu vergessen, nur um es dann im Leben nicht zu haben. Das wird dasjenige sein, was die Zukunftserziehung ganz besonders auszeichnen wird, dass all die Dinge, die an das Kind herangebracht werden, auch im Menschen für das ganze Leben bleiben werden.

Nun, wir kämen dann zu der Frage, was mit dem Menschen zu machen ist, wenn er nun die eigentliche Einheitsvolksschule überwunden hat und in das weitere Leben hinaufsteigt. Sehen Sie, da handelt es sich darum, dass all das Ungesunde des alten Geisteslebens überwunden werden muss, das gerade von der Bildungsseite her die furchtbare Kluft aufreißt zwischen den Menschenklassen.

Ja, sehen Sie, die Griechen, die Römer, sie haben sich eine Bildung aneignen können, die aus ihrem Leben heraus war, die sie daher auch mit ihrem Leben verband. In unserer Zeit ist nichts da, was uns Menschen mit unserem ganz andersartigen Leben in den wichtigsten Jahren verbindet; sondern viele Menschen, die dann in leitende, führende Lebenslagen hineinkommen, die lernen heute dasjenige, was die Griechen und Römer gelernt haben; sie werden dadurch aus dem Leben herausgerissen. Und noch dazu sind es die geistig unökonomischsten Dinge, die es nur geben kann. Und wir sind heute auf einem Punkt in der Menschheitsentwickelung angekommen – das wissen nur die Menschen nicht –, wo es absolut unnötig ist für unser Verhältnis zum Altertum, dass wir in diesem Altertum besonders erzogen werden; denn schon seit langem ist dasjenige, was die allgemeine Menschheit von dem Altertum braucht, in solcher Weise unserer Bildung einverleibt, dass wir es uns aneignen können, auch wenn wir nicht dressiert werden, durch viele Jahre in einer uns fremden Atmosphäre zu leben. Dasjenige, was man haben soll aus dem Griechen- und Römertum, es kann ja noch vervollkommnet werden, ist auch in der letzten Zeit vervollkommnet worden, aber das ist Gelehrtensache, das hat nichts mit der allgemeinen sozialen Bildung zu tun. Dasjenige aber, was für die allgemeine soziale Bildung aufzunehmen ist aus dem Altertum, das ist so sehr durch die Geistesarbeit der vergangenen Zeit zum Abschluss gekommen, ist so sehr da, dass, wenn man nur richtig nimmt, was da ist, man heute nicht braucht Griechisch und Lateinisch zu lernen, um sich in das Altertum zu vertiefen; man braucht es gar nicht, und für wichtige Dinge hilft es einem nichts. [...]

Das wird man lernen müssen, in dieser Zeit den Menschen teilnehmen zu lassen an dem Leben; und Sie werden sehen, wenn wir in dieser Zeit die Bildung so schaffen, dass der Mensch am Leben teilnehmen kann, und wir zugleich doch in der Lage sind, ökonomisch mit dem Unterricht zu verfahren, dann kann es so sein, dass wir wirklich den Menschen eine lebendige Bildung beibringen können. Und das wird es auch möglich machen, dass derjenige, der nach der Handarbeit hintendiert, auch teilnehmen kann an dieser Lebensbildung, die nach dem vierzehnten Lebensjahr einzusetzen hat. Die Möglichkeit muss geschaffen werden, dass diejenigen, die sich früh irgendeinem Handwerk oder einer Handarbeit zuwenden, auch teilnehmen können an dem, was zu einer Lebensauffassung führt. Vor dem einundzwanzigsten Jahr darf in der Zukunft nichts an den Menschen herangebracht werden, was nur Forscherergebnis ist, was nur von der Spezialisierung im Wissenschaftlichen herkommt. Für diese Zeit muss dasjenige in den Unterricht aufgenommen werden, was reif verarbeitet ist. Da kann man dann ungeheuer ökonomisch zu Werke gehen. Man muss nur einen Begriff haben in der Pädagogik, was pädagogisch-didaktische Ökonomie bedeutet. Da darf man vor allen Dingen nicht faul sein, wenn man pädagogisch-ökonomisch arbeiten will. Ich habe Sie öfter aufmerksam gemacht auf Erfahrungen, die ich persönlich gemacht habe. Mir wurde ein etwas schwachsinniger junger Mensch in seinem elften Lebensjahr übergeben. Es ist mir gelungen, durch pädagogische Ökonomie nach zwei Jahren ihn über dasjenige hinauszubringen, was er versäumt hat bis zu seinem elften Jahr, wo er überhaupt noch gar nichts konnte. Aber nur dadurch war ich dazumal dazu imstande, dass ich sein Leibliches und Seelisches so berücksichtigte, dass in der denkbar ökonomischsten Weise im Unterricht vorgegangen worden ist. Das wurde oftmals dadurch erreicht, dass ich selber drei Stunden zur Vorbereitung verwendet habe, um den Menschen so zu unterrichten, dass ich irgend etwas, was sonst stundenlang gedauert hätte, in ihn hereinzubringen, in einer halben oder einer Viertelstunde hereinbringen konnte, weil das für seinen leiblichen Zustand notwendig war. Sozial gedacht, kann man hinzufügen: Ich war genötigt dazumal, das alles an einen einzigen Knaben zu wenden, neben dem drei andere hergingen, die nicht in dieser Weise zu behandeln waren. Aber denken Sie, wenn wir eine vernünftige soziale Erziehungsweise hätten, so würde man ja eine ganze Reihe solcher Leute so behandeln können; denn ob man einen oder vierzig Knaben in dieser ökonomischen Weise behandeln muss, das macht nichts aus. Ich würde nicht jammern über die Anzahl der Schüler in der Schule; dieses Nichtjammern, das hängt aber zusammen mit dem Prinzip der Ökonomie im Unterricht. Nur muss man wissen: Bis in das vierzehnte Jahr hinein urteilt der Mensch nicht, und wenn man ihn zum Urteilen anhält, so zerstört man sein Gehirn. Die heutige Rechenmaschine, die das Urteil an Stelle des gedächtnismäßigen Rechnenlernens setzt, ist ein Unfug in der Pädagogik; sie zerstört, sie macht das menschliche Gehirn dekadent. Das Urteil der Menschen kann man erst pflegen vom vierzehnten Lebensjahre ab. Da müssen dann diejenigen Dinge im Unterricht auftreten, welche an das Urteil appellieren. Da können daher auftreten alle diejenigen Dinge, welche sich zum Beispiel beziehen auf die logische Erfassung der Wirklichkeit. Und Sie werden sehen, wenn in der Zukunft in den Bildungsanstalten zusammensitzt der Tischler- oder Maschinenlehrling mit demjenigen, der vielleicht selber Lehrer wird, dann wird sich auch da etwas ergeben, was zwar eine spezialisierte, aber doch noch immer eine Einheitsschule ist. Nur wird in dieser Einheitsschule alles das drinnen sein, was für das Leben drinnen sein muss, und wenn es nicht drinnen wäre, würden wir in das soziale Unheil noch stärker hineinkommen, als wir jetzt drinnen sind. Lebenskunde muss aller Unterricht geben. Zu lehren wird sein auf der Altersstufe vom fünfzehnten bis zwanzigsten Jahre, aber in vernünftiger, ökonomischer Weise, alles dasjenige, was sich auf die Behandlung des Ackerbaues, des Gewerbes, der Industrie, des Handels bezieht. Es wird kein Mensch durch dieses Lebensalter durchgehen dürfen, ohne dass er eine Ahnung bekommt von dem, was beim Ackerbau, im Handel, in der Industrie, im Gewerbe geschieht. Diese Dinge werden aufgebaut werden müssen als Disziplinen, die unendlich viel notwendiger sind als vieles Zeug, das jetzt den Unterricht dieser Lebensjahre ausfüllt.

Dann werden in diesem Lebensalter aufzutreten haben alle diejenigen Dinge, die ich jetzt nennen möchte Weltanschauungssache. Dazu wird gehören vor allen Dingen Geschichtliches und Geographisches, alles dasjenige, was sich auf Naturerkenntnis bezieht, aber immer mit Bezug auf den Menschen, so dass der Mensch den Menschen aus dem Weltall heraus kennenlernen wird.

Unter so unterrichteten Menschen werden dann solche sein, die, wenn sie durch die übrigen sozialen Verhältnisse dazu getrieben werden, Geistesarbeiter zu werden, in den spezial-geistesarbeiterischen Schulen ausgebildet werden können in allen möglichen Gebieten. [...] Vor allen Dingen aber muss, wenn von dieser Bildungsstufe die Rede ist, gesagt werden, dass ein gewisser Grundstock der Bildung für die Menschen aller Klassen derselbe sein muss. Ob ich nun Mediziner, ob ich Jurist, ob ich Lehrer eines Gymnasiums oder einer Realschule – diese Anstalten wird es natürlich nicht mehr geben in der Zukunft – werden soll, das gehört auf die eine Seite; daneben muss jeder dasjenige aufnehmen, was allgemeine Menschenbildung ist. Diese muss man Gelegenheit haben, aufzunehmen, ob man nun Mediziner oder Maschinenbauer, oder Architekt, oder Chemiker, oder Ingenieur wird, man muss Gelegenheit haben, dieselbe allgemeine Bildung aufzunehmen, ob man geistiger oder Handarbeiter wird. Das ist wenig berücksichtigt worden bis heute.« (GA 192, Dornach 1964, Vortrag vom 11. Mai 1919 in Stuttgart, S. 90-100)

Laut Zander hat Steiner den Landerziehungsheimen »Eskapismus« vorgeworfen.

Auf S. 1389 schreibt Zander:

»An anderer Stelle hat Steiner ... ihnen [den Landerziehungsheimen] Eskapismus, Flucht aus dem Leben in die Provinz, vorgeworfen (vgl. GA 302a, 86).«

Im von Zander zitierten Vortrag heißt es:

»Es ist zum Beispiel durchaus nicht notwendig, dass man gleich als nichtstädtische Anstalten Landerziehungsheime betrachtet – es soll ja nichts gesagt sein gegen Landerziehungsheime –, aber so etwas kann nur zum Schein auf dem Lande sein. Wenn die Lehrer und Schüler alle die konträren Empfindungen auf das Land heraustragen, die eigentlich von städtischen Anschauungen durchdrungen sind – sie mögen das lange Landerziehungsheim nennen, man hat es mit einer Blüte der Stadt zu tun.« (GA 302a, Dornach 1993, S. 86).

Steiner hat den Landerziehungsheimen nicht »Eskapismus« vorgeworfen, sondern darauf hingewiesen, dass diese ebenso als städtisch zu betrachten seien, wenn sie von Menschen bevölkert würden, die durch städtische Anschauungen geprägt wären. Die betreffenden Menschen würden der Stadt durch den Umzug aufs Land nicht entkommen, sondern die Stadt aufs Land mitnehmen – also das Gegenteil von Eskapismus: Enkapismus.

Die angebliche Abhängigkeit der Waldorfpädagogik von Johann Friedrich Herbart begründet Zander im wesentlichen durch zwei Argumente: durch die Aufzählung einer Reihe von Buchtiteln, die Steiner gelesen hat bzw. gelesen haben könnte und durch die Behauptung, auch wenn sich ein konkreter Einfluss nicht nachweisen lasse, könne Steiner aus einem frei flottierenden Herbartianismus geschöpft haben, der als »fluidales Element« im pädagogischen Denken zu Beginn des 20. Jahrhunderts allgegenwärtig gewesen sei. Darüber hinaus meint er, durch einige Bemerkungen Steiners, in denen sich dieser positiv zu Herbart geäußert habe, dessen Abhängigkeit belegen zu können. 

1.

Auf S. 1392 schreibt Zander:

»Allerdings ist mit den augenblicklich nachweisbaren Herbart-Lektüren Steiners die Frage nach der Bedeutung Herbarts für die Waldorfpädagogik noch nicht geklärt ... Andererseits ist dies kein Grund, die Präsenz Herbartschen Denkens auszuschließen, denn es war am Beginn des 20. Jahrhunderts auch ein frei flottierendes Gedankengut, ein fluidales Element im pädagogischen Denken.«

2.

Auf S. 1392 schreibt Zander:

»Die ›Herbartsche Psychologie‹ hielt er für ›scharfsinnig‹, mit ›außerordentlich viel Schönem‹. Wenn er sich an dieser Stelle zugleich von den ›Herbartianern‹ abgrenzte, kann dies kaum radikal gemeint sein, denn den Philosophen Robert Zimmermann lobte er als ›ganz hervorreganden Herbartianer‹.

Zu 1:

Aus einer Aufzählung von Buchtiteln, die Steiner gelesen hat, lässt sich natürlich keine Abhängigkeit konstruieren, sonst müsste man auch eine Abhängigkeit Steiners von Materialisten wie Cabanis oder Albert Lange annehmen oder von jedem Autor, den er nachweislich gelesen hat, zum Beispiel auch Kant, was die Absurdität dieses Verfahrens augenblicklich deutlich macht. Da Zander eine direkte Abhängigkeit nicht nachweisen kann, greift er zu für seine Verhältnisse geradezu mystischen Formulierungen und spricht von einem »fluidalen Herbart«, der allgegenwärtig gewesen sei. Da lässt sich natürlich auch ein Einfluss auf Steiner nicht mehr ausschließen. Hinreichend begründet ist diese Behauptung dadurch aber nicht.

Was die scheinbar positiven Äußerungen Steiners über Herbart anbetrifft, so erweisen sie sich bei näherer Betrachtung als rhetorische Figuren, die als Kontrastfolie dienen, damit seine Kritik am Herbartschen »Intellektualismus« um so eindringlicher wirkt.

Im von Zander herangezogenen Vortrag mit dem Titel »Geisteswissenschaft und moderne Pädagogik« lobt Steiner einleitend die Erziehungswissenschaft des 19. Jahrhunderts, die es zu einer gewissen »Vollkommenheit in ihren Grundsätzen« gebracht habe. Zu dieser Erziehungswissenschaft gehören laut Steiner auch Herbart und die Herbartianer:

»Nun bitte ich Sie, aus der Formulierung meines Themas durchaus nicht etwa den Schluss ziehen zu wollen, dass ich, wie irgendein unvernünftiger Radikaler es vielleicht tun würde, durch diese Themaformulierung etwa habe andeuten wollen, daß die  Erziehungswissenschaft, so wie sie sich namentlich im Laufe des 19. Jahrhunderts und bis in unsere Tage herausgebildet hat, nichts tauge, und dass sie auf Geisteswissenschaft gewartet habe, um gewissermaßen erst geschaffen zu werden. Dieser Glaube lag ganz gewiss der Formulierung des Themas nicht zugrunde. Im Gegenteil, es ist eigentlich eine ganz andere Empfindung als Ausgangspunkt da für dasjenige, auf das ich in diesen Vorträgen aufmerksam machen möchte. Ich glaube durchaus, dass die Erziehungswissenschaft, welche  gerade im Laufe des 19. Jahrhunderts so hervorragende Persönlichkeiten zu ihren Vertretern gehabt hat, deren Wirksamkeit ja hereinragt in die pädagogische Betätigung der Gegenwart, dass diese Erziehungswissenschaft gerade eine gewisse Vollkommenheit erlangen kann. Ich glaube, dass derjenige, der heute aus diesem oder jenem Grunde genötigt ist, sich in den verschiedensten Wissenschaften umzusehen und kennenzulernen, wie man diese Wissenschaften theoretisch und praktisch vertritt, wie sie hineingehen in das Leben, und der dann auch sich mit der Erziehungswissenschaft beschäftigt, dass der eigentlich mit dieser Erziehungswissenschaft im Vergleich mit den andern Wissenschaften – so sonderbar das klingen mag, ich möchte es als meine eigene Erfahrung aussprechen – das Urteil verbinden muss: sie enthält eigentlich, so wie sie heute gestaltet ist, die allersorgfältigsten Grundsätze, manche unanfechtbaren Formulierungen desjenigen, was eigentlich der Erziehungstätigkeit als Prinzip zugrunde liegen müsste, so dass man, wenn man auf das Wollen und auf das urteilsmäßige Durchdringen der Erziehungsnotwendigkeiten hinsieht, von dieser pädagogischen Wissenschaft eigentlich nur den allerbesten Eindruck erhält. Gerade davon möchte ich ausgehen, dass ich durchaus nicht unterschätze, um nur einen zu nennen, die Wirksamkeit eines solchen Geistes, wie es zum Beispiel Herbart ist.«

Nun folgt jedoch das große »Aber«. Denn trotz all dieser großartigen Grundsätze und der theoretischen Vollkommenheit konnte die Erziehungswissenschaft und die aus ihr hervorgegangene Pädagogik die Katastrophe des Ersten Weltkriegs und das mit ihm verbundene soziale Chaos nicht verhindern. Die Grundsätze und Ideale mögen zwar hehr und nahezu vollkommen sein, sie sind aber sozial wirkungslos oder haben sogar das Gegenteil dessen bewirkt, was sie beabsichtigten, ja, sie sind möglicherweise sogar die Ursache der europäischen Katastrophe:

»Wir sind in den letzten fünf bis sechs Jahren, wenn das auch in der Schweiz weniger bemerkbar geworden ist als in den anderen Gebieten Europas, wir sind durch eine schwere Zeit durchgegangen, jedenfalls das wird auch jeder Schweizer ohne weiteres zugeben müssen – durch eine solche Zeit, von der sich die Menschen vor zehn Jahren keine Vorstellung gemacht haben. Man frage sich nur einmal, ob sich die Menschen vor zehn Jahren hätten träumen lassen, dass über Europa das kommen werde, was nun gekommen ist. Wir dürfen nicht vergessen, was heute, ich möchte sagen, wie ein Niederschlag der furchtbaren Kriegsnot sich ergeben hat: ein Chaos in den sozialen Verhältnissen über einem großen Teil von Europa. Und derjenige täuscht sich, der glaubt, dass dieses Chaos etwa bereits an  einem  Wendepunkt wäre und dass es nächstens besser wird. Wir stehen in bezug auf diese chaotischen Verhältnisse im Grunde genommen erst im Anfang. Und da muss man sich dann doch fragen: Liegt es denn wirklich nur an den äußeren Verhältnissen, dass wir in dieses Chaos sozialer europäischer öffentlicher Angelegenheiten hineingekommen sind? Muss man denn nicht bei unbefangener Betrachtung sich sagen: Es kann nicht an den Verhältnissen liegen, denn die Verhältnisse werden durch die Menschen gemacht; es muss an den Menschen liegen.

Sieht man genauer zu, so findet man auch sehr bald heraus, wie es an den Menschen liegt; wie es daran liegt, dass heute, in der Zeit, in der man am meisten schreit nach sozialer Gliederung unserer gesellschaftlichen Verhältnisse, so wenig eigentlich wirklich soziale, sondern zumeist antisoziale Empfindungen vorhanden sind. Und wirklich, kann man denn umhin, sich zu gestehen, dass dies alles herangezogen worden ist trotz aller Vorzüglichkeit der pädagogischen Grundsätze,  trotz alles dessen, was in anerkennenswerter Weise geleistet worden ist und was vom besten Willen beseelt ist? Wir müssen sagen: Trotz allem haben wir nicht vermocht, die Menschheit der neueren Zeit dahin zu bringen, dass der eine dem andern wirklich verständnisvoll gegenüberstehen kann. Wir haben eine Zeit heraufziehen sehen, in der wahrhaftig die Menschen nicht gegeizt haben mit dem Lob, dass wir es so herrlich weit gebracht haben. Aber wir haben auch das Sich-selbst-ad- absurdum-Führen dieser Zeit gründlich kennengelernt. Da müsste es denn wenigstens in die Herzen einziehen wie eine Sehnsucht, zu prüfen, ob denn nicht doch gerade durch diese pädagogische Kunst dieses Geschlecht, das heute sich so in den Haaren liegt in Europa, herangezogen worden ist? Dies müsste doch sehr einer näheren Fragestellung unterworfen werden. Und sieht man etwas genauer zu, so findet man da: Es ist gar nicht anders möglich, als mit wirklicher Verehrung zu hängen an den großen Gestalten der Pädagogik des 19. Jahrhunderts, an Herbart, Ziller, Diesterweg, Pestalozzi und so weiter – Ihnen brauche ich ja die einzelnen Namen nicht zu nennen –, aber auf der anderen Seite muss man auch sagen: Ja, wir haben eine mustergültige Erziehungswissenschaft, aber es handelt sich beim Erziehen gerade mehr als sonstwo um noch etwas anderes als um eine vorzügliche Wissenschaft, es handelt sich gerade beim Erziehen darum, dass diese Wissenschaft übergehen kann in eine wirkliche Kunst; dass Pädagogik Kunst werden kann.« (GA 301, Dornach 1991, S. 9 ff.)

Zu 2:

Auch hier münzt Zander wieder eine radikale Kritik Steiners am Herbartianismus und seinem Intellektualismus bzw. Materialismus, der an die Wirklichkeit des Seelischen nicht herandringt, in eine positive Würdigung um, Steiners Kritik wird heruntergespielt. Steiner führt im von Zander zitierten Vortrag aus:

»Solches Übergreifen von Zusammenhängen im menschlichen Lebenslauf ist von fundamentaler Bedeutung, und das ist etwas, was der Psychologie entgangen ist. Denn das, was wir heute Psychologie nennen, gibt es auch erst seit dem 18. Jahrhundert. Vorher hatte man ganz andere Begriffskonfigurationen über den Menschen und die Menschenseelen. Aber das entwickelte sich durchaus in dem Zeitalter, in dem schon der materialistische Geist und das materialistische Denken kamen, und daher konnte sich Psychologie trotz aller bedeutsamen Anfänge nicht so entwickeln, dass eine richtige Seelenwissenschaft entstanden wäre, die der Wirklichkeit gemäß mit dem ganzen Menschenleben rechnete. Ich muss gestehen, ich habe mir sehr, sehr viel Mühe gegeben, auch das Allerbeste, was nur zu finden ist, in der Herbartschen Psychologie zu entdecken. Die Herbartsche Psychologie ist scharfsinnig. Die Herbartsche Psychologie bemüht sich tatsächlich, aus elementaren Bestandteilen des Seelenlebens heraus auf eine gewisse Gestaltung der Seele hinzuarbeiten. Es ist außerordentlich viel Schönes in der Herbartschen Psychologie; allein man muss doch hinschauen darauf, was diese Herbartsche Psychologie bei guten Herbartianern für eigentümliche Ansichten hervorgerufen hat.

Ich kannte einen ganz hervorragenden Herbartianer sehr nahe, den Ästheten Robert Zimmermann, der auch eine ›Philosophische Propädeutik‹ mit einer Psychologie für Gymnasiasten geschrieben hat und Herbart für das 19. Jahrhundert einen Kantianer von 1828 genannt hat. Der setzte in seiner psychologischen Schilderung als Herbart-Schüler tatsächlich das Folgende auseinander: Wenn ich Hunger habe, so strebe ich nicht danach, das Nahrungsmittel zu erhalten, welches den Hunger befriedigt, sondern eigentlich nur danach, dass die Vorstellung des Hungers aufhört und von der Vorstellung der Sättigung abgelöst wird. Ich habe es nur zu tun mit einer Bewegung von Vorstellungen. Es ist eine Vorstellung da, welche gegen Hemmungen aufkommen muss, die sich gegen Hemmungen heraufarbeiten muss. Und das Essen sei eigentlich nur ein Mittel, um übergehen zu können von der Vorstellung des Hungers zu der Vorstellung der Sättigung.

Wer nun die Wirklichkeit der menschlichen Natur nicht etwa im materialistischen Sinne, sondern gerade im spirituell-geistigen Sinne ins Auge fassen kann, der wird sehen, dass in dieser Art der Anschauung eben etwas einseitig Rationalistisches und Intellektualistisches steckt und dass es notwendig ist, dass wir über dieses einseitig Intellektuelle hinauskommen und den ganzen Menschen gerade psychologisch erfassen.« (GA 301, Dornach 1991, S. 209 f)

Zander zweifelt daran, dass Goethe für die Waldorfpädagogik eine tiefergehende Bedeutung zukomme. Zwar werde Goethe von Steiner als »Prinzipiengeber der Waldorfpädagogik« beansprucht, letztlich sei dies jedoch nur ein ideologischer »Überbau«. Themen, mit denen sich Steiner in seinen Goetheeditionen beschäftigt habe, seien weit weg von der konkreten Pädagogik.

Auf S. 1393-1395 schreibt Zander:

»Zum andern wird Goethe als Prinzipiengeber der Waldorfpädagogik beansprucht ... Aber dies ist ein Überbau, dessen pädagogische Umsetzung bei Steiner und seinen Nachfolgern noch unzureichend analysiert ist ... Hingegen waren Themen, mit denen Steiner sich in seinen Goetheeditionen intensiver beschäftigt hatte, insbesondere die Ideenlehre und die Erkenntnistheorie, weit weg von der konkreten Pädagogik.«

Welche Bedeutung man Goethe für die Waldorfpädagogik zumisst, hängt davon ab, welche Bedeutung man ihm für die Anthroposophie zumisst. Da Zander bereits bei letzterer Frage einen tiefgehenderen Zusammenhang verneint, ist es nicht verwunderlich, wenn er ihn auch bei ersterer nicht findet. Dass Steiners Bezug der Waldorfpädagogik auf Goethe mehr ist als ein ideologischer Überbau, dass Steiners »Goetheanismus« vielmehr die zentralen Prinzipien der Waldorfpädagogik lieferte, ließe sich im einzelnen nachweisen. Dieser Nachweis kann hier nicht geführt werden. Ein Beispiel möge für viele andere stehen.

Grundlegend für den Waldorfpädagogen ist die Haltung, mit der er den ihm anvertrauten Kindern gegenübertritt. In jedem einzelnen Kind sollte er eine geistige Individualität sehen, die sich in bestimmten physischen Verhältnissen inkarniert hat und eine Fülle göttlicher Weisheit in sich trägt, die die seinige bei weitem überragt. Daraus leitet sich das Gefühl der Ehrfurcht gegenüber dem Kind ab.

Dass der Mensch ein geistiges Wesen ist, das eine Fülle göttlicher Weisheit in sich trägt, die er nicht aus der Sinneserfahrung schöpft, sondern dieser vielmehr entgegenbringt, ist ein prinzipiell zentraler Gedanke des Ideenrealismus, den Steiner in seinen »Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung ...« entwickelt. Dort formuliert er auf philosophische Weise, was er in seinen Vorträgen zur Waldorfpädagogik immer wieder anthroposophisch zum Ausdruck bringt. Die beiden folgenden Zitate machen dies deutlich.

In seinen »Grundlinien ...« schreibt Steiner:

»Man übersieht vollständig, dass die bloße Anschauung das Leerste ist, was sich nur denken lässt, und dass sie allen Inhalt erst aus dem Denken erhält. Das einzige Wahre an der Sache ist, dass sie den immer flüssigen Gedanken in einer bestimmten Form festhält, ohne dass wir nötig haben, zu diesem Festhalten tätig mitzuwirken. Wenn der eine, der ein reiches Seelenleben hat, tausend Dinge sieht, die für den geistig Armen eine Null sind, so beweist das sonnenklar, dass der Inhalt der Wirklichkeit nur das Spiegelbild des Inhaltes unseres Geistes ist und dass wir von außen nur die leere Form empfangen. Freilich müssen wir die Kraft in uns haben, uns als die Erzeuger dieses Inhaltes zu erkennen, sonst sehen wir ewig nur das Spiegelbild, nie unseren Geist, der sich spiegelt. Auch der sich in einem faktischen Spiegel sieht, muss sich ja selbst als Persönlichkeit erkennen, um sich im Bilde wieder zu erkennen.

Alle Sinnenwahrnehmung löst sich, was das Wesen betrifft, zuletzt in ideellen Inhalt auf.« (GA 2, Dornach 1979, S. 66-67)

Übersetzt in eine anthroposophische Terminologie und übertragen in den pädagogischen Kontext klingt dieser Gedanke der Präexistenz des Ideengehaltes der Welt im Geist des Menschen wie folgt:

»Heute möchte ich zunächst auf einige Empfindungen hinweisen, die der Lehrer, der Erzieher eigentlich immer haben sollte, und die er sich auch immer wieder, ich möchte sagen, meditierend ins Bewusstsein hereinrufen soll.

Die Grundempfindung muss eigentlich die sein, die ich in den verschiedensten Formen zum Ausdrucke gebracht habe: die Ehrfurcht vor der kindlichen Individualität. Wir müssen uns ja durchaus bewusst sein, dass eine geistig-seelische Individualität in jedem Kinde verkörpert ist, und dass wir in dem, was wir als das körperhafte Kind vor uns haben, eigentlich zunächst nicht einen wahren Ausdruck der kindlichen Individualität haben.

Die Gesetzmäßigkeit, die Gliederung des menschlichen Organismus ist ja, wie Sie offenbar aus vielem ersehen haben werden, das vor unsere Seele getreten ist seit der Abhaltung des ersten Lehrerkurses, eine außerordentlich komplizierte. Und durch die verschiedensten Ursachen ist dasjenige, was die wahre Individualität eines Kindes ist, durch Hemmnisse im physischen und auch im ätherischen Organismus gehindert, sich vollkommen auszuleben, so dass wir eigentlich in dem Kinde immer vor uns haben die zunächst mehr oder weniger unbekannte wirkliche Individualität und dasjenige, was eigentlich maskiert ist durch das Leibliche des Kindes.

Es ist dieselbe Wahrheit auch möglich in jener anderen Form auszudrücken, die ich versuchte auch in den öffentlichen Vorträgen in Wien zu sagen: Wir müssen uns bewusst sein, dass in irgendeiner Individualität eines Kindes, wenn wir es radikal charakterisieren, ein Genie stecken könnte, und es könnte ja auch sein, dass wir selbst als Lehrer und Erzieher kein Genie wären. Wenn dieses Verhältnis stattfindet, dass das Kind ein Genie ist und der Lehrer kein Genie ist, so ist das ein vollständig berechtigtes Verhältnis, denn es können nicht alle Lehrer Genies sein, und die Pädagogik hat es mit den allgemeinen Gesetzen zu tun.

Aber es würde selbstverständlich ganz falsch sein, wenn dann der Lehrer seine eigene Individualität oder sogar seine eigenen Sympathien und Antipathien dem Kinde einimpfen wollte, wenn er dem Kinde dasjenige als das Richtige, als das Wünschenswerte und so weiter beibringen wollte, was er selbst für das Richtige und für das Wünschenswerte hält. Er würde dann das Kind selbstverständlich auf seinem Niveau zurückhalten, und das dürfen wir unter keinen Umständen.

Wir können uns da außerordentlich zu Hilfe kommen, wenn wir, ich möchte sagen, wiederum meditierend uns recht tief zum Bewusstsein bringen, dass alle Erziehung mit der wirklichen Individualität des Menschen im Grunde genommen gar nichts zu tun hat, dass wir eigentlich als Erzieher und Unterrichter im wesentlichen die Aufgabe haben, mit Ehrfurcht vor der Individualität zu stehen, ihr die Möglichkeiten zu bieten, dass sie ihren eigenen Entwickelungsgesetzen folge und wir nur die im Physisch-Leiblichen und im Leiblich-Seelischen, also im physischen Leibe und im Ätherleibe liegenden Entwickelungshemmungen wegräumen. Wir sind nur dazu berufen, diese im Physisch-Leiblichen und im Leiblich-Seelischen liegenden Hemmungen wegzuräumen und die Individualität frei sich entwickeln zu lassen; so dass wir dasjenige, was wir dem Kinde an Erkenntnissen beibringen, im Grunde nur dazu benützen sollten, um das Leibliche, sowohl das Physisch-Leibliche wie auch das Ätherisch-Leibliche, so weit vorwärts zu bringen, dass der Mensch sich eben frei entwickeln kann.« (GA 302a, Vortrag vom 22. Juni 1922, Dornach 1993, S. 87-88)