Laut Zander stellte Steiner sich »in die Tradition der okkultistischen Bewegung«.

Auf S. 45 schreibt Zander:

»... Steiner stellte sich in die Tradition der ›okkultistischen Bewegung‹«. 84

Anmerkung 84:

»GA 254,49; vgl. auch ebd., 48.«

Zwar ist es richtig, dass Steiner berichtet, er habe im Gespräch mit Marie von Sivers (Frau Dr. Steiner) gesagt: »Gewiß, notwendig ist es, eine geisteswissenschaftliche Bewegung ins Leben zu rufen; ich werde mich aber nur finden lassen für eine solche Bewegung, die an den abendländischen Okkultismus und ausschließlich an diesen anknüpft und diesen fortentwickelt.«

Gleichzeitig definierte er aber den Begriff des Okkultismus um, und distanzierte sich von allem »ungesunden Treiben«. Da er mit seiner »geisteswissenschaftlichen Bewegung« an »Plato und Goethe« anzuknüpfen gedachte (inwiefern gehören diese beiden in die »Tradition der okkultistischen Bewegung«?) und eine »völlige Abkehr von allem Mediumismus und Atavismus« in Aussicht stellte, könnte man genau so gut behaupten, er habe sich nicht in die Tradition der okkultistischen Bewegung gestellt. Mit »irgendwelchem antiquierten Okkultismus«, »irgendwelchen Brüderschaften oder Gemeinschaften ... auf dem Gebiete der Esoterik« wollte er nichts zu tun haben. Da Zander diesen Kontext unterschlägt, erweckt er den Eindruck, Steiner habe sich voll und ganz mit der »Tradition der okkultistischen Bewegung« identifiziert.

Im betreffenden Vortrag (GA 254, S. 48-49) heisst es:

»Doch ein Gespräch aus dem Herbst 1901 möchte ich jetzt erwähnen, das stattfand zwischen der jetzigen Frau Dr. Steiner und mir bei jenem Chrysanthemen-Tee, und in welchem diese die Frage stellte, ob es nicht doch sehr notwendig sei, eine geistige Bewegung in Europa ins Leben zu rufen. Im Verlaufe des Gespräches sagte ich klar die Worte: Gewiß, notwendig ist es, eine geisteswissenschaftliche Bewegung ins Leben zu rufen; ich werde mich aber nur finden lassen für eine solche Bewegung, die an den abendländischen Okkultismus und ausschließlich an diesen anknüpft und diesen fortentwickelt. – Und ich sagte in dieser Beziehung, daß angeknüpft werden müsse an Plato, an Goethe und so weiter. Ich wies hin auf das ganze Programm, das dann auch ausgeführt worden ist.

In diesem Programm hatte eben ein ungesundes Treiben wirklich keinen Platz, aber es kamen selbstverständlich vielfach auch Personen mit solchen Neigungen heran, weil man es mit Persönlichkeiten zu tun hatte, die von allen Seiten beeinflußt waren von der Bewegung, von der ich Ihnen erzählt habe. Wie aber mit diesem Programm notwendigerweise verbunden war eine völlige Abkehr von allem Mediumismus und Atavismus, das sehen Sie an dem Gespräch, das ich mit einem Mitglied der englischen Gesellschaft hatte, und das ich im Anfang dieses Vortrages angeführt habe.

Sie sehen, daß mit Bewußtsein der Weg eingeschlagen worden ist, der uns die langen Jahre hindurch geführt hat. Wenn auch auf diesem Wege viele Elemente herangekommen sind mit allerlei mediumistischem und atavistischem Hellsehen, von diesem Wege ist nicht abgewichen worden, und er hat uns zu dem geführt, zu dem wir gebracht worden sind.

Dadurch allerdings war ich darauf angewiesen, innerhalb der theosophischen Bewegung diejenigen Menschen zu finden, welche Herz und Sinn hatten für eine solche durchaus gesunde Methode. Alle diejenigen, die eine solche gesunde und doch streng wissenschaftliche und unter streng wissenschaftlicher Verantwortlichkeit vor sich gehende Bewegung nicht wollten, haben immer das, was wir getrieben haben, so behandelt, daß sie zunächst das, was bei uns geleistet worden ist, in ihrer Art verdreht haben, wie Sie es an dem Beispiele sehen, das Ihnen jetzt soviel Kopfzerbrechen macht – vielleicht auch nicht! – und was dann soviel Feindschaft gebracht hat, wie Sie es wiederum an diesem Beispiele sehen. Das aber kann Ihnen wieder aus einer geschichtlichen Betrachtung hervorgehen, daß sich durch all das Wirken durchzieht kein Zurückweichen vor dem Eintreten in die höchsten geistigen Welten, soweit sie sich der Menschheit jetzt gnadenvoll aus der höheren Welt heraus eröffnen können; daß aber auf der anderen Seite streng dasjenige zurückgewiesen wird, was nicht auf gesundem Wege, nicht durch die Methoden für das richtige Eintreten in die geistigen Welten hat gewonnen werden können. Wer das erkennen kann, bewertet und geschichtlich verfolgt, braucht es nicht nur als eine bloße Versicherung hinzunehmen, sondern er sieht es an der ganzen Art des Wirkens, wie es durch die Jahre hindurch geübt worden ist. Wir haben die Möglichkeit gehabt, viel, viel weiter zu gehen in der wirklichen Erforschung der geistigen Welt, als jemals die Theosophische Gesellschaft hat gehen können. Aber wir wandeln nicht auf unsicheren Wegen, sondern wir wandeln die sicheren Wege. Das darf frank und frei gesagt werden.

Daher habe ich es stets abgelehnt, mit irgendwelchem antiquierten Okkultismus, mit irgendwelchen Brüderschaften oder Gemeinschaften dieser Art auf dem Gebiete der Esoterik irgendwie etwas zu tun haben zu wollen. Und nur unter Wahrung der vollsten Selbständigkeit arbeitete ich eine Zeitlang in gewisser äußerlicher Verbindung mit der Theosophical Society und ihren esoterischen Einrichtungen, nicht aber in ihrer Richtung. Schon im Jahre 1907 ist alles Esoterische vollständig abgetrennt worden von der Theosophical Society, und was dann weiter geschehen ist, wissen Sie hinlänglich. Auch das ist geschehen, daß okkultistische Brüderschaften mir diese oder jene Vorschläge machten; und namentlich als eine ganz angesehene okkultistische Brüderschaft mir den Vorschlag machte, mich zu beteiligen an der Ausbreitung eines sich auch rosenkreuzerisch nennenden Okkultismus, ließ ich ihn unbeantwortet, trotzdem er von einer ganz angesehenen okkultistischen Bewegung kam. Ich muß das sagen, um zu zeigen, daß bei uns ein selbständiger, der Gegenwart angemessener Weg verfolgt wird, und daß ungesunde Elemente uns auf das unangenehmste berühren müssen.«

Zu Steiners Verständnis des Okkultismus siehe auch: Mathematik und Okkultismus 1904 | Theosophie in Deutschland vor hundert Jahren 1906

Zander phantasiert über Konflikte Steiners mit Frauen wegen seines angeblich autoritativen Leitungsstils in der Theosophischen Gesellschaft.

Auf S. 394 schreibt Zander:

»Auch über Konflikte aufgrund von Steiners autoritativem Leitungsstil wissen wir noch wenig, aber auch dafür gibt es Indizien. Als Steiner 1913 eine ›ägyptische Tempelszene‹ durch Bewegungen ›nur nach der Seite‹ darstellen lassen wollte, brachte die Theosophin Lotus Peralté ›nicht nur dicke Bücher, sondern auch einen Ägyptologen« mit, so dass Steiner nachgab (GA 277a, 48). Mathilde Scholl zog sich 1913 aus der Anthrposophischen Gesellschaft ganz zurück (ohne mit Steiner persönlich zu brechen) und erteilte nach dessen Tod anthroposophischen Privatunterricht.«

Der Verweis auf GA 277a führt zu einem Bericht von Lory Mayer-Smits, einer Eurythmistin, die an den München Aufführungen der Mysteriendramen mitwirkte. Hier ist nicht von Konflikten zwischen Steiner und seinen »Anhängerinnen« die Rede, sondern von einem Konflikt – wenn man ihn denn so nennen will – zwischen Lory Mayer-Smits und Lotus Peralté, in dem Steiner wie Mayer-Smits berichtet, – vermittelte:

»Ungefähr vierzehn Tage vor unserer letzten Aufführung rief er mich zu sich und sagte, er brauche für das achte Bild – für die ägyptische Tempelszene – noch einen ägyptischen Tanz. Er habe sich entschlossen, die vier Priester, die nach der Regieanweisung vorne stehen, etwas erhöht gegen den Hintergrund zu stellen. Sie müssten während des ganzen Bildes vollkommen unbeweglich dort stehen und nur dann, wenn der Neophyt zum Schrecken aller im Tempel Versammelten nicht die erwarteten, nach alten Regeln vorherbestimmten Weltenworte, sondern sein eigenes Erleben und Empfinden ausspricht, wie von ihnen ergriffen und gezwungen diese Worte eurythmisch gestalten und begleiten. Auch hierfür bestimmte Dr. Steiner die Persönlichkeiten, darunter eine französische Malerin, Madame Peralté, die schon zum zweiten Mal die ahrimanischen Wesen und diesmal auch die Gnomen mitmachte. Sie war eine schon fast sechzigjährige, unheimlich temperamentvolle Frau, voll geballter Energie, und schon durch ihr Äußeres, das an Wüste und Einsamkeit erinnerte, wie prädestiniert für solch eine Aufgabe. Leider richtete sich diese Energie bald gegen mich und meinen Versuch, diesem Tanz dadurch einen ägyptischen Charakter zu verleihen, daß wir unsere Bewegungen - in der Art ägyptischer Reliefs - nur nach der Seite machten. Nachdem Dr. Steiner diese neue Aufgabe gestellt hatte, war ich aufgeregt in die verschiedensten Museen gelaufen, und diese seitlichen Bewegungen waren wirklich wie eine rettende, leider aber auch einzige Idee aufgetaucht. Doch Madame Peralté streikte und wollte so eine ägyptische Phantasie nicht mitmachen. Sie brachte nicht nur dicke Bücher, sondern auch einen Ägyptologen in die Probe und schließlich sagte Dr. Steiner zu mir: ›Dann lassen Sie eben diese seitwärts gerichteten Bewegungen!‹ Als ich nach der Probe sehr bedrückt und ratlos den Saal verlassen hatte und die Treppe hinunterschlich, legte sich plötzlich eine Hand auf meine Schulter. Es war Dr. Steiner, der mich tröstend gütig und fast auch etwas schelmisch anschaute und erklärte: ›Wissen Sie, ich habe das gar nicht pedantisch gemeint, daß Sie diese seitlichen Bewegungen lassen sollen, nur den Schluß, den müssen Sie ganz betont frontal machen, die Zeile: "Empfand ich euren strengen Weckeruf."‹ (GA 277a, S. 48, Dornach 1998).

Sophie Scholl zog 1914 mit 46 Jahren von Köln nach Dornach, um dort in der Nähe Rudolf Steiners zu sein. Sie lebete mit ihren beiden amerikanischen Freundinnen Lilla Harris und Gracia Ricardo zusammen. Sie widmete sich ganz der inneren Arbeit, insbesondere an den Mysteriendramen Rudolf Steiners. Von einem Konflikt zwischen ihr und Rudolf Steiner kann keine Rede sein.

Zander glaubt, Steiners Äußerungen zur »Frauenfrage« ließen sich nicht auf einen Nenner bringen. Während er in seiner »Philosophie der Freiheit« eine Kategorisierung von Frauen abgelehnt habe, habe er 5 Jahre später »das Standardrepertoire des wilhelminischen Patriarchalismus reproduziert«.

Auf S. 397 schreibt Zander:

»Fünf Jahre später reproduzierte er hingegen das Standardrepertorie des wilhelminischen Patriarchalismus anlässlich von Reflexionen über das ›Liebesproblem des Weibes‹:

'Man mag sagen, was man will: Das Weib hat in sich den Drang nach dem Manne mit Größe, den es lieben kann wegen seiner Größe. Und glaubt es, diesen Mann gefunden zu haben, dann ist es grenzenlos egoitische un dmöchte am liebsten diese Größe mit den Armen an den brünstigen Busen drücken und immer wieder drücken, und nicht mehr loslassen und in wollüstigen Küssen die Größe ersticken.'« (GA 29,293)

Der Verweis Zanders (GA 29, 293) führt zu einer Kritik Rudolf Steiners über den Dramatiker Max Halbe und dessen Tragödie »Der Eroberer«, die 1898 im Lessing-Theater in Berlin aufgeführt wurde. Was Zander als Steiners Meinung kolportiert ist in Steiners Text »Max Halbes Problem«:

»Dieser Weg des wahren Dichters muß auch der Halbes sein. Bisher war er nur diesen seinen ureigensten Weg noch niemals rücksichtslos gegangen. In seinem ›Eroberer‹ ist er ihn gegangen.

Max Halbe hat damit sich selbst erst gefunden. Als ich das Drama kennenlernte, stand ein großes Seelenproblem vor meinen Augen. Das Liebesproblem des Weibes. Man mag sagen, was man will: Das Weib hat in sich den Drang nach dem Manne mit Größe, den es lieben kann wegen seiner Größe. Und glaubt es, diesen Mann gefunden zu haben, dann ist es grenzenlos egoistisch und möchte am liebsten diese Größe mit den Armen an den brünstigen Busen drücken und immer wieder drücken und nicht mehr loslassen und in wollüstigen Küssen die Größe ersticken. Und des Weibes rechte Tragödie muß es sein, daß bei wirklicher Größe die weiblichen Arme zu schwach sind, um das Große zu halten. Der Mann entwindet sich dem Weibe um derselben Eigenschaft willen, um derentwillen es ihn so heiß begehrt. Es möchte die große, weite Seele für sich haben, weil sie groß und weit ist. Aber weil sie groß und weit ist, diese Seele, ist in ihr noch Raum für ... anderes. Die Philister mögen mir schon verzeihen, daß ich das so hinschreibe. Die Philister schließen ja so gerne die Augen vor dieser ewigen Tragödie, die sich hineinschiebt zwischen den großen Mann und das große Weib.

Max Halbe hat diese Tragödie geschrieben. Agnes, die Gattin Lorenzos, ist das große Weib, das den großen Mann sucht, weil es nur ihn lieben kann. Und Lorenzo ist der große Mann, den Agnes anbetet, aber in dessen Seele noch der Keim ist für die kleine Ninon, die auch den großen Mann sucht. Und die große Agnes tötet die kleine Ninon, weil der Frau des Mannes Größe verhängnisvoll wird, um derentwillen sie ihn liebt.

Das ist Halbes Problem. Um Menschen, die solche Konflikte durchleben, darzustellen, brauchte er den Hintergrund einer Zeit, von der wir die Vorstellung haben, daß die Menschen in ihr den Mut hatten, sich ihrem natürlichen Egoismus zu überlassen. Die Renaissance ist eine solche Zeit. Deshalb hat Halbe ein Renaissancedrama geschrieben. Hätte er seine Tragödie in der Gegenwart spielen lassen, so hätten wir das Gefühl: heute fänden die Menschen die notwendigen Lügen, um die wahren Empfindungen, die im Hintergrunde schlummern, nicht an die Oberfläche treten zu lassen.

Und es ist Halbe gelungen, den Gestalten seines Dramas die Seelen von Renaissancemenschen einzuhauchen. Sie brauchen nur vor uns hinzutreten und ein paar Worte zu sprechen, so wissen wir, daß wir es mit Menschen des rückhaltlosen Egoismus zu tun haben und mit solchen, die den Mut besitzen, diesen Egoismus zur Schau zu tragen, ohne ihm ein idealistisches Mäntelchen umzuhängen.« (GA 29, S. 292-295, Dornach 2004)

Zander räsonniert über die »antifeministischen Wurzeln« Steiners, die sich um die Jahrhundertwende ausprägten. 1902 habe er die Theosophie »im Horizont männlicher Dominanzansprüche« reformuliert.

Zander schreibt auf S. 398:

»Wie sich die antifeministischen Wurzeln bei Steiner um die Jahrhundertwende ausprägen konnten, dokumentierte er in seiner ersten öffentlichen Stellungnahme zur Theosophie, die er am 8. Oktober 1902, anderthalb Wochen vor der Gründung der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft, vor dem Giordano-Bruno-Bund abgab ... Duboc hatte in Hardens ›Zukunft‹ der Theosophie in diffmierender Absicht ›Weiblichkeit‹ vorgeworfen 149. Steiner reagierte im Horizont männlicher Dominanzansprüche: ›Ich kenne die großen Mängel und Fehler der theosophischen Bewegung durchaus. Duboc hat die Theosophie eine weibliche Philosophie genannt. Das können wir ändern, indem wir sie im kritischen Deutschland zu einer männochen machen.‹ (GA 51,315)«

Zander verschweigt in seiner beredten Diskussion dieses Vorgangs, dass es sich bei den zitierten Sätzen nicht um eine authentische Äußerung Steiners handelt, sondern um ein Referat des Mitgliedes des Giordano-Bruno-Bundes Otto Lehmann-Rußbüldt, der übrigens Rassist war, wie man auf Seite 317 von GA 51 nachlesen kann.

Lehmann-Rußbüldt scheint großen Wert auf die »Vermännlichung« der Theosophie gelegt zu haben, schreibt er doch in seinem im Vereinsorgan »Der Freidenker« erschienenen Referat zur Diskussion über Steiners Vortrag vom 8. Oktober:

»Dr. Steiners Aufforderung, die Theosophie, wenn sie nach Duboc eine weibliche Philosophie sei, im kritischen Deutschland zu einer männlichen zu machen, müßte dick unterstrichen werden, so daß es im Druck allein eine Seite einnehmen würde, denn es läge in der theosophischen Bewegung sicher auch keine geringe Gefahr.«

Wenn Duboc die Theosophie mit der Absicht, sie zu diffamieren, als »weibliche Philosophie« bezeichnete, lag das Argument nahe, ihr auch männliche Qualitäten hinzuzufügen oder zuzuerkennen. Steiner bewegte sich mit seiner Argumentation dialektisch im Rahmen eines historische vorgegebenen Kontextes. Eine grundsätzliche Stellungnahme, die Zander aus dieser zweifelhaft überlieferten Äußerung macht, ist daraus jedenfalls nicht zu entnehmen.

Zander zitiert die Eingangssätze aus dem ersten Kapitel des Buches »Friedrich Nietzsche, ein Kämpfer gegen seine Zeit«, und deutet diese fälschlicherweise als ein Glaubensbekenntnis Steiners.

Zander schreibt auf S. 518:

»Aber sein Verhältnis zu Nietzsche sei mehr als philosophische Überzeugung, sei eine Art Glaube:

›Ich gehöre zu den Lesern Nietzsches, welche, nachdem sie die erste Seite von ihm gelesen haben, mit Bestimmtheit wissen, dass sie alle Seiten lesen und auf jedes Wort hören werden, das er überhaupt gesagt hat. Mein Vertrauen zu ihm war sofort da‹ (ebd., 15)«

Im ersten Kapitel seines Nietzschebuches zitiert Steiner eine Äußerung Nietzsches über sein Verhältnis zu Schopenhauer, um sein eigenes Verhältnis zu Nietzsche zu kennzeichnen. Zander unterschlägt allerdings den Satz, der sich an die von ihm zitierten Sätze unmittelbar anschließt: »Man kann so sprechen und weit davon entfernt sein, sich als ›Gläubigen‹ der Nietzscheschen Weltanschauung zu bekennen.« Steiner versteht diese Sätze also gerade nicht als Glaubensbekenntnis.

Der unverstümmelte Text lautet folgendermaßen (die relevanten Sätze sind unterstrichen):

»Friedrich Nietzsche charakterisiert sich selbst als einsamen Grübler und Rätselfreund, als unzeitgemäße Persönlichkeit. Wer auf solchen eigenen Wegen geht, wie er, ›begegnet niemandem: das bringen die ‚eigenen Wege’ mit sich. Niemand kommt, ihm dabei zu helfen; mit allem, was ihm von Gefahr, Zufall, Bosheit und schlechtem Wetter zustößt, muß er allein fertig werden‹, sagt er in der Vorrede zur zweiten Ausgabe seiner ›Morgenröte‹. Aber reizvoll ist es, ihm in seine Einsamkeit zu folgen. Die Worte, die er über sein Verhältnis zu Schopenhauer ausgesprochen hat, möchte ich über das meinige zu Nietzsche sagen: ›Ich gehöre zu den Lesern Nietzsches, welche, nachdem sie die erste Seite von ihm gelesen haben, mit Bestimmtheit wissen, daß sie alle Seiten lesen und auf jedes Wort hören werden, das er überhaupt gesagt hat. Mein Vertrauen zu ihm war sofort da ... Ich verstand ihn, als ob er für mich geschrieben hätte: um mich verständlich, aber unbescheiden und töricht auszudrücken.‹ Man kann so sprechen und weit davon entfernt sein, sich als ›Gläubigen‹ der Nietzscheschen Weltanschauung zu bekennen. Weiter allerdings nicht, als Nietzsche davon entfernt war, sich solche ›Gläubige‹ zu wünschen. Legt er doch seinem ›Zarathustra‹ die Worte in den Mund: ›Ihr sagt, ihr glaubt an Zarathustra? Aber was liegt an Zarathustra! Ihr seid meine Gläubigen: aber was liegt an allen Gläubigen!

Ihr hattet euch noch nicht gesucht: da fandet ihr mich. So tun alle Gläubigen; darum ist es so wenig mit allem Glauben. Nun heiße ich euch, mich verlieren und euch finden; und erst, wenn ihr mich alle verleugnet habt, will ich euch wiederkehren.‹«