Zander entblödet sich nicht, Steiners »Erstem Memorandum« von 1917 eine Nähe zu den expansiv ausgelegten Kriegszielen Deutschlands zu unterstellen. Der postulierte Kontext ist ohne Zweifel falsch.
Auf S. 1276 schreibt Zander:
»Steiner, der 1917 verstärkt über eine Neuordnung Deutschlands nachdachte, setzte sich gegen die Forderung nach Selbstbestimmung der Völker einschließlich staatlicher Selbständigkeit und für den Fortbestand der Habsburgermonarchie ein, unter Einschluss annexionistischer Erweiterungen.138
Anmerkung 138:
Im Memorandum für die deutsche Regierung schrieb Steiner jedenfalls, im politischen Bereich könne sich ein ›gesunder Konservatismus entwickeln, der nie auf die Zerstückelung Österreichs, sondern höchstens auf seine Ausdehnung bedacht sein kann‹ (GA 24,353). Steiner stand mit derartigen Äußerungen nahe bei den expansiv ausgelegten Kriegszielen für Mitteleuropa von deutscher Seite ...«
Steiner legte in seinem »Ersten Memorandum« den ersten Entwurf seiner Dreigliederungsidee vor. Diese beruht auf der Trennung der drei Gebiete Politik, Recht und Wirtschaft, die von eigenständigen Parlamenten verwaltet werden, die untereinander wie souveräne Regierungen verhandeln können sollen. Diese Idee setzt eine funktionelle Auflösung des zentralistischen Machtstaates voraus, der gegenüber die herkömmlichen nationalen Staatsgrenzen ohnehin obsolet geworden wären. Dass Steiner in diesem Rahmen an den »Fortbestand der Habsburgermonarchie« gedacht hat, darf bezweifelt werden. Steiner spricht in der von Zander zitierten Passage auch nicht von der »Habsburgermonarchie«, sondern von »Österreich«, – was genau er darunter verstand, lässt sich aus dem Text nicht herauslesen. Der Absatz, der sich gegen die »Zertrümmerung« Österreichs richtet, ist als Einwand gegen die Vorstellungen Wilsons zu verstehen, das österreichische Vielvölkerreich in eine nicht näher bestimmte Zahl von Nationalstaaten aufzuteilen, in denen jeweils ein Staatsvolk über eine Vielzahl nationaler Minderheiten bestimmen sollte, mit all den katastrophalen Implikationen, die diese völkerrechtliche Neugliederung nach sich ziehen würde. Auf das von Steiner Gemeinte deutet die Passage: »Im Anfange wird dies wohl durch die territorialen Grenzen beschränkt werden müssen, doch trägt es die Möglichkeit in sich, auf friedlichem Wege die nationalen Gegensätze – auch andere – auszugleichen«, der sich auf die »juristischen, pädagogischen und geistigen Angelegenheiten« bezieht.
Da Steiner im Folgenden von Triest spricht, das damals noch zum »Österreichischen Küstengebiet« gehörte, zugleich aber auch ein Nest des italienischen Irredentismus war, könnte ihm die Schaffung einer zusammenhängenden Wirtschaftszone einschließlich Triest vorgeschwebt sein. Die Allierten hatten, um es zum Kriegseintritt gegen die Mittelmächte zu bewegen, Italien im Geheimvertrag von London 1915 das Trentino, Südtirol bis zum Brenner, die Stadt Triest und ihr Umland, die Grafschaft Görz und Gradisca, ganz Istrien, sowie die istrischen und einige kleinere Inseln versprochen. Die Behauptung des Trentino und des Küstenlandes mit Triest und Fiume gegen die Annexionswünsche Italiens gehörte zu den »negativen« Kriegszielen der Habsburgermonarchie. Da es im Falle des Küstenlandes lediglich um den Erhalt des Bestandes ging, ist auch in dieser Hinsicht der Begriff des »Expansionismus« unangebracht. Im übrigen wurde der Absatz: »Die politischen Gebilde Europas könnten sich so auf Grundlage eines gesunden Konservativismus entwickeln, der nie auf Zerstückelung Österreichs, sondern höchstens auf seine Ausdehnung bedacht sein kann« erst in das zweite, für den Habsburgerkaiser Karl verfasste Memorandum eingefügt; es könnte sich auch um eine taktische Bemerkung handeln, um ihm die Annahme des Memorandums zu erleichtern.
Im Kontext lauten die Vorschläge Steiners:
»Deshalb kann nur ein mitteleuropäisches Programm das Wilsonische schlagen, das real ist, das heißt nicht das oder jenes Wünschenswerte betont, sondern das einfach eine Umschreibung dessen ist, was Mitteleuropa tun kann, weil es zu diesem Tun die Kräfte in sich hat. Dazu gehört:
1. Dass man einsehe: Gegenstand einer demokratischen Volksvertretung können nur die rein politischen, die militärischen und die polizeilichen Angelegenheiten sein. Diese sind nur möglich auf Grund des historisch gebildeten Untergrundes. Werden sie vertreten für sich in einer Volksvertretung und verwaltet von einer dieser Volksvertretung verantwortlichen Beamtenschaft, so entwickeln sie sich notwendig konservativ. Ein äußerer Beweis dafür ist, dass seit dem Kriegsausbruche selbst die Sozialdemokratie in diesen Dingen konservativ geworden ist. Und sie wird es noch mehr werden, je mehr sie gezwungen wird, sinn- und sachgemäß dadurch zu denken, dass in den Volksvertretungen wirklich nur politische, militärische und polizeiliche Angelegenheiten der Gegenstand sein können. Innerhalb einer solchen Einrichtung kann sich auch der deutsche Individualismus entfalten mit seinem bundesstaatlichen System, das nicht eine zufällige Sache ist, sondern das im deutschen Volkscharakter enthalten ist.
2. Alle wirtschaftlichen Angelegenheiten werden geordnet in einem besonderen Wirtschaftsparlamente. Wenn dieses entlastet ist von allem Politischen und Militärischen, so wird es seine Angelegenheiten rein so entfalten, wie es diesen einzig und allein angemessen ist, nämlich opportunistisch. Die Verwaltungsbeamtenschaft dieser wirtschaftlichen Angelegenheiten, innerhalb deren Gebiet auch die gesamte Zollgesetzgebung liegt, ist unmittelbar nur dem Wirtschaftsparlamente verantwortlich.
3. Alle juristischen, pädagogischen und geistigen Angelegenheiten werden in die Freiheit der Personen gegeben. Auf diesem Gebiete hat der Staat nur das Polizeirecht, nicht die Initiative. Es ist, was hier gemeint ist, nur scheinbar radikal. In Wirklichkeit kann sich nur derjenige an dem hier gemeinten stoßen, der den Tatsachen nicht unbefangen ins Auge sehen will. Der Staat überlässt es den sach-, berufs- und völkermäßigen Korporationen, ihre Gerichte, ihre Schulen, ihre Kirchen und so weiter zu errichten, und er überlässt es dem einzelnen, sich seine Schule, seine Kirche, seinen Richter zu bestimmen. Natürlich nicht etwa von Fall zu Fall, sondern auf eine gewisse Zeit. Im Anfange wird dies wohl durch die territorialen Grenzen beschränkt werden müssen, doch trägt es die Möglichkeit in sich, auf friedlichem Wege die nationalen Gegensätze – auch andere – auszugleichen. Es trägt sogar die Möglichkeit in sich, etwas Wirkliches zu schaffen an Stelle des schattenhaften Staaten-Schiedsgerichts. Nationalen oder anderweitigen Agitatoren werden dadurch ihre Kräfte ganz genommen. Kein Italiener in Triest fände Anhänger in dieser Stadt, wenn jedermann seine nationalen Kräfte in ihr entfalten könnte, trotzdem aus selbstverständlichen opportunistischen Gründen seine wirtschaftlichen Interessen in Wien geordnet werden, und trotzdem sein Gendarm von Wien aus bezahlt wird.
Die politischen Gebilde Europas könnten sich so auf Grundlage eines gesunden Konservativismus entwickeln, der nie auf Zerstückelung Österreichs, sondern höchstens auf seine Ausdehnung bedacht sein kann.
Die wirtschaftlichen Gebilde würden sich opportunistisch gesund entwickeln; denn niemand kann Triest in einem Wirtschaftsgebilde haben wollen, in dem es wirtschaftlich zugrunde gehen muss, wenn ihn das Wirtschaftsgebilde nicht hindert, kirchlich, national und so weiter zu tun, was er will.
Die Kulturangelegenheiten werden von dem Drucke befreit, den auf sie die wirtschaftlichen und politischen Dinge ausüben, und sie hören auf, auf diese einen Druck auszuüben. Alle diese Kulturangelegenheiten werden fortdauernd in gesunder Bewegung erhalten. Eine Art Senat, gewählt aus den drei Körperschaften, welchen die Ordnung der politisch-militärischen, wirtschaftlichen und juristisch-pädagogischen Angelegenheiten obliegt, versieht die gemeinsamen Angelegenheiten, wozu auch zum Beispiel die gemeinsamen Finanzen gehören.«
GA 24 (Dornach 1982), S. 351-354
Zander behauptet, Steiner habe in seinem Ersten Memorandum seine antidemokratischen Einstellungen« gegen Wilson »mobilisiert«. Statt von antidemokratischen Einstellungen sollte man besser von einer »inneren Differenzierung« der Demokratie sprechen. Als Frucht dieses Steiner unterstellten Antidemokratismus sieht Zander auch seine Analyse der tieferen geopolitischen Zielsetzungen des Wilsonschen Programms. Aufgrund der Ausblendung wesentlicher Kontexte des Memorandums gelangt Zander zu gravierenden Fehleinschätzungen seiner Zielsetzung und Hintergründe.
Auf S. 1276 schreibt Zander:
»Steiner kritisierte nicht nur die für multiethnische Staaten in der Tat problematischen Folgen von Wilsons Konzept, sondern mobilisierte in diesem Zusammenhang auch seine antidemokratischen Einstellungen ... ›Parlamentarismus‹ ... und der ›sogenannte Demokratismus ... seien nicht in der Lage, die Probleme eines Vielvölkerstaates zu lösen und zielten ... auf die Weltherrschaft der ›anglo-amerikanischen Rasse‹ ...«
Steiners Memorandum eröffnet mit der Formulierung einer der Hauptaufgaben Österreich-Ungarns, der »Befreiung der Westslaven«:
»Diese Befreiung kann«, so Steiner, »nur unter dem Gesichtspunkte der Autonomisierung aller Zweige des Volkslebens vor sich gehen, welche das nationale Dasein und alles, was damit zusammenhängt, betreffen. Man darf eben nicht zurückschrecken vor der völligen Freiheit im Sinne der Autonomisierung und Föderalisierung des Volkslebens. Diese Föderalisierung ist vorgebildet im deutschen bundesstaatlichen Leben, das gewissermaßen das von der Geschichte vorgebildete Modell ist für dasjenige, was in Mitteleuropa fortgebildet werden muss bis zur völligen föderalistisch-freiheitlichen Gestaltung aller derjenigen Lebensverhältnisse, die ihren Impuls in dem Menschen selber haben, also nicht unmittelbar, wie die militärisch-politischen, von den geographischen, und, wie die wirtschaftlichen, von den geographisch-opportunistischen Verhältnissen abhängig sind. Die Gestaltung dieser Verhältnisse wird nur dann in gesunder Weise erfolgen, wenn das Nationale aus der Freiheit, nicht die Freiheit aus dem Nationalen entbunden wird.«
(S. 340-341)
Weiter unten heißt es:
»Deshalb kann nur ein mitteleuropäisches Programm das Wilsonische schlagen, das real ist, das heißt nicht das oder jenes Wünschenswerte betont, sondern das einfach eine Umschreibung dessen ist, was Mitteleuropa tun kann, weil es zu diesem Tun die Kräfte in sich hat. Dazu gehört:
1. Dass man einsehe: Gegenstand einer demokratischen Volksvertretung können nur die rein politischen, die militärischen und die polizeilichen Angelegenheiten sein ...
2. Alle wirtschaftlichen Angelegenheiten werden geordnet in einem besonderen Wirtschaftsparlamente. Wenn dieses entlastet ist von allem Politischen und Militärischen, so wird es seine Angelegenheiten rein so entfalten, wie es diesen einzig und allein angemessen ist, nämlich opportunistisch ...
3. Alle juristischen, pädagogischen und geistigen Angelegenheiten werden in die Freiheit der Personen gegeben. Auf diesem Gebiete hat der Staat nur das Polizeirecht, nicht die Initiative. Es ist, was hier gemeint ist, nur scheinbar radikal. In Wirklichkeit kann sich nur derjenige an dem hier gemeinten stoßen, der den Tatsachen nicht unbefangen ins Auge sehen will. Der Staat überlässt es den sach-, berufs- und völkermäßigen Korporationen, ihre Gerichte, ihre Schulen, ihre Kirchen und so weiter zu errichten, und er überlässt es dem einzelnen, sich seine Schule, seine Kirche, seinen Richter zu bestimmen.«
GA 24 (Dornach 1982), S. 351-353
Was die Behauptung Steiners anbetrifft, Wilsons Programm der »Völkerbefreiung« ziele in Wahrheit auf die »angloamerikanische Weltherrschaft«, so bezieht sich diese (implizit) auf politische Lehren, die in esoterischen Kreisen der angelsächsischen Eliten tatsächlich verbreitet und in C.G. Harrisons Buch »Das transzendentale Weltall« 1893 angedeutet worden waren. Steiner gibt hier also nicht seine eigenen Meinungen wieder, die aus »antidemokratischen Einstellungen« entsprungen wären, sondern referiert Harrison. (C. G. Harrison: Das transzendentale Weltall. Sechs Vorträge über Geheimwissen, Theosophie und den katholischen Glauben, gehalten vor der »Berean Society« 1893, deutsche Übersetzung 1897.)
Steiners Referat dieses politischen Programms lautet wie folgt:
»Man muss eben in Mitteleuropa ohne Illusion dem ins Auge schauen, was diejenigen Persönlichkeiten seit vielen Jahren als ihren Glauben haben, den sie von ihrem Gesichtspunkte aus als das Gesetz der Weltentwickelung betrachten: dass der anglo-amerikanischen Rasse die Zukunft der Weltentwickelung gehört, und dass sie das Erbe der lateinisch-romanischen Rasse und die Erziehung des Russentumes zu übernehmen hat. Bei der Anführung dieser weltpolitischen Formel durch einen sich eingeweiht dünkenden Engländer oder Amerikaner wird stets bemerklich gemacht, dass das deutsche Element bei der Ordnung der Welt nicht mitzusprechen hat wegen seiner Unbedeutendheit in weltpolitischen Dingen, dass das romanische Element nicht berücksichtigt zu werden braucht, weil es ohnedies im Aussterben ist, und dass das russische Element derjenige hat, der sich zu seinem weithistorischen Erzieher macht.«
GA 24 (Dornach 1982) S. 358-359
Harrison, der der englischen Hochkirche nahestand, schrieb 1893 (zitiert nach der deutschen Übersetzung 1897):
»Wenn wir die zwei unbewussten Perioden ... bei Seite legen, finden wir dieselben Erscheinungen von Geburt, Wachstum und Tod in größerem Maßstabe wiederholt im nationalen Leben, ebenso verschieden von jene der Individuen, aus welchen die Nation zusammengesetzt ist.
Nehmen wir Europa der Neuzeit als Beispiel dafür. Mit Ausnahme der slavischen Völkerschaften, von welchen wir bald sprechen werden, und einem kleinen turanischen Elemente, welches zu unbedeutend ist, um uns mit ihm zu beschäftigen, stellen die Nationen des jetzigen Europas und ihr amerikanischer und kolonialer Nachwuchs die fünfte Unter-Rasse der großen arischen Wurzel-Rasse dar. Zur Zeit des römischen Reiches waren diese Nationen in ihrer Kindheit. Vor der römischen Eroberung waren Gallier, Britannier und Germanen noch keine Nationen; sie hatten nur die Existenz von Volksstämmen. Ihre Besiegung und Einverleibung in das Römische Reich bezeichnete die Zeit ihres Säuglingsalters. Das römische Gesetz war ihre Amme und ihr Beschützer. Der Amme folgte der Vormund. Die Zerstörung des römischen Reiches und die Erhebung des Papsttumes bezeichneten die Periode der Kindheit oder den Beginn ihres intellektuellen Lebens. Die Jugendzeit mit ihren erweiterten Interessen und ausgedehnteren Reihe von Erscheinungen begann mit der Renaissance und endete mit der Reformation. Das Mannesalter des neuen Europas leitet sich vom 16. Jahrhundert her. Wir könnten die Analogie weiter verfolgen, doch bringt uns der nächste Zeitabschnitt, die französische Revolution der Neuzeit zu nahe, um es auf der jetzigen Stufe unserer Untersuchungen rätlich zu machen, in Betreff ihrer Bedeutung zu dogmatisieren. Wenden wir uns dem slavischen Volke zu, welches der sechsten arischen Unter-Rasse angehört, und was finden wir? Ein mächtiges Reich, welches unter einer despotischen Regierung eine Anzahl örtlicher Gemeinden zusammenhält – Rußland. Die Überbleibsel eines Königreichs – Polens, dessen einzige Kraft des Zusammenhanges in seiner Religion liegt und welches trotz derselben schließlich wieder in das russische Reich einbezogen werden wird. Eine Reihe von Volksstämmen, von den fremden Türken unterdrückt haben das Joch abgeschüttelt und sind künstlich zu kleinen Staaten befestigt worden, deren Unabhängigkeit bis zum nächsten großen europäischen Kriege und nicht länger dauern wird. Was sind diese Alle anders, als Kennzeichen einer Unterrasse im Säuglingsalter? Die westlichen Europäer pflegen von deren Barbarei zu sprechen und haben in einem gewissen Sinne Recht. Unsere Civilisation ist ein bloßes Furnier auf den oberen Klassen und so gut ein fremdes Gewächs, als die römische Civilisation es in Britannien war. Ihre Bestimmung ist, in Zukunft aus sich selbst eine höhere Civilisation zu entwickeln. Das russische Reich muss sterben, damit das russische Volk leben kann, und die Verwirklichung der Träume der Panslawisten wird anzeigen, dass die sechste arische Unter-Rasse begonnen hat, ihr eigenes intellektuelles Leben zu leben und nicht länger mehr in ihrer Säuglings-Periode steht. Wir brauchen den Gegenstand nicht weiter zu verfolgen, als dass wir es aussprechen, der National-Charakter werde sie befähigen, sozialistische Experimente durchzuführen, politische und ökonomische, welche im westlichen Europa unzählige Schwierigkeiten bereiten würden.« (S. 45-46)
»Die fünfte Unterrasse kann im Allgemeinen als die englisch sprechenden Völker bezeichnet werden. Natürlich enthält sie Elemente der vierten, ja selbst der dritten Unterrasse, aber es wird Wenige geben, welche leugnen, dass der religiöse Gedanke seinen Schwerpunkt in der Neuzeit verschoben hat, und dass wir im englischen Christentum viel mehr als im lateinischen Christentum die fernere Entwicklung des Gottesbegriffes suchen müssen. Die Entwicklungs-Flutwelle ist von der vierten Unterrasse zurückgegangen und die lateinischen Nationen des modernen Europas weisen einen starken Hang zum wissenschaftlichen Materialismus auf, gegen welchen die ihrer früheren Macht und des Einflusses beraubte Kirche nur schwache Einsprache tun kann. Der Materialismus in England hat eben seine Kraft erschöpft. Die Flut schreitet vorwärts und hat bereits dem Flusse der rückgängigen Strömung Einhalt getan. Die Tendenz zum Materialismus, welche vor 10 bis 15 Jahren die englische Wissenschaft in der Persönlichkeit ihrer höchsten Vertreter kennzeichnete, ist jetzt ein Ding der Vergangenheit.« (S. 63)
Zander sieht im »Mährischen Ausgleich« von 1905 ein »Vorbild« für das Konzept der »Unabhängigkeit der allgemein-menschlichen Verhältnisse« der Memoranden. Hier wird durch die Übertragung in einen anderen Kontext die Bedeutung einer Idee verwischt.
Auf S. 1289 schreibt Zander:
»In der Amtszeit Ernst Koerbers (1850–1919) kam es 1905 zum ›Mährischen Ausgleich‹. Darin durften die Gemeinden ihre Geschäftssprache frei wählen, mussten aber, wenn mehr als 20 Prozent einer Gemeinde einer anderen Nationalität zugehörten, den Vorgang in deren Sprache bearbeiten, bei geringeren Quoten wurde der Schriftverkehr kostenlos übersetzt; zudem sollten die Wahlen in die Kurien nach nationalen Katastern statt finden. Mit dem Mährischen Ausgleich war eine ›Personalautonomie‹ bei der Bestimmung der Volksgruppenzugehörigkeit verbunden, die in einem komplexen Verfahren die behördliche Bestimmung der Nationalität und das Recht auf eigenen Wechsel der Volksgruppe oder des Ausschlusses durch eine Ethnie regelte ...
Steiners oben zitierter Vorschlag aus den Memoranden für eine ethnische und religionsrechtliche Selbstbestimmung, in der aber offenbar »politische« und »wirtschaftliche« Regelungsinstanzen oberhalb der Volksgruppen verbleiben, hat die nächsten Ähnlichkeiten mit den 1905 umgesetzten Regelungen des Mährischen Ausgleichs. Sein Konzept der Unabhängigkeit der ›allgemein-menschlichen Verhältnisse‹ (GA 24,372), zu der man seine Erläuterung, dass ›alle juristischen, pädagogischen und geistigen Angelegenheiten … in die Freiheit der Person gegeben [werden]‹ (ebd., 352), hinzuziehen kann, ist strukturell mit der ›Personalautonomie‹ des Mährischen Ausgleichs identisch.«
Immer, wenn Zander von strukturellen Ähnlichkeiten oder Identitäten spricht, verschleiert er inhaltliche Differenzen. So auch im Falle des »Mährischen Ausgleichs«. Dieser bezog sich auf die Amts- oder Verkehrssprache und die Zugehörigkeit zu Volksgruppen. Steiners Vorschläge für die Regelung der allgemein-menschlichen Verhältnisse – das heißt, der geistig-kulturellen Verhältnisse der Religion, der Bildung, der Kultur und des Rechtes haben aber mit nationalen Zugehörigkeiten nichts zu tun. Sie bewegen sich auf dem allgemein-menschlichen Gebiet, betreffen also gerade den Menschen, insofern er keiner besonderen Ethnie oder einer bestimmten Volksgruppe angehört.
Am deutlichsten kommt der Unterschied in folgender Passage der Memoranden zum Ausdruck:
»3. Alle juristischen, pädagogischen und geistigen Angelegenheiten werden in die Freiheit der Personen gegeben. Auf diesem Gebiete hat der Staat nur das Polizeirecht, nicht die Initiative. Es ist, was hier gemeint ist, nur scheinbar radikal. In Wirklichkeit kann sich nur derjenige an dem hier gemeinten stoßen, der den Tatsachen nicht unbefangen ins Auge sehen will. Der Staat überlässt es den sach-, berufs- und völkermäßigen Korporationen, ihre Gerichte, ihre Schulen, ihre Kirchen und so weiter zu errichten, und er überlässt es dem einzelnen, sich seine Schule, seine Kirche, seinen Richter zu bestimmen. Natürlich nicht etwa von Fall zu Fall, sondern auf eine gewisse Zeit. Im Anfange wird dies wohl durch die territorialen Grenzen beschränkt werden müssen, doch trägt es die Möglichkeit in sich, auf friedlichem Wege die nationalen Gegensätze – auch andere – auszugleichen.«
(GA 24, S. 351-354)
Unterschiedliche Darstellungen Steiners aus den Jahren 1917 und 1918, die nicht unmittelbar mit der »Dreigliederung des sozialen Organismus« zu tun haben, wirft Zander in einen Topf, und wundert sich, dass sich aus dem Vergleich des nicht Vergleichbaren ein »Verschiebebahnhof mit umetikettierbaren Containern« ergibt. Dieser Verschiebebahnhof wird aber erst dadurch erzeugt, dass Zander Analogien oder Homologien in Ausführungen Steiner hineinprojiziert, die offensichtlich nicht als solche intendiert waren. Dekontextualisierung durch falsche Kontextualisierung.
Auf S. 1295 schreibt Zander:
»Am 14. November 1917 beschrieb er in einem Exkurs ›drei soziale Lebensgebiete‹, das ›ökonomische‹ und das ›unbewußte‹ ›moralische‹ Gebiet sowie das Rechtsleben (GA 73,196.200.202). Inhaltlich waren die Begriffe kaum gefüllt, und die ›unbewußte‹ Moralität war fast das Gegenteil des späteren kognitiven ›Geisteslebens‹ ...
Erst nach einer einjährigen Abstinenz bot Steiner am 24. November 1918 wieder Überlegungen zu einer ›Dreigliederung‹ an, möglicherweise fiel hier der Begriff in einer politischen Verwendung zum ersten Mal (GA 185a,218).
...
Im Vergleich mit den Äußerungen vom 14. November 1917 ist die Dreiteilung nur formal stabil, die Inhalte gleichen umetikettierbaren Containern auf einem Verschiebebahnhof.«
Zander vergleicht drei Vorträge miteinander, von denen erst der dritte explizit auf die soziale Dreigliederung Bezug nimmt.
Steiner schildert in seinem Vortrag vom 14. November 1917 zunächst die physiologische Dreigliederung des Menschen und ihren Zusammenhang mit den Seelenkräften des Vorstellens, Fühlen und Wollens. In einem zweiten Schritt stellt er eine Beziehung zwischen den drei Seelenkräften und den höheren Erkenntnisarten Imagination, Inspiration und Intuition her, durch die erst erkennbar wird, was den gewöhnlichen Seelenkräften geistig zugrunde liegt. In einem dritten Schritt schließlich stellt er dar, dass die Imagination erforderlich ist, um das Wirtschaftsleben (die Ökonomie), die Inspiration um die »im weitesten Sinne« moralischen Impulse, die sich in einer Gesamtheit von Menschen ausleben, und die Intuition, um das Rechtsleben zu erkennen.
Auch in seinem Vortrag vom 17. November 1918, der sich mit der »historischen Dreigliederung« befasst, schildert Steiner drei Sphären. Er beschreibt die historische Herausbildung der drei Stände oder Klassen als eine instinktiv entstandene Offenbarung des dreigegliederten Menschen und den Niedergang dieser Ordnung in der Neuzeit. An die Stelle der verloren gegangenen sozialen Ordnung muss eine neue, bewusst gestaltete treten, die zugleich die alte Klassenordnung durchbricht, indem sie jedem Menschen Anteil an den drei gesellschaftlichen Sphären gewährt.
Erst in seinem Vortrag vom 24. November 1918 geht Steiner erstmals konkret und explizit auf eine Dreigliederung des sozialen Organismus ein. Hier unterscheidet er drei Gebiete:
• Sicherheitsdienst nach dem Prinzip der Gleichheit,
• wirtschaftliches Leben nach dem Prinzip der Brüderlichkeit,
• Jurisprudenz, Unterrichtswesen, freies geistiges Leben, religiöses Leben, unter dem Gesichtspunkte der Freiheit, der absoluten Freiheit.
Zusammenfassend:
14.11.1917
• Vorstellungsleben – Imagination – Wirtschaftsleben (Ökonomie);
• Atem-Blutkreislauf – Inspiration – allgemein-menschliche Aspirationen (moralische Impulse);
• Stoffwechsel – Intuition – Rechtsleben.
17.11.1918
• Adel – Vereinseitigung des Brustmenschen – Grundlage des Studiums der Ökonomie;
• Bourgeoisie – Vereinseitigung des Kopfmenschen – Grundlage der Gesellschaftswissenschaft;
• Proletariat – Vereinseitigung des Stoffwechselmenschen – geschichtliche Auffassung des Menschen.
24.11.1918:
• Sicherheitsdienst nach dem Prinzip der Gleichheit,
• wirtschaftliches Leben nach dem Prinzip der Brüderlichkeit,
• Jurisprudenz, Unterrichtswesen, freies geistiges Leben, religiöses Leben, unter dem Gesichtspunkte der Freiheit, der absoluten Freiheit.
Die Wortlaute im Kontext:
14. November 1917, GA 73
»Ich habe das letzte Mal und heute andeutungsweise darauf hingewiesen, wie dieses Geistig-Seelische zusammenhängt: als Vorstellungsleben mit dem Nervenleben, als Gefühlsleben mit dem Atmungsrhythmusleben, als Willensleben mit dem Stoffwechselleben
...
So wie das Vorstellungsleben auf der einen Seite seinen leiblichen Grund und Boden in dem Nervenleben hat, so hängt das Vorstellungsleben nach der anderen, nach der geistigen Seite, mit einer Welt zusammen, zu der es gehört. Aber diese Welt, mit welcher das Vorstellungsleben nach der geistigen Seite zusammenhängt, kann man nur erkennen durch das schauende Bewusstsein, und zwar durch die erste Stufe dieses schauenden Bewusstseins, durch dasjenige, was ich das imaginative Erkennen, das imaginative Schauen genannt habe, das aus der Seele selbst herausgeholt wird, wie ein geistiges Auge aufgeht
...
Ich fahre nun fort in der Schilderung des Menschen, wie er sich in den sozialen Lebenszusammenhang hineinzustellen hat: Das Gefühlsleben – jetzt nicht das Vorstellungsleben, sondern das Gefühlsleben des Menschen – hat auf der einen Seite, wie ich schon ausgeführt habe, sein leibliches Gegenstück in dem Atmungsrhythmus, auf der anderen Seite aber hat es seine Beziehung zu geistigen Inhalten. Was auf der geistigen Seite dem Gefühlsleben entspricht, wie auf der leiblichen Seite das Atmungsrhythmusleben, das kann als ein geistiger Inhalt, als Inhalt von geistigen Wesenheiten, geistigen Kräften, nur mit dem durchdrungen werden, was ich in diesen Vorträgen das inspirierte Bewusstsein genannt habe.
Mit diesem inspirierten Bewusstsein aber kommt man nicht bloß zu einem geistigen Inhalte, der unser Dasein erfüllt zwischen Geburt, oder sagen wir Empfängnis und Tod; sondern da kommt man zu der Anschauung desjenigen, was durch Geburt und Tod hindurchgeht, was zu tun hat mit unserem Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, des Wesens also, das auch dann lebt, wenn der Mensch diesen physischen Leib nicht mehr trägt.
...
Und als drittes muss geltend gemacht werden, dass das Willensleben des Menschen auf der einen Seite eigentlich zu der niedersten Betätigung des menschlichen Organismus in Beziehung steht zu dem Stoffwechsel, zu dem, was im weitesten Umfange in Hunger und Durst sich ausdrückt, auf der anderen Seite aber geistig zu der höchsten geistigen Welt, zu der intuitiven Welt, wie ich sie hier in diesen Vorträgen schon öfter erwähnt habe. So dass in der Tat eine völlige Umkehrung der Verhältnisse stattfindet.
Das Vorstellungsleben steht zunächst unterbewusst mit der imaginativen Welt in Berührung, mit dem Nervenleben nach der anderen Seite. In einer Welt, die über unser persönliches leibliches Leben als unser Wesenskern hinausragt, steht das Gefühlsleben drinnen nach der geistigen Seite hin. Und das Willensleben, das seinen leiblichen Ausdruck immer, wenn ein Willensimpuls stattfindet, in irgendeinem Stoffwechselvorgang findet, das sich also in den niedersten Vorgängen des Organismus ausdrückt, steht nach der geistigen Seite im Zusammenhange mit der höchsten geistigen Welt, der intuitiven Welt.
Und auf diesem Gebiet erst kann erforscht werden, was man wiederholte Erdenleben nennt. Was aus einem Erdenleben in das andere hinüberspielt, das ist kein Impuls, der erfasst werden kann durch Imagination, geschweige denn durch gewöhnliches Bewusstsein, nicht einmal mit dem inspirierten Bewusstsein, sondern erst mit dem intuitiven Bewusstsein. In unser Leben spielen die Impulse herein aus früheren Erdenleben. Aus diesem Leben spielen die Impulse in spätere Erdenleben. Was dieser Forschung allein das Gepräge geben kann, das ist der erweckte Sinn für wirkliche, nicht bloß für verschwommene Intuitionen, von denen man im gewöhnlichen Leben spricht.
...
Dieser volle Mensch nun – nicht ein abstrakter Mensch, der von der Naturwissenschaft oder den Naturwissenschaftlern hineingestellt wird in einen leeren, abstrakten, nicht von der vollen Wirklichkeit erfüllten Vorstellungszusammenhang –, dieser volle Mensch steht in dem sozialen Lebenszusammenhang ...
Und drei Gebiete treten einem zunächst entgegen in den sozialen Gemeinschaften, welche ihre Beleuchtung finden müssen durch die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft ...
Drei soziale Lebensgebiete treten einem entgegen. Das erste soziale Lebensgebiet, das dem Menschen entgegentritt und auf das das Anwendung findet, was ich eben charakterisiert habe, das ist das ökonomische Gebiet ...
In diesem ökonomischen Leben herrschen schon ganz andere Impulse als in der Natur, als selbst in der menschlichen Naturgrundlage. In der menschlichen Naturgrundlage liegen der Betrachtung zum Beispiel die Bedürfnisfragen zugrunde. In der äußeren ökonomischen Ordnung liegen die Befriedigungsfragen zugrunde. Habe ich ein soziales Gemeinwesen mit seiner ökonomischen Struktur wirklich zu erkennen, so habe ich zu erkennen, wie nach der geographischen und sonstigen Beschaffenheit für menschliche Verhältnisse befriedigende Mittel da sind. Von der Bedürfnisfrage geht man aus, wenn man den Menschen individuell betrachtet. Gerade aber von der entgegengesetzten Seite muss man ausgehen, wenn man die ökonomische Struktur betrachtet. Da hat man nicht zu betrachten, wessen Menschen bedürfen, sondern was da ist für Menschen auf einem bestimmten Gebiete, wenn sich ein Gemeinschaftsleben entwickelt. Das ist nur eine Andeutung. Vieles müsste gesagt werden, wenn nun die ökonomische Struktur in ihrer Gesamtheit besprochen werden sollte. Allein, was da eigentlich der Organismus der ökonomischen Struktur eines Staates oder eines Gemeinwesens ist, das kann nicht beherrscht werden mit den Begriffen, die der gewöhnlichen Naturwissenschaft entlehnt sind...
Ökonomische Strukturen durchschaut man nicht mit naturwissenschaftlichen – sei es am Darwinismus, sei es am Newtonismus gewonnenen – Begriffen, die nur auf Naturfakten gehen können. Sondern da muss man zu anderen Begriffen fortschreiten.
Und diese kann ich nur so charakterisieren, dass ich sage, zugrunde liegen muss diesen Begriffen, wenn auch nicht vielleicht ein deutliches Vorstellen, so doch ein Gefühl des Sich-Hineinversenkens in die soziale Struktur, so dass auftauchen Vorstellungen, die dem imaginativen Leben angehören. Nur mit Hilfe von imaginativen Vorstellungen kann ein Bild geschaffen werden einer konkreten sozialen Struktur, die irgendwo auftritt. Sonst kommt man zu wesenlosen, zu wertlosen Abstraktionen.
...
Ein zweites Gebiet des sozialen Lebens ist das moralische, die moralische Struktur, der moralische Impuls, der sich in einer Gesamtheit auslebt. Wieder taucht man hinunter in alle möglichen unbewussten Gebiete, wenn man jene Impulse erforschen will, die in den menschlichen moralischen – im weitesten Sinne moralischen – Aspirationen zutage treten. Wer da eingreifen will, sei es als Staatsmann, sei es als Parlamentarier, sei es auch, indem er irgendeinem Unternehmen vorsteht und leitend sein will, versteht die Struktur nur, wenn er sie beherrschen kann mit Begriffen, die in inspirierten Erkenntnissen wenigstens ihre Grundlage haben ...
Es ist also mehr notwendig, als man heute oftmals glaubt, um in dieses Soziale insofern einzugreifen, als moralische Impulse mitspielen. Diese moralischen Impulse müssen wahrhaft ebenso aus der Wirklichkeit heraus studiert werden, wie die Impulse des organischen Lebens nicht erfunden werden können, sondern studiert werden müssen aus dem Organismus selbst heraus. Würde man in einer ähnlichen Weise über die Löwennatur, über die Katzennatur, meinetwillen die Igelnatur, aus dem menschlichen Geistesleben heraus Begriffe spinnen, wie man Begriffe spinnt, indem man heute den Marxismus oder andere sozialistische Theorien ausdenkt, ohne die Natur in Wirklichkeit zu studieren, würde man in solcher Weise rein a priori über die tierische Natur Begriffe konstruieren, so würde man auf sonderbare Theorien über die tierische Organisation kommen.
Das Wesentliche ist, dass in seiner vollen Konkretheit der soziale Organismus auch da studiert werden muss, wo moralische Kräfte im weitesten Sinne walten. Auch die Bedürfniskräfte, die der Mensch geltend macht – sie sind immer auch im weiteren Sinn moralische Kräfte –, können nur gemeistert werden, wenn man in seiner Konkretheit den sozialen Organismus aus solchen, wenn auch dunklen Vorstellungen heraus erforscht, welche in der inspirierten Welt wurzeln. Wie weit ist man heute entfernt von einer solchen Vorstellungsweise!
Geisteswissenschaft kommt dazu, im einzelnen wirklich zu studieren, worinnen die Impulse der Bevölkerung Mitteleuropas, der Bevölkerung Westeuropas, Osteuropas bestehen. Sie kommt dazu, im Konkreten zu sehen, wie die verschiedenen Seelenimpulse, die aus dem sozialen Organismus heraufsteigen, ebenso begründete konkrete Impulse sind wie die Impulse, die aus dem physischen Organismus heraufsteigen. Sie lernt erkennen, dass auch das Zusammenleben der Völker mit diesen aus der Tiefe heraus studierbaren Impulsen zusammenhängt. Geisteswissenschaft findet eine ganz andere Seelenstruktur als im Westen bei dem Menschen des europäischen Ostens und weiß, wie sich eine solche Struktur im ganzen europäischen Leben einleben muss. Ich kann darauf aufmerksam machen, dass ich seit Jahrzehnten über die verschiedenen Seelenstrukturen gesprochen habe, die dem sozialen Leben Europas zugrunde liegen, rein aus geisteswissenschaftlichen Vorstellungen heraus; aber das, was so gefunden wurde, wird bestätigt durch das, was empirische Kenner sagen, die in dem konkreten Leben drinnenstehen. Lesen Sie in der gestrigen und heutigen ›Neuen Zürcher Zeitung‹, was als Dostojewskische Anschauungen über die russische Volksseele, über die russischen Ideale gesagt wird, und Sie haben da – was ich nur anführen kann, die Zeit reicht nicht aus, im einzelnen zu schildern – einen vollständigen Beleg: die äußere Beobachtung eines Resultates im eminentesten Sinne desjenigen, was durch Geisteswissenschaft seit Jahren vertreten wird.
...
Und weiter: ein drittes Gebiet, das uns im sozialen Leben entgegentritt, ist dasjenige, das wir das Rechtsleben benennen. Aus ökonomischem, moralischem und Rechtsleben besteht im wesentlichen die soziale Struktur einer Gesamtheit. Nur muss man diese Begriffe alle im geistigen Sinne nehmen. So wie das ökonomische Leben nur wirklich studiert werden kann, wenn die imaginativen Vorstellungen zugrunde gelegt werden, das moralische, in dem, was es wirklich enthält, nur, wenn die inspirierten Vorstellungen zugrunde gelegt werden, so kann das Rechtsleben nur mit intuitiven Vorstellungen, die wiederum aus der vollen konkreten Wirklichkeit heraus gewonnen werden, begriffen werden.«
17. November 1918, GA 185a
»Aus der Urweisheit heraus, die auf atavistische Art, wie ich es Ihnen öfter auseinandergesetzt habe, von der Menschheit erworben worden ist, in vollbewusster Art aber wiederum errungen werden muss vom Zeitalter der Bewusstseinsseele, aus dieser Urweisheit heraus hat Plato den Menschen dreigegliedert. Das sieht man heute als etwas Kindliches an. Das ist aber aus einer sehr tiefen Weisheit heraus, aus einer Weisheit, die wahrlich tiefer ist als dasjenige, was heute über den Menschen, sei es von Naturwissenschaft, sei es von Nationalökonomie oder von anderen Wissenschaften an unseren Universitäten gelehrt wird.
Plato hat den Menschen dreigeteilt. Wir gliedern heute etwas anders, aber man hat ein Bewusstsein dieser Dreiteilung noch bis in das achtzehnte Jahrhundert hinein gehabt. Dann ist es erst ganz verlorengegangen. Und die Menschen des neunzehnten Jahrhunderts, diese so gescheiten, so aufgeklärten Menschen haben über diese Dreiteilung in ihrer konkreten Form nur gelacht, lachen bis heute. Plato teilte den Menschen, den man verstehen muss, wenn man die gesellschaftliche Struktur verstehen will, zunächst in den Menschen, welcher die Weisheit entfaltet, Erkenntnis, Wissen, den logischen Teil der Seele, dasjenige, was wir an den Kopf-Organismus knüpfen, als sein Wissen an seinen Sinnes- und Nerven-Organismus knüpfen. Plato unterschied dann den sogenannten tatkräftigen, zornmütigen Teil der Seele, den irasziblen, den mutigen, tapferen Teil der Seele, alles dasjenige, was wir an das rhythmische Leben knüpfen. Sie brauchen nur in meinem Buch ›Von Seelenrätseln‹ nachzulesen. Dann unterschied er den Begierdemenschen, den Menschen, insoferne er Quell des Begehrungsvermögens ist, alles das, was wir jetzt in viel vollkommenerer Form kennen; das konnte Plato knüpfen physisch an den Stoffwechsel, spirituell an die Intuition, so wie wir sie meinen in unserer Dreigliederung des höheren Erkenntnisvermögens: Imagination, Inspiration, Intuition. Man kann nicht verstehen, was in der gesellschaftlichen Struktur der Menschheit vorgeht und wie sich die gesellschaftlichen Strukturen ausleben, wenn man den Menschen nicht selbst kennenlernt nach dieser seiner dreigliedrigen Beschaffenheit. Denn der Mensch ist ja nicht so in der Welt, in der er als Angehöriger des physischen Planes ist, dass er diese drei Glieder auch in bezug auf ihre inneren, intimen Gestaltungen und Eigenschaften gleichmäßig ausbildet, sondern er bildet sie in verschiedener Art aus; der eine bildet den einen Teil mehr aus, der andere bildet den anderen Teil mehr aus. Und auf der verschiedenartigen Ausbildung der Teile beruht namentlich die Heranbildung der Klassen, wie sie sich im Laufe der Entwickelung der europäischen Menschheit mit ihrem amerikanischen Anhang ergeben hat.
Man kann sagen: Der Teil, der hauptsächlich das rhythmische Leben ins Auge fasste, der Erziehung, Zusammenleben, soziale Anschauung so einrichtete, dass das rhythmische Leben dabei dasjenige war, was man vorzugsweise als das Menschliche fühlte, das ist der Stand oder die Klasse, die sich als der alte Adelsstand herausgebildet hat. Wenn Sie sich denken eine gesellschaftliche Struktur, entstanden dadurch, dass Menschen hauptsächlich sich fühlten als Brustmenschen, dann haben Sie dasjenige, was die Gruppe des Adels, der Adelsklasse ausmacht.
Wenn Sie sich denken diejenigen Menschen, welche vorzugsweise die Kopfkräfte, den weisen Teil ausbilden jetzt sage ich auch einmal etwas, was vielleicht versöhnen kann mit mancherlei, was ich gesagt habe —, diejenigen Menschen, die in der Klasse zusammengeschlossen waren, die vorzugsweise den weisen Teil ausbildet, den Kopf, den Sinnes- und Nerventeil, so ist das diejenige Gruppe, die sich allmählich zusammengeschlossen hat im Bürgerstande, in der Bourgeoisie.
Diejenigen Menschen, die ja heute die weitaus zahllosesten bilden, die sich vorzugsweise zusammengeschlossen haben in alledem — Sie wissen aber, die Intuition hängt geistig mit dem Stoffwechsel zusammen –, das seinen Quell im Wollen, im Stoffwechsel hat, das ist das Proletariat. So dass tatsächlich die Menschen sozial so gegliedert sind, wie der Mensch im einzelnen gegliedert ist.
Nun muss man allerdings die besondere Natur des menschlichen Zusammenschlusses erkennen. Und in dieser Beziehung ist geradezu für das Bewusstsein, für die Vorstellungsgewinnung der Menschen noch alles zu tun, denn in bezug auf das, was ich jetzt meine, hat gerade die moderne Menschheit die allerverkehrtesten Vorstellungen. Diese moderne Menschheit hat es ja sogar dahin gebracht, sich vorzustellen, dass der Mensch als einzelnes Wesen weniger vollkommen ist denn als Staatstier, dass der Mensch etwas gewinne dadurch, dass er Glied eines Staatswesens wird, und es wird sehr schwer werden, in die Köpfe die Vorstellung hineinzubringen, dass der Mensch dadurch, dass er sich in einen staatlichen Organismus hineingliedert, nichts gewinne, sondern verliert. So verliert er auch, indem er sich in Stände hineingliedert, in Klassen hineingliedert. Dasjenige, was der Mensch im einzelnen entwickelt, das wird dadurch, dass es in der sozialen Struktur in der Mehrheit lebt, nicht etwa gefördert, sondern es wird abgelähmt, es wird unterdrückt.
So unterdrücken die Traditionen, die Vorstellungen der Adelskaste die urindividuellen Kräfte des Brustmenschen. Also nicht, dass sie sie fördern, sondern sie unterdrücken sie, sie lähmen sie zurück. Darauf kommt es an. Es kommt darauf an, einzusehen, dass zwar in der Gruppe der adeligen Menschen diejenigen Menschen vereinigt sind, deren Seelen bei einer Verkörperung vorzugsweise hintendieren nach dem Brustmenschen, dass aber die äußere Vereinigung auf dem physischen Plan ablähmt dasjenige, was aus dem Brustmenschen herauskommen würde. Es würde zu weit führen, wenn ich Ihnen das im einzelnen zeigen würde. Aber nehmen Sie nur einmal an, dass zum Beispiel das, was Ehrgefühl ist, sich auf ganz individuelle Weise aus dem Brustmenschen heraus entwickelt; der äußere Ehrbegriff aber, der ist gerade dazu da, das Äußere zu schaffen, damit das Innere schlafen kann. Alle Zusammenfügung ist eigentlich dazu da, auf äußerliche Weise etwas zu konstituieren, damit das Innerliche, Ursprüngliche, Elementare schlafen kann. Ich brauche nicht wiederum an Roseggers Ausspruch, den ich ja schon oft angeführt habe, zu erinnern: ›Oaner is a Mensch, Mehre san Leit und Vüle san Viecher‹. Der Mensch ist tatsächlich dasjenige, was er ist, aus den elementaren Kräften heraus als Individualität. Das versuchte ich auch in wissenschaftlicher Grundlegung zu zeigen in meiner ›Philosophie der Freiheit‹.
Alles dasjenige nun, wonach das moderne Proletariat strebt, das ist nicht geeignet, das, was in ihm gerade elementar wirkt, zur Vollendung zu bringen, sondern es geradezu zu unterdrücken, es in den Hintergrund zu drängen, abzulähmen. Und heute ist die Zeit, wo man so etwas einsehen muss, wo man nur weiterkommt, wenn man die Dinge durchschaut. Denn die instinktiven Kräfte das habe ich öfter ausgeführt —, die wirken nicht mehr. Und die Bourgeoisie – jetzt kommt die Kehrseite der Sache –, die ist in ihrem Zusammenschlüsse hauptsächlich dagewesen, um herabzulähmen die Weisheit. Die Menschen haben sich schon zusammengefunden in der Bourgeoisie, deren Seelen hineingestrebt haben, um den Kopfmenschen auszubilden; aber namentlich die sogenannte Wissenschaftlichkeit der sozialen Bourgeoisie, die hat eine solche Struktur bewirkt, dass der Kopfmensch möglichst kopflos geworden ist. Und er erweist sich ja immer mehr und mehr gegenüber dem Anstürmen der neueren Zeit als ein recht kopfloses Wesen.
Nun, auf der einen Seite hat sich in ausgesprochener Weise, in signifikanter Art herausgebildet diese menschliche Gliederung. Aber man hatte den Verständnisanschluss versäumt; man konnte nicht mehr sich Vorstellungen bilden über die Art, wie man unter den Menschen lebt, denn man hatte verloren das Verständnis für den dreigliedrigen Menschen.
Es würde zum Beispiel notwendig sein und so etwas würde auch geschehen müssen, bevor man daran gehen kann, eine neue soziale Ordnung zu begründen irgendwo oder irgendwann –, es wird zum Beispiel notwendig sein, alles das, was zusammenhängt mit dem Impulse des Brustmenschen, zu studieren. Und erst, wenn man das wirklich studiert, nicht so, wie es sich die Theosophen denken, sondern so, wie es der Wirklichkeit entspricht, erst dann bekommt man eine wahrhafte Wissenschaft von der Art, wie Arbeit, Erträgnis der Arbeit, Lohn, Rente, Kapital, Produktionsmittel und so weiter in der Welt angeordnet werden müssen unter den instinktiven Forderungen der neueren Zeit. So weit wie möglich entfernt ist dasjenige, was man offiziell Nationalökonomie nennt, die eigentlich nur ein Spiel mit Begriffen und Worten ist und die hoffentlich recht bald verschwinden wird vom wissenschaftlichen Schauplatz, so weit entfernt als möglich ist das von dem, was herauskommt, wenn man wirklich den Menschen studiert als Brustmenschen, wo dann herauskommt, was mit Bezug auf die Verteilung der Arbeit, der Produktionsmittel, des Grundes und Bodens und so weiter, als Forderung in der Menschheitsentwickelung verlangt werden muss.
Ebenso muss studiert werden dasjenige, was mit dem Kopfmenschen, mit dem Sinnes- und Nervenmenschen zusammenhängt im weitesten Umfange, wiederum nicht so abstrakt, wie es sich die Theosophen vorstellen, sondern es muss in aller Konkretheit studiert werden, was der Mensch ist in der Sinneswelt als ein geistiges, als ein spirituelles Geschöpf mit anderen Menschen zusammen in der Gesellschaft, mit anderen Menschen zusammen in irgendeiner, sei es staatlichen oder sonstigen Struktur. Es muss aus der Beschaffenheit des Nerven- und Sinnesmenschen studiert werden. Das Studium des Nerven- und Sinnesmenschen gibt eine wirkliche Gesellschaftswissenschaft. Und endlich das Studium des Stoffwechselmenschen, der mit der Intuition zusammenhängt, das gibt erst eine wirkliche Anschauung über die Entwickelung, über das Werden des Menschen, das gibt erst eine geschichtliche Auffassung der Menschheitsentwickelung.
Nun werden Sie leicht verstehen, dass man weder eine geschichtliche Auffassung der Menschheitsentwickelung haben konnte, ohne den mikrokosmischen Menschen wirklich zu verstehen, noch auch eine wirkliche Anschauung über die Verteilung der wirtschaftlichen Werte, weil man den Brustmenschen nicht studiert; noch konnte man verstehen, wie der einzelne individuelle Mensch in der menschlichen Gesellschaft drinnensteht, weil man den Kopfmenschen, eben den Sinnes- und Nervenmenschen, in seiner Wirklichkeit, in seinem ganzen Zusammenhange mit dem Kosmos und seiner geschichtlichen Entwickelung nicht studiert; denn man hatte alle diese Dinge eigentlich aus dem Auge verloren. Man hat sich seit Jahrhunderten keine Vorstellung mehr über diese Dinge gemacht oder hat nur gelacht über diese Dinge. Daher ist vor allen Dingen in den Vorstellungen und dann auch in der Wirklichkeit das Chaos gekommen.
Nun entstanden aus derjenigen Menschenklasse, welche sozusagen durch das moderne Leben, das sich nun nicht richtete nach den zurückgebliebenen Vorstellungen, sondern das weiterging, aus jener Klasse, welche geradezu durch das moderne Leben herausgebildet worden ist, da entstanden Forderungen. Das moderne Proletariat ist aus dem modernen Maschinenwesen, Industriewesen, aus der Mechanisierung der Welt heraus entstanden. Daraus entwickelten sich die Forderungen, weil dieses moderne Proletariat in Gegensatz trat zu denjenigen, die die Maschinen als Produktionsmittel besorgen konnten.
Sehen Sie, die Impulse zur Weltanschauung dieses Proletariats kamen aus dem Stoffwechselmenschen. Aber natürlich steht der Mensch mit den anderen Gliedern in Berührung. Dadurch bildeten sich von da ausgehend Ansichten über dasjenige, was auch aus den anderen Gliedern Impulse des dreigliedrigen Menschen ausstrahlte; es bildeten sich Ansichten, die eine Notwendigkeit waren auf der Grundlage der proletarischen Menschenkaste. Es bildeten sich Anschauungen mit Hilfe dessen, was das Bürgertum als Wissenschaft begründet hatte. Denn die Proletarier hatten ja nur die Wissenschaft von den vier oder, was weiß ich, sechs Fakultäten, zu denen sie jetzt angewachsen sind, die das Bürgertum geschaffen hat, geerbt. Mit der rein bürgerlichen Wissenschaft versuchten die Proletarier allmählich sich Vorstellungen zu machen in dem Zeitalter der Bewusstseinsseele über dasjenige, worinnen sie lebten als in der sozialen Struktur. Das konnte natürlich nicht genügen. Aus all den scharfsinnigen und sonstigen Grundlagen heraus, aber wiederum, weil er eben ein Kind seiner Zeit war und gar nichts ahnte von dem Vorhandensein einer Geisteswissenschaft, wie wir sie denken, schuf gerade als Ausdruck dessen, was die Instinkte des Proletariats elementar aus sich selbst heraus entwickeln, eben der gestern erwähnte Karl Marx den Proletariern eine Wissenschaft.
Dieser Karl Marx ist von den Proletariern eben anders behandelt worden, als die sogenannten Größen von der Bourgeoisie in den letzten Jahrhunderten behandelt worden sind. Er ist wirklich eingedrungen in das ganze Denken des Proletariats über die zivilisierte und industrialisierte Erde hin. Er beherrschte die Gedanken der Proletarier, und er hat diese Gedanken ausgebildet zu einer Lehre. Ja, zum ersten Mal eigentlich sind Gedanken Tatsachen geworden, denn die Gedanken der Bourgeoisie sind keine Tatsachen, sind aus Illusionen erwachsen, auch wenn man noch so sehr glaubt, dass sie auf wirklich positiver Wissenschaft fußen. Aber die Gedanken von Karl Marx sind im Proletariat Tatsachen geworden und leben als Tatsachen und wirken sich als Tatsachen aus, so wie sich Tatsachen auswirken, mit allem Widerspruch des Lebens, mit aller Kontradiktion, die im Leben auftritt, mit aller Disharmonie, mit allem Befruchtenden und Zerstörenden und Lähmenden, mit dem das Leben auftritt. In den Instinkten, im Unterbewusstsein der Menschen wirkt mehr, insbesondere in unserem Zeitalter, als in seinem Bewusstsein.
Ins Bewusstsein wurde der dreigliedrige Mensch nicht aufgenommen; aber aus Instinkten, und deshalb ungenügend und die Wirklichkeit zwar befruchtend, Gedanken in Taten umsetzend, aber sie ungenügend in Taten umsetzend, so hat Karl Marx seine Lehre von der ›politischen Ökonomie‹ begründet. Sie drang schon 1848 hervor in dem ›Kommunistischen Manifest‹, von dem ich gestern sprach, dann in seinem Buch von der ›Politischen Ökonomie‹, das 1859 erschien, in dem Jahr, das an allerlei Hervorbringungen so unendlich fruchtbar war, wenigstens am Ende der fünfziger Jahre noch. Es gehört zu dem Verschiedenen, was am Ende der fünfziger Jahre aufgetreten ist, auch dieses Buch über die ›Politische Ökonomie‹ von Karl Marx.«
24. November 1918, 185a
»Einen anderen Richtsatz finden Sie in der angefangenen Abhandlung über ›Theosophie und soziale Frage‹, die ich vor Jahren in ›Lucifer-Gnosis‹ veröffentlicht habe, einen Richtsatz, von dem ich mich überzeugt habe, dass er von den wenigsten Menschen mit dem vollen Gewicht genommen wird. Ich habe da auf etwas aufmerksam zu machen versucht, was als ein soziales Axiom wirken soll.
Darauf habe ich aufmerksam gemacht, dass schon einmal in jeglicher sozialer Struktur nichts Gedeihliches herauskommen kann, wenn das Verhältnis eintritt, dass der Mensch für seine unmittelbare Arbeit entlohnt wird. Soll eine gedeihliche soziale Struktur herauskommen, so darf das nicht sein – lesen Sie den Aufsatz, er wird ja doch noch zu haben sein –, so darf das nicht sein, dass der Mensch bezahlt wird für seine Arbeit.
Die Arbeit gehört der Menschheit, und die Existenzmittel müssen den Menschen auf anderem Wege geschaffen werden als durch Bezahlung seiner Arbeit. Ich möchte sagen, wie ich es schon in jener Abhandlung getan habe: Wenn gerade das Prinzip des Militarismus, aber ohne Staat, übertragen werden würde auf einen gewissen Teil – ich will gleich von diesem Teil sprechen – der sozialen Ordnung, dann würde ungeheuer viel gewonnen werden. Aber zugrunde liegen muss eben die Einsicht, dass gleich Unheil da ist auf sozialem Boden, wenn der Mensch so in der Sozietät drinnensteht, dass er für seine Arbeit, je nachdem er viel oder wenig tut, also nach seiner Arbeit eben, bezahlt wird. Der Mensch muss aus anderer sozialer Struktur heraus seine Existenz haben. Der Soldat bekommt seine Existenzmittel, dann muss er arbeiten; aber er wird nicht unmittelbar für seine Arbeit entlohnt, sondern dafür, dass er als Mensch an einer bestimmten Stelle steht. Darum handelt es sich.
Das ist es, was das notwendigste soziale Prinzip ist, dass das Erträgnis der Arbeit von der Beschaffung der Existenzmittel völlig getrennt wird, wenigstens auf einem gewissen Gebiete des sozialen Zusammenhangs. Solange nicht diese Dinge klar durchschaut werden, solange kommen wir zu nichts Sozialem, solange werden Dilettanten, die manchmal aber Professoren sind, wie Menger, von ›vollem Arbeitsertrag‹ und dergleichen sprechen, was alles Wischiwaschi ist. Denn gerade der Arbeitsertrag muss von der Beschaffung der Existenzmittel in einer gesunden sozialen Ordnung völlig getrennt werden. Der Beamte, wenn er nicht durch den Mangel an Ideen Bureaukrat würde, der Soldat, wenn er nicht durch den Mangel an Ideen Militarist würde, ist in gewisser Beziehung – in gewisser Beziehung, missverstehen Sie mich nicht – das Ideal des sozialen Zusammenhanges. Und kein Ideal des sozialen Zusammenhanges, sondern der Widerpart des sozialen Zusammenhanges ist es, wenn dieser soziale Zusammenhang so ist, dass der Mensch nicht arbeitet für die Gesellschaft, sondern für sich. Das ist die Übertragung des unegoistischen Prinzips auf die soziale Ordnung.
Wer nur in sentimentalem Sinne Egoismus und Altruismus versteht, der versteht eigentlich nichts von den Dingen. Derjenige aber, der praktisch, ohne Sentimentalität, mit reinem gesundem Menschenverstand durchschaut, dass jede Sozietät notwendigerweise zugrunde gehen muss, indem der Mensch nur für sich selber arbeitet also rein das, mit anderen Worten, was in der sozialen Ordnung egoistisch gestaltet ist –, der weiß das Richtige.
Das ist ein Gesetz, so sicher wirksam, wie die Gesetze der Natur wirken, und man muss dieses Gesetz einfach kennen. Man muss einfach die Möglichkeit besitzen, den gesunden Menschenverstand so zu handhaben, dass einem ein solches Gesetz als ein Axiom der sozialen Wissenschaft erscheint. Man ist heute noch weit entfernt davon, so etwas einzusehen. Aber die Gesundung der Verhältnisse hängt doch ganz und gar davon ab, dass geradeso, wie jemand den pythagoräischen Lehrsatz in der Mathematik als etwas Grundlegendes ansieht, er diesen Satz zugrunde legt der sozialen Struktur: Alles Arbeiten in der Gesellschaft muss so sein, dass der Arbeitsertrag der Sozietät zufällt und die Existenzmittel nicht als Arbeitsertrag, sondern durch die soziale Struktur geschaffen werden.
Solche sozialen Axiome gibt es natürlich eine ganze Anzahl, denn das soziale Leben ist natürlich kompliziert. Aber wir stehen heute einmal vor der Notwendigkeit, auf irgendeine Weise daran zu denken, wie die soziale Struktur der menschlichen Entwickelung in gesunde Bahnen gebracht werden soll. Da muss man vor allen Dingen einen gesunden Blick haben für die Partien, für die Teile, für die Glieder des sozialen Lebens. Man muss in gesunder Weise auseinanderhalten können die verschiedenen Glieder des sozialen Lebens. Sehen Sie, bei all den Dingen, um die es sich heute handelt, kommt es nicht so sehr darauf an, dass man auf die Schlagworte hört, die, sei es von bolschewistischer, sei es von der Entente-Seite her kommen, denn das sind ja heute fast Gegensätze, nicht wahr, sondern darauf kommt es an, dass man einsieht, was der Menschheit nottut, dass man ein gesundes Urteil für die Gliederung des sozialen Lebens sich aneignet. Natürlich, soziales Leben muss da sein. Und gerade, weil soziales Leben da sein muss, deshalb hängen die Menschen so sehr an der mongolischen nun, verzeihen Sie, es ist ja nur symptomatisch gemeint –, an der mongolischen Staatsidee, an der Allmacht des Staates, weil sich die Menschen vorstellen: Was der Staat nicht tut, das kann gar nicht zum Heile der Menschen geschehen.
Es ist übrigens diese Ansicht noch nicht so sehr alt. Denn es war das neunzehnte Jahrhundert schon ziemlich weit herangerückt, da hat ein einsichtiger Mann die schöne Abhandlung geschrieben: ›Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen.‹ Es war ein preußischer Minister, Wilhelm von Humboldt. Diese Abhandlung lag mir ganz besonders deshalb am Herzen, weil in den neunziger Jahren und noch etwas in das zwanzigste Jahrhundert herein gerade meine ›Philosophie der Freiheit‹ nicht durch meinen Willen, aber durch andere immer unter die Literatur ›individualistischer Anarchismus‹ gestellt wurde. Das erste Werk war immer Wilhelm von Humboldts ›Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen‹, als das letzte Werk war gewöhnlich immer meine ›Philosophie der Freiheit‹, zeitlich angeordnet, eingereiht worden. Nun, Sie sehen, es ist möglich gewesen, registriert zu werden unter ›individualistischer Anarchismus‹, aber immerhin zusammen mit einem preußischen Minister!
Soziale Gestaltung, soziale Struktur muss da sein, aber sie kann nicht uniformiert werden. Sie kann nicht so gemacht werden, dass alles gewissermaßen unter einen Hut gebracht wird. Was heute nottut, was das Wichtige ist, hätte in einer bestimmten Gestalt geschehen können vor langer Zeit schon, hätte auch wahrend dieser Kriegskatastrophe entstehen können, kann auch jetzt entstehen, aber immer modifiziert. Denn Sie müssen nicht vergessen, dass die Welt in den letzten Wochen für Mitteleuropa eine andere geworden ist, und dass das eine auf das andere wirkt. Nun, ich habe mich bemüht die ganzen Jahre her, da oder dort Verständnis zu erwecken für diejenige Form, die zum Beispiel von Mitteleuropa aus wirksam nach Osteuropa denn die Entente ist nicht belehrbar, selbstverständlich, und sollte auch nicht belehrt werden –, die für Mittel- und Osteuropa wirksam sein soll; ich habe mich bemüht, das geltend zu machen.
Da handelt es sich darum, dass man, wenn man so etwas geltend machen will, das Leben, das die Menschen zusammen führen müssen, in der richtigen Weise gliedern muss. Als diese Ideen, nun, sagen wir, Staatsmännern vorgelegt wurden ich kann Ihnen diese Ideen nur kurz skizzieren; dasjenige, um was es sich handelt, ist, dass sie immer mehr individualisiert werden müssen –, als diese Ideen einem Staatsmanne vorgelegt wurden vor einiger Zeit, wo es ohnedies schon ziemlich zu spät war für die damalige Gestalt, die ich diesen Ideen gegeben hatte, da habe ich aber immerhin dem Herrn gesagt: Wenn er irgendwie daran dächte, an diese Ideen heranzutreten, so würde ich natürlich gern bereit sein, auch für die Zeit, die damals die Gegenwart war, sie in entsprechender Weise umzuarbeiten. Heute müssten sie selbstverständlich wiederum für die besonderen Verhältnisse umgearbeitet werden. Da handelt es sich darum, dass man wirklich appellieren muss an den gesunden Menschenverstand, wenn man solche Ideen zunächst gibt. Dann handelt es sich darum, dass jemand einsehen kann, dass das soziale und sonstige menschliche Zusammenleben wirklich richtig gegliedert wird.
Die Frage entsteht als Hauptfrage: Wie muss man unterscheiden in dem, was Menschen als gemeinschaftliches Leben führen? Und da handelt es sich darum, dass man drei Glieder unterscheiden muss. Ohne diese Unterscheidung geht es nicht, und keine Vorwärtsentwickelung von der Gegenwart aus in die nächste Zukunft wird kommen, ohne dass diese dreigliedrige Unterscheidung gemacht wird.
Da handelt es sich darum, dass erstens einmal – es mag die soziale Gruppe, die da vorliegt, so oder so gestaltet sein, klein oder groß sein, darauf kommt es nicht an –, aber dass irgendeine soziale Gruppe so gestaltet sein muss, dass darinnen in bezug auf Sicherheit des Lebens und Sicherheit nach außen Ordnung herrscht. Der Sicherheitsdienst im weitesten Umfange gedacht ich muss solche umfassenden Worte gebrauchen –, das ist das eine Glied. Dieser Sicherheitsdienst ist aber auch das einzige Glied, welches in das Licht der Idee der Gleichheit gelenkt werden kann. Dieser Sicherheitsdienst, alles Polizeilich-Militärische, wenn ich jetzt im alten Sinne sprechen will, der ist auch das einzige, was im Sinne zum Beispiel eines demokratischen Parlamentes behandelt werden kann. Mitbestimmend an diesem Sicherheitsdienst kann jeder Mensch sein. Es muss also ein Parlament geben, wie die soziale Gruppe auch beschaffen ist, in dem Abgeordnete, meinetwillen nach ganz allgemeinem, geheimem, direktem Wahlrecht sein können, welche die Gesetze und alles das zu bilden haben, was für diesen Sicherheitsdienst bestimmt ist. Denn das, dieser Sicherheitsdienst, ist ein Glied der Ordnung, aber er muss abgesondert von dem übrigen behandelt werden und nur von höherem Gesichtspunkte aus dann wiederum harmonisiert werden mit anderem.
Ein zweites, das aber ganz abgesondert werden muss von all dem, was Sicherheitsdienst ist, Sicherheit im Innern und Sicherheit nach außen, was auch nicht nach der Idee der Gleichheit behandelt werden kann, das ist dasjenige, was die eigentliche wirtschaftliche Gestaltung der sozialen Gruppen ist. Diese wirtschaftliche Gestaltung, die darf nicht im unmittelbaren Zusammenhange stehen mit dem, was ich als erstes Glied genannt habe, sondern sie muss für sich behandelt sein. Sie muss ihr eigenes Ministerium, ihr eigenes Volkskommissariat heute sagt man Volkskommissariat haben, das vollständig unabhängig von dem Ministerium, vom Kommissariat des Sicherheitsdienstes sein muss. Sie muss ihr eigenes Ministerium haben, das vollständig unabhängig ist, das nach rein ökonomischen Gesichtspunkten gewählt wird, so dass Leute in diesem ökonomischen Ministerium sind, die etwas von den einzelnen Zweigen verstehen, sowohl als Produzenten wie als Konsumenten. Nach ganz anderen Gesichtspunkten muss sowohl parlamentarisch wie ministeriell dieses zweite Glied der sozialen Ordnung gelenkt werden.
Das erste Glied kann also, sagen wir, in die Demokratie eingestellt werden; wenn es nach dem Geschmack besser ist, könnte es auch in das Konservative eingestellt werden. Das kommt ganz darauf an; wenn es ordentlich gemacht wird, wird es schon etwas werden, und das andere ist Geschmacksache. Dasjenige, worauf es ankommt, ist diese Dreiheit. Denn auf dem Gebiete des wirtschaftlichen Lebens muss Brüderlichkeit herrschen. Geradeso wie alles auf dem Gebiete des Sicherheitsdienstes gerückt werden muss unter den Gesichtspunkt der Gleichheit, so muss auf dem Gebiete des wirtschaftlichen Lebens überall die Maxime der Brüderlichkeit herrschen.
Dann gibt es ein drittes Gebiet, das ist das Gebiet des geistigen Lebens. Zu dem rechne ich alles Religionstreiben, das gar nichts zu tun haben darf mit demjenigen, was Sicherheitsdienst ist und wirtschaftliches Leben; dazu rechne ich allen Unterricht, dazu rechne ich alle übrige freie Geistigkeit, allen wissenschaftlichen Betrieb, und dazu rechne ich auch alle Jurisprudenz. Ohne dass die Jurisprudenz dazu gerechnet wird, ist alles übrige falsch. Sie kommen sogleich zu einer widersinnigen Dreigliederung, wenn Sie nicht so gliedern:
Sicherheitsdienst nach dem Prinzip der Gleichheit,
wirtschaftliches Leben nach dem Prinzip der Brüderlichkeit, die Gebiete, die ich eben aufgezählt habe:
Jurisprudenz, Unterrichtswesen, freies geistiges Leben, religiöses Leben, unter dem Gesichtspunkte der Freiheit, der absoluten Freiheit.
Wiederum muss aus absoluter Freiheit die notwendige Verwaltung dieses dritten Gliedes der gesellschaftlichen Ordnung hervorgehen. Und der notwendige Ausgleich, der kann erst durch den freien Verkehr der diese drei Glieder Leitenden und Bestimmenden gesucht werden. Auf dem Gebiete des geistigen Lebens, zu dem eben die Jurisprudenz gehört, wird sich ja nicht so etwas herausstellen, wenn es wirklich einmal durchgeführt würde, wie ein Ministerium oder Parlament, sondern etwas viel freieres; es wird die Struktur ganz anders verlaufen.
Zu dem, was da angestrebt werden muss, müssen natürlich Übergangsformen sein. Aber das sollte den Menschen einleuchten. Und nicht früher kommen wir zu einer Gesundung, bevor es den Menschen einleuchtet, dass in dieser Weise diese Dreigliederung, von der ich gesprochen habe, zugrunde liegen muss, dass alles so gedacht werden muss, dass man nicht einen uniformierten Staat beibehalten kann. Denn die Staatsidee ist unmittelbar nur anzuwenden auf den ersten Teil, auf den Sicherheits- und Militärdienst. Was unter Staatsomnipotenz gestellt wird außer Sicherheits- und Militärdienst, das steht auf ungesunder Basis, denn das wirtschaftliche Leben muss auf rein, sei es korporativer, sei es auf assoziativer Basis aufgebaut werden, wenn es sich gesund entwickeln will. Und das geistige Leben einschließlich der Jurisprudenz ist nur dann auf gesunder Basis aufgebaut, wenn der einzelne vollständig frei ist.
Er muss frei sein in bezug auf alles andere. Er muss auch, meinetwillen von fünf zu fünf, von zehn zu zehn Jahren seinen Richter bestellen können, der sowohl sein Privat-, wie sein Strafrichter ist. Ohne das geht es nicht, ohne das kommen Sie zu keiner entsprechenden Struktur.
Diese nationalen Fragen hätten ohne territoriale Verschiebungen gelöst werden können! Das sagt Ihnen ein Mann, der studiert hat an den schwierigen österreichischen Verhältnissen, wo dreizehn verschiedene Amtssprachen oder wenigstens Gebrauchssprachen sind im amtlichen Verkehre, und der studieren konnte an diesen österreichischen Verhältnissen, was gerade auf dem Gebiete der Jurisprudenz nötig ist.
Nehmen Sie an, es stoßen an irgendeiner Grenze zwei Länder zusammen, meinetwillen seien sie getrennt durch Nationalität oder durch etwas anderes. Hier ist ein Gericht und hier ist ein Gericht, da ist die Grenze hinüber. Der Mann hier bestimmt sich: Ich werde in den nächsten zehn Jahren von diesem Gerichte abgeurteilt –, der andere bestimmt sich: Ich werde von diesem Gerichte abgeurteilt. Die Sache ist absolut durchführbar, wenn man sie im einzelnen durchführt. Aber alle anderen Dinge sind unwirksam, wenn nicht solche Dinge da sind. Denn alles muss in der Tat zusammenwirken. Es wirkt aber nur zusammen, wenn die Dinge so gestellt sind, dass sie mit wirklichem Verständnis desjenigen, was da ist, gemacht werden.«
Angeblich war für Steiner das Thema »Arbeitslosigkeit« peripher. In dem von Zander herangezogenen Zusammenhang spricht aber Steiner gar nicht über Arbeitslosigkeit, sondern über arbeitsloses Einkommen, also Einkommen, das ohne Arbeit – zum Beispiel aus Zinsen – erzielt wird. Zander entdeckt in Steiners Ausführungen seitens Steiners sogar ein Zugeständnis von »Inkompetenz«.
Auf S. 1307 schreibt Zander:
»Auch das Problem der Arbeitslosigkeit blieb peripher. Aufgrund seiner Trennung von Arbeit und Einkommen musste Steiner auch dem Arbeitslosen eine auf seine individuellen Bedürfnisse bezogene Mittelzuweisung anbieten, dies jedenfalls scheint er in Beantwortung einer Frage zu tun (GA 332a,210 f.). Aber eine tragfähige Antwort fehlte, und Steiner spürte wohl in seiner angefügten Bemerkung seinen Mangel an Kompetenz: ›Also es ist der wirtschaftliche Prozess ein viel zu komplizierter, als dass man ihn mit so einfachen Begriffen sollte umfassen wollen‹ (ebd., 211).«
Ob Steiners Antwort auf die Frage nach Zinsen und »arbeitslosem Einkommen« von Inkompetenz zeugt, mag der Leser beurteilen. Dass aber Zanders Interpretation von Inkompetenz zeugt, dürfte aber keinem Zweifel unterliegen.
»Ich habe – nicht in polemischer Form, aber in aufbauender Form – ja darüber gehandelt in meinem Buche ›Die Kernpunkte der sozialen Frage‹. Mir ist vielfach vorgeworfen worden, dass der Zins nicht ganz geschwunden sei aus dem, was mir als soziale Struktur der menschlichen Gesellschaft vorschwebt. Nun scheint es mir, dass es ehrlicher ist, auf den Boden der Wirklichkeit sich zu stellen und das Mögliche und Notwendige wirklich zu betonen, als auf irgendeinen nebulosen Boden, auf dem man bloß Forderungen aufstellt. Ich habe in meinen ›Kernpunkten der sozialen Frage‹ versucht zu zeigen, dass ja durchaus das Arbeiten mit Kapital notwendig ist. Man kann nicht ohne Kapitalansammlungen große Betriebe schaffen, überhaupt im heutigen Sinne keine Volkswirtschaft zustandebringen. Ob nun dieses Kapital in Geldform gedacht wird oder in anderer Form, das ist ja eine Sache für sich.
Die meisten Menschen begehen, indem sie sich über die soziale Frage hermachen, sehr häufig den Fehler, dass sie nur die Gegenwart gewissermaßen wie einen einzigen Augenblick ins Auge fassen und für diesen einzigen Augenblick nachdenken: Wie ist da das Wirtschaftsleben zu gestalten? – Aber wirtschaften heißt zu gleicher Zeit, mit dem in einem gewissen Zeitpunkt Gewirtschafteten eine Grundlage für das Wirtschaften der Zukunft schaffen. Ohne dass man irgendwie eine Grundlage für die Zukunft schafft, würde man die Kontinuität des Wirtschaftslebens nicht aufrechterhalten können, das Wirtschaftsleben würde immer abreißen. Das begründet aber nicht Zins aus Zinserträgnissen, wohl aber Zinserträgnis, weil die Möglichkeit bestehen muss, dass immer in irgendeinem Zeitpunkt so viel gearbeitet wird, dass aus dieser Arbeit Leistungen entstehen, die auch einer zukünftigen Arbeit wieder dienen können. Das ist nicht zu denken, ohne dass der Betreffende für das, was er für die Zukunft leistet, eine Art von Äquivalent erhält, und das würde eine Art von Zins bedeuten. Ich hätte es auch anders nennen können, wenn ich hätte schmeicheln gewollt denen, die heute wettern über Zins im Einkommen. Aber es schien mir ehrlicher, die Sache so zu benennen, wie sie in der Wirklichkeit ist. Es ist notwendig, dass diejenigen, welche irgend etwas dazu beisteuern – das wird ja der einfachste Ausdruck für komplizierte Vorgänge sein – dazu, dass Kapital angesammelt, verwendet werden kann, dass diese ihre Arbeit, die sie aus der Vergangenheit, aus der Gegenwart her in die Zukunft leisten, auf diese Weise in die Zukunft vergütet erhalten. Zins in der Form, wie ich es schildere in meinen ›Kernpunkten der sozialen Frage‹, ist nichts anderes als Vergütung desjenigen, was in der Gegenwart geleistet worden ist, für die Zukunft.
Nun, bei solchen Dingen kommt aber natürlich immer in Betracht, was sonst im sozialen Organismus als ein notwendiges Glied mitenthalten ist. Es kommt beim Menschen zum Beispiel darauf an, dass er alle seine Glieder hat, denn sie wirken alle zusammen. So kann man ein Glied auch nur verstehen aus dem gesamten Menschen heraus. So ist es auch im sozialen Organismus, dass man das Einzelne nur aus dem Ganzen verstehen kann. Wenn Sie sich an das erinnern können, was ich mit Bezug darauf auseinandergesetzt habe, wie aufzufassen ist das Verhältnis des Bearbeitens von Produktionsmitteln, so werden Sie sehen, dass es sich dabei darum handelt, dass Produktionsmittel nur so lange etwas kosten, nur so lange verkäuflich sind, als sie nicht fertig sind. Sind sie fertig, bleiben sie allerdings bei dem, der die Fähigkeit hat, sie fertigzubringen; dann aber gehen sie durch rechtliche Verhältnisse über, sind also nicht mehr verkäuflich. Dadurch wird auch für das Geldvermögen eine ganz bestimmte Wirkung herauskommen. Es kommt nicht darauf an, dass man Gesetze macht, das Geld solle keine Zinsen tragen, sondern es kommt darauf an, dass Ergebnisse herauskommen, die dem sozialen Organismus entsprechen.
Dadurch wird das, was als Geldvermögen existiert, einen ähnlichen Charakter bekommen wie andere Güter. Andere Güter unterscheiden sich heute vom Gelde dadurch, dass sie zugrunde gehen oder verbraucht werden; das Geld aber braucht nicht zugrunde zu gehen. Über längere Zeiträume geht es ja auch zugrunde, aber in kürzeren Zeiträumen nicht. Daher glauben manche Leute, auch in längeren Zeiträumen halte es sich.
Es hat sogar Menschen gegeben, die haben Testamente gemacht, dass sie Irgendeiner Stadt das oder jenes vermacht haben. Dann haben sie ausgerechnet, wieviel das nach ein paar Jahrhunderten ist. Das sind so große Summen, dass man dann damit die Staatsschulden eines sehr stark verschuldeten Staates zahlen könnte. Aber der Witz ist nur der, dass es dann nicht mehr da ist, weil es unmöglich ist, über so lange Zeiten das Geld in der Verzinsung zu erhalten. Dafür aber ist die regelrechte Verzinsung für kürzere Zeit aufrechtzuerhalten. Aber wenn im volkswirtschaftlichen Prozess das einträte, dass tatsächlich Produktionsmittel nichts mehr kosten, wenn sie da sind, Grund und Boden tatsächlich Rechtsobjekte werden – nicht ein Kaufobjekt, nicht ein Wirtschafts-Zirkulationsobjekt –, dann tritt für das Geldvermögen ein, dass es, ich habe es öfter ausgedrückt, nach einer bestimmten Zeit anfängt einen üblen Geruch zu haben, wie Speisen, die verdorben sind und einen üblen Geruch haben, nicht mehr brauchbar sind. Einfach durch den wirtschaftlichen Prozess selber stellt es sich heraus, dass Geld seinen Wert verliert nach einem bestimmten Zeitraume, der durchaus nicht etwa ungerecht kurz ist; aber es ist eben so. Dadurch sehen Sie, wie sehr dieser Impuls für den dreigliederigen sozialen Organismus aus den Realitäten heraus gedacht ist. Wenn Sie Gesetze geben, so geben Sie Abstraktionen, durch die Sie die Wirklichkeit beherrschen wollen. Denken Sie über die Wirklichkeit, so wollen Sie die Wirklichkeit so gestalten, dass sich die Dinge so ergeben, wie sie dem tieferen Bewusstsein des Menschen entsprechen.
Ebenso ist in einem solchen Organismus, wie ich ihn denke, durchaus nicht das arbeitslose Einkommen als solches enthalten. Nur muss man über diese Dinge auch klare Begriffe haben. Was ist denn schließlich ein arbeitsloses Einkommen? In diesem Begriff ›arbeitsloses Einkommen‹ steckt ja sehr, sehr viel von Unklarheiten drinnen, und mit unklaren Begriffen kann man wahrhaftig keine Reformen durchführen. Sehen Sie, für denjenigen, der ›Arbeit‹ bloß Holzhacken nennt, für den ist ganz sicher ein arbeitsloses Einkommen dasjenige, was jemand für ein Bild erhält, das er malt, und dergleichen. Es ist nur etwas radikal ausgesprochen, aber so wird oftmals das sogenannte ›arbeitslose Einkommen‹ durchaus beurteilt. Es setzt sich das, was wirtschaftliche Werte begründet, eben aus verschiedenen Faktoren im Leben zusammen. Es setzt sich zusammen erstens aus den Fähigkeiten der Menschen, zweitens aus der Arbeit, drittens aber auch aus Konstellationen, und es ist einer der größten Irrtümer, wenn man gar definiert hat, dass irgendein Gut, das in der wirtschaftlichen Zirkulation ist, nur ›kristallisierte Arbeit‹ sei. Das ist es durchaus nicht. Über Arbeit habe ich mich ja in diesen Vorträgen ausgesprochen. Es kommt also darauf an, dass man überhaupt den Begriff der Arbeit nicht in irgendeiner Weise zusammenbringt, wie er heute vielfach zusammengebracht wird, mit dem Begriff des Einkommens. Sein Einkommen bekommt ja ein Mensch wahrhaftig nicht bloß dafür, dass er isst und trinkt oder sonst irgendwelche leiblichen oder seelischen Bedürfnisse befriedigt, sondern auch dafür, dass er für andere Menschen arbeitet. Also es ist der wirtschaftliche Prozess ein viel zu komplizierter, als dass man ihn mit so einfachen Begriffen sollte umfassen wollen.«
GA 332a (Dornach 1977), S. 208-211