Die wenigen Quellen, die Zander als Belege für die im Jahr 1901 erfolgte Annäherung Steiners an die Theosophische Gesellschaft anführt, werden von ihm gleichzeitig bezweifelt und ausgebeutet. Bei einer Einladung zum  Chrysanthementee am 17. November 1901 soll Marie Steiner ihm eine entscheidende Frage gestellt haben. Spätere Äußerungen Steiners zu diesem »Chrysanthementee«, in denen er die Bedeutung dieser Frage hervorhob, seien laut Zander Steiners Bemühen geschuldet, seine Distanz von der Theosophischen Gesellschaft zu unterstreichen.

Auf S. S. 553 heißt es bei Zander:

»Am 17. November lud die russische Theosophin Nina Gernet während einer Teegesellschaft anlässlich der Gründung der Theosophischen Gesellschaft Steiner ein, Mitglied der Gesellschaft zu werden, doch habe er – so Steiner 1911 – die ›orientalisierende Mystik‹ der Theosophie kritisiert und eine Weltanschauung für das ›Abendland‹ gefordert (GA 264,406). Dies hätte, wenn die späte Aussage stimmt, noch ganz in der Tendenz und Formulierung seiner polemischen Kritik an der Theosophie Franz Hartmanns im Jahr 1897 gelegen (GA 32,194). 1915 behauptete Steiner dann, Marie von Sivers habe bei diesem ›Chrysanthemen-Tee‹ eine wichtige Rolle für seinen Weg in die Theosophie gespielt (GA 254,48)18.

Anmerkung 18: Beide Aussagen Steiners (von 1911 und 1915) stehen im Kontext der zunehmenden respektive vollzogenen Distanzierung von der Theosophischen Gesellschaft, der die Relativierung der Rolle Gernets und die Hervorhebung von Sivers' geschuldet sein mag ...«

Wir wüssten über dieses Gespräch zwischen Marie von Sivers und Rudolf Steiner überhaupt nichts, wenn Steiner davon nicht 1911 (GA 264, S. 406.) bzw. 1915 (GA 264, S. 406.) in nahezu identischer Form berichtet hätte.

Warum also den Inhalt dieses Gesprächs anzweifeln, nicht aber, dass es überhaupt stattgefunden hat?

Beide Male berichtete Steiner, er habe auf die Frage Marie Steiners, ob nicht eine europäische Form von Theosophie möglich sei, geantwortet, er könne nur an den abendländischen Okkultismus anknüpfen und nicht an unverstandene orientalisierende Mystik. 1915 erwähnte er ausdrücklich Plato und Goethe als Anknüpfungspunkte. In welchem Ausmaß Steiner tatsächlich an Plato und den Platonismus anknüpfte, zeigt schon eine auch nur kursorische Lektüre der »Mystik im Aufgang des neuzeitlichen Geisteslebens ...«.

Ende 1903 bemühte sich Steiner nach Zander darum, die hinduistische Idee der Reinkarnation in Europa zu »inkulturieren«. Für ihn sei diese Idee immer noch ein Import aus Asien gewesen.

Auf S. 561 schreibt Zander:

»Reinkarnationsvorstellungen waren 1903 für Steiner eindeutig noch immer aus Asien importierte Ergänzungen des europäischen Denkens.«

Zander bezieht sich auf die beiden Aufsätze »Reinkarnation und Karma, vom Standpunkte der Naturwissenschaft notwendige Vorstellungen« und »Wie Karma wirkt«. Die beiden Aufsätze vom Oktober / November 1903 zeugen keineswegs von einem Bemühen Steiners eine hinduistische »Reinkarnationsidee« in Europa zu »inkulturieren«.

Steiner will ja gerade zeigen, dass die Gesetze von Reinkarnation und Karma eine »naturwissenschaftliche Notwendigkeit sind«, d.h. sich als notwendige Folge aus den Voraussetzungen des naturwissenschaftlichen Denkens, dem Evolutionsparadigma, ergeben, das zweifellos ein genuin europäischer Gedanke ist. (Siehe GA 32, S. 76) Das heißt, Reinkarnation und Karma ergeben sich als notwendige Konsequenz aus den avantgardistischsten Methoden und Grundüberzeugungen der abendländischen Wissenschaft, sie müssen diesem Denken nicht von außen aufgesetzt, »inkulturiert« werden.

In seinem ersten Aufsatz greift Steiner einen Gedanken auf, der bereits im »Christentum als mystische Tatsache ...« ausgesprochen wurde: den der geistigen Selbstvererbung (GA 8, 1. Aufl. 1902, S. 31-33.)

So wie die Gesetze der Vererbung für den Leib gelten, so gelten die Gesetze der geistigen Selbstvererbung für den Geist des Menschen. So wie das Lebendige nur aus Lebendigem hervorgehen kann, so kann das Seelische nur aus Seelischem, das Geistige nur aus Geistigem hervorgehen. Seine Gattungsmerkmale hat der Mensch mit seinen Vorfahren gemein, aber seine seelisch-geistigen Merkmale, seine Fähigkeiten und Begabungen, sind nicht aus der Gattung ableitbar, sie sind individuell. Als Individuum ist der Mensch nicht bloß Gattung. Die Tatsache, dass jeder Mensch eine Biografie besitzt, zeigt dies. Der Inhalt dieser Biografie lässt sich nicht aus den physischen Vorfahren ableiten. So wie die höheren Tierarten in der natürlichen Entwicklungsgeschichte aus den primitiveren hervorgehen, so auch die höhere Seele aus ihren eigenen, weniger entwickelten Vorstufen.

Der Gedanke der Evolution führt, wenn er auf die Seele, den Geist des Menschen angewandt wird, unweigerlich zur Vorstellung, dass das moralische oder intellektuelle Genie eine Entwicklungsstufe der Individualität des Menschen ist, die an sich selbst (an früheren Persönlichkeiten) gearbeitet hat. Dieser Gedanke ist für die Leser des »Christentums als mystische Tatsache« keineswegs neu.

Neu ist aber der Hinweis auf einen Denker, der die Voraussetzungen der Naturwissenschaft konsequent fortbilde und zur Überzeugung gelange, es müsse eine Reinkarnation geben, nämlich den Göttinger Philosophieprofessor Julius Baumann, den Steiner mit den Worten zitiert: »Die Menschenseeele als formale Einheit, als verknüpfendes Ich kehrt wieder in neuen Menschenleibern und kann so alle Stufen menschheitlicher Entwicklung durchleben.« (GA 34, S. 86.) Man kann den Göttinger Philosophieprofessor wohl kaum einer nicht-europäischen Tradition zuordnen.

Ebenso ergibt sich die Idee des Karma als logische Konsequenz aus naturwissenschaftlichen Voraussetzungen. So wie der Naturforscher Tierformen auseinander entwickelt, so sollte der Seelenforscher laut Steiner die Seelenformen auseinander entwickeln. Was zum Biografischen der Seele gehört, sollte man aus dem Biografischen der Seele entwickeln, die ihr voraus gegangen ist. Die späteren seelischen Zustände sind die Wirkungen früherer seelischer Zustände. Das ist der Inhalt des Karma-Gesetzes, das besagt: »Alles, was ich in meinem gegenwärtigen Leben kann und tue, steht nicht abgesondert für sich da als Wunder, sondern hängt als Wirkung mit den früheren Daseinsformen meiner Seele zusammen, und als Ursache mit den späteren.« (GA 34, S. 87.)

Nicht durch Berufung auf Traditionen oder Autoritäten entwickelt Steiner in diesen Aufsätzen die Ideen von Reinkarnation und Karma, sondern durch logische Ableitungen, die denkend einsehbar sind. Kein einziger Hinweis ist in diesen Aufsätzen auf irgendwelche theosophischen Quellen vorhanden, weil ein solcher Bezug auf Quellen überflüssig ist, denn die Ideen werden aus Beobachtungen des Lebens und Begriffen entwickelt, die durch die Vernunft ohne weiteres nachvollziehbar sind. Lediglich an drei Stellen fügt Steiner in Klammern theosophische Ausdrücke hinzu, um Begriffe, die er entwickelt, dem diskursiven Kontext der theosophischen Literatur zuzuordnen. Für das Verständnis der von ihm entwickelten Gedanken ist diese Terminologie aber völlig unnötig.

Wie Zander die Quellen dekontextualisiert, zeigen die Beispiele A.P. Sinnett und Koot Hoomi.

Auf S. 563 schreibt Zander:

»Alfred Percy Sinnett (1840–1921) war Journalist in Indien gewesen, dort ein enger Vertrauter Blavatskys geworden und hatte ihre Vorstellungen verschriftlicht. Im Dezember 1903 erwähnte Steiner die deutsche Ausgabe seiner ›Okkulten Welt‹, um die dort abgedruckten Briefe des Mahatma Koot Hoomi der Lektüre zu empfehlen (GA 88,195); auch Sinnetts ›Geheimbuddhismus‹ dürfte er in diesen Monaten studiert haben (vgl. GA 34,255) 61.

Anmerkung 61: Bereits 1899 hatte Steiner die zweite, ›vermehrte und verbesserte‹ Auflage (Leipzig 1899) des ›Geheimbuddhismus‹ als ›eine tiefe, wichtige Lehre des Morgenlandes‹ rezensiert, allerdings, wie andere Bücher dieser Sammelrezension auch, im Stile eines name-droppings (GA 32,487).«

Steiner rezensierte 1899 nicht die zweite Auflage des »Geheimbuddhismus« von Sinnett, sondern wies in einer Sammelrezension im »Magazin für Literatur« auf diese Publikation hin. Er bezeichnete auch nicht das Buch Sinnetts als »tiefe wichtige Lehre des Morgenlandes«, sondern schrieb, man könne sich aus diesem Buch »auf bequeme Weise über eine tiefe, wichtige Lehre des Morgenlandes unterrichten.« Wörtlich heißt es in der Sammelrezension:

»Von dem vor einigen Jahren veröffentlichten Werke ›Die Esoterische Lehre oder Geheimbuddhismus von A.P. Sinnett, Übersetzung aus dem Englischen‹, erscheint soeben die zweite, vermehrte und verbesserte Auflage (Leipzig).

Aus diesem Buche kann man sich auf bequeme Weise über eine tiefe, wichtige Lehre des Morgenlandes unterrichten.

Im Anschluß daran nennen wir das ebenfalls eben erschienene: ›Der Buddhismus‹. Eine Darstellung von dem Leben und den Lehren Gautamas, des Buddhas von T.W. Rhys Davids. Nach der 17. Auflage aus dem Englischen übertragen von Dr. Arthur Pfungst (Leipzig, Reclam).«

Was die angeblich zur Lektüre empfohlenen Briefe Koot Hoomis anbetrifft: Steiner empfahl am 24. Dezember 1903 einem esoterischen Schüler, Günther Wagner, einen dieser Briefe, weil er einen Hinweis auf das fünfte der »sieben Geheimnisse« enthalte, einen Schlüssel, der als Meditationsanleitung über die Summe der theosophischen »Teilwahrheiten«, die die »Secret Doctrine« von H.P. Blavatsky darstelle, hinausführe (siehe GA 264, S. 47; der Brief Steiners an Günther Wagner im Wortlaut).

Zander erwähnt nicht, dass diese Empfehlung in einem Brief stand, der eine Frage dieses Schülers beantwortete. Zander referiert in diesem Zusammenhang nicht den Hinweis Steiners auf die »Teilwahrheiten« der »Secret Doctrine«, dafür bauscht er Steiners Empfehlung an einen einzelnen esoterischen Schüler zu einer allgemeinen Lektüreempfehlung auf.

Ein krasses Beispiel für Zanders dekontextualisierende Verfahrensweise sind seine Bemerkungen zum Begriff des »Erlebens« in der Vorrede zur »Theosophie«.

Zander kommentiert ein Zitat aus der Vorrede der »Theosophie« auf S. 572:

Das Steinerzitat lautet: »Der Verfasser dieses Buches schildert nichts, wovon er nicht Zeugnis ablegen kann durch Erfahrung … Nur in diesem Sinne Selbsterlebtes soll dargestellt werden.« (GA 9,12)

Zanders Kommentar dazu:

»Steiner leugnete so zu einem sehr frühen Zeitpunkt, mitten in der laufenden Anverwandlung theosophischer Vorstellungen, seine theosophischen Abhängigkeiten; welche eigenen ›Erlebnisse‹ darin aufgegangen sein könnten, ist wohl nicht mehr zu klären. [kurs. Red.]

Angesichts der schon dargelegten manifesten Rezeption theosophischer Literatur kann man dies in der Aussenperspektive als bewusste Verschleierung lesen ... Diese Begründung der theosophischen Tradition durch ein subjektives Erlebnis war kein Ausrutscher, wie Steiner kurz darauf imperativisch einschärfte: ›Solche Wahrheiten müssen erlebt werden. Theosophie hat nur in diesem Sinn einen Wert.‹ Diese Äußerungen fügen sich in eine weit verbreitete Semantik des ›Lebens‹ und ›Erlebens‹ in Steiners Werk ein, hinter dem wohl seine Hochschätzung des lebensphilosophischen Denkens stand, das er schon vor 1900 schätzte und in der theosophischen Phase ein Widerlager gegen die Relativierungsbedrohung des Historismus bildete.«

Diese Textpassage ist nicht nur ein Beispiel für Zanders inquisitorischen Schreibstil (»Steiner leugnete«, »bewußte Verschleierung«, »kein Ausrutscher«) sie zeugt auch von seiner dekontextualisierenden Interpretationstechnik.

Da er die Theorie der »geistigen Erfahrung«, des »geistigen Erlebens« systematisch ignoriert, die für Steiner Grundlage seiner gesamten Anthroposophie ist, münzt Zander Steiners Hinweis, er schildere nichts, wovon er nicht »durch Erfahrung« »Zeugnis ablegen« könne, und stelle nur »Selbsterlebtes« dar, zu einer »Begründung der theosophischen Tradition durch subjektives Erlebnis« um.

Er vermutet, diese Hinweise seien ein Ausdruck für Steiners »Hochschätzung des lebensphilosophischen Denkens«. Diese Kommentare sind geradezu grotesk.

Wenn Steiner auf die »eigene Erfahrung« rekurriert, dann meint er damit die »Geisterkenntnis«, die »Geistesforschung«, die, so gut wie die Naturwissenschaften, einen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben kann. Er deutet auf die Methoden der Forschung, die nach seinem Selbstverständnis ebenso strengen Kriterien unterliegen, wie die Methoden anderer Wissenschaften. Er fasst damit all das zusammen, was er in seinen philosophischen Schriften an methodologischen und epistemologischen Untersuchungen vorgetragen, und was er in der »Mystik im Aufgang ...« und im »Christentum als mystische Tatsache ...« über die mystische Erkenntnis, die auf innerer Erfahrung des Geistes beruht, dargelegt hat.

Der Hinweis auf die Erfahrung ist mitnichten eine Anspielung auf die »Lebensphilosophie«, er ist ein Hinweis auf das Erleben des Geistes, das Leben im Geist, von dem Steiner seit 21 Jahren, seit 1883, gesprochen hat. Um nur ein Beispiel zu nennen: im ersten Band der »Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften« von 1883 schreibt Steiner:

»Wer dem Denken seine über die Sinnesauffassung hinausgehende Wahrnehmungsfähigkeit zuerkennt, der muß ihm notgedrungen auch Objekte zuerkennen, die über die bloße sinnenfällige Wirklichkeit hinaus liegen. Die Objekte des Denkens sind aber die Ideen. Indem sich das Denken der Idee bemächtigt, verschmilzt es mit dem Urgrunde des Weltendaseins; das, was außen wirkt, tritt in den Geist des Menschen ein: er wird mit der objektiven Wirklichkeit auf ihrer höchsten Potenz eins. Das Gewahrwerden der Idee in der Wirklichkeit ist die wahre Kommunion des Menschen.

Das Denken hat den Ideen gegenüber dieselbe Bedeutung wie das Auge dem Lichte, das Ohr dem Ton gegenüber. Es ist Organ der Auffassung.« (S. 125-126)

Die exegetischen Assoziationen Zanders sind ein Beispiel für seine kurzatmige Hermeneutik, die bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit zu interpretativen ad-hoc-Hypothesen greift, um Scheinerklärungen für etwas zu liefern, was sich bei genauerem Hinsehen aus einer werkimmanenten Entwicklungssystematik von selbst erklärt und jedenfalls keiner Erklärung nach Art der Zanderschen bedarf.

In seiner Auseinandersetzung mit der Darstellung des Schulungswegs in der »Geheimwissenschaft im Umriss« konstruiert Zander aus keinerlei Quellen bekannte »Akzeptanzprobleme« in der theosophischen Gesellschaft gegenüber dem von Steiner beschriebenen Schulungsweg. Verschiedene Bemerkungen in der »Geheimwissenschaft« deutet er völlig willkürlich als Antworten Steiners auf interne »Konflikte«. Auf wenigen Seiten liefert er beeindruckende Beispiele für seine Meisterschaft der »Dekonstruktion«.

Auf S. 594 schreibt Zander:

»Einleitend dokumentierte Steiner ein Phänomen, das sonst ausserhalb polemischer Angriffe kaum greifbar ist: Kritik an seinen Psychotechniken (GA 13,299–307). Steiner nannte keine Namen und liess den Leser im Unklaren, ob die Anfragen aus dem inneren Kreis der Theosophen oder von aussen kamen, aber er enthüllte Akzeptanzprobleme, verkleidet in einen normativen Text über gutes oder schlechtes Verhalten des Schülers.

...

Praktisch alle anderen Monita drehten sich um die autoritäre Rolle des esoterischen Lehrers und offenbar um die Forderung nach mehr Eigenständigkeit für die Schüler ...

Steiner wehrte sich, indem der er [sic!] diese Form der Selbständigkeit stigmatisierte und zu viel Eigenständigkeit mit Passivität infiziert sah ...

Sodann fürchtete man sich offenbar vor einem gläsernen Schüler, man fürchtete, wie Steiner in Anführungszeichen, also im Blick auf einen den Lesern möglicherweise bekannten Text oder Vorgang sagte, ›einen Einfluss auf das verborgenste Heiligtum der Seele‹ (GA 13,302). Er respektiere demnach das Forum internum der Persönlichkeit nicht ...

Angesichts der seltenen Hinweise auf Probleme im Umgang mit dem theosophischen Lehrgut kann man vermuten, dass die Schwierigkeiten mit der autoritären Struktur der Wissensvermittlung massiv waren. Ob oder wieweit die Vorwürfe zutrafen, ist hingegen nicht klar.«

Auf S. 595:

»Steiners Gegenargumente blieben allesamt pragmatisch, am Autoritätsgefälle  zwischen Lehrer und Schüler rüttelt Steiner nicht einen Moment lang. Er schärfte 1909 sogar nochmals das auf ›Vertrauen‹ basierende Unterordnungsverhältnis ein:

Der Lehrer ›gibt dem Schüler die Verhaltensmassregeln, und der Schüler führt sie aus. Es wird dabei, wenn es darauf ankommt, nicht verschwiegen, warum diese oder jene Verhaltungsregel gegeben wird. Dass der Schüler zu dem Lehrer Vertrauen haben muss, ist etwas selbstverständliches. … Das Vertrauen braucht deshalb noch nicht blinder Glaube zu sein. … Nichts bedenkliches wird derjenige bei einem solchen Vertrauen finden, welcher sich sagt man kann ein Gefühl haben, das [sic] etwas das Richtige ist, bevor der Verstand in der Lage ist, zu urteilen. Man urteilt nicht nur selbst, wenn man  seinen Verstand sprechen lässt, sondern auch, wenn man sich seinem unvoreingenommenen Wahrheitsgefühl überlässt. Wer anders denkt, der wird sich stets Hindernisse für die geistige Schulung schaffen. Völlig erkennen, wie ein Mittel zu dieser Schulung wirkt, kann man ja doch erst, wenn man dieses Mittel auf sich angewendet hat, und die Früchte desselben an der eigenen Entwicklung hat wahrnehmen können.‹

Dies war eine massive Bestätigung des auch in ›Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?‹ formulierten patriarchalen Autoritätsregimentes, in dem der Schüler dem Wohlwollen des väterlichen Lehrers ›vertraut‹ und seinen kritischen Verstand gegen ein ›unvoreingenommenes Wahrheitsgefühl‹ eintauscht.

Wer Steiner hier nicht folge, so der drohende Nachsatz, stehe sich als ›Hindernis‹ für die Erkenntnis des Geistigen selbst im Weg.«

Zu den abwegigen »Deutungen« Zanders bieten die Ausführungen im herangezogenen Text keinerlei Grundlage. Es handelt sich bei diesen »Konflikten« um reine Erfindungen, durch die Zander eine seiner fixen Ideen, nämlich die von den autoritären Neigungen Steiners, mit Inhalt anzufüllen versucht.

Die meisten der von Zander unterstellten »Akzeptanzprobleme«, auf die Steiner in seiner Darstellung angeblich eingeht, beziehen sich auf die »autoritäre Rolle des esoterischen Lehrers«.

In Wahrheit geht Steiner auf einige Bedenken oder Einwände gegen die esoterische Schulung als solche ein, die sich aus bestimmten Seelenhaltungen ergeben können. Der tiefere Grund, sich mit diesen Bedenken auseinanderzusetzen, ist ein systematischer: in den Bedenken oder Einwänden spiegeln sich bestimmte Seelenhaltungen, die auch heute noch verbreitet sind.

Laut Zander jedoch soll Steiner Fälle von Selbsteinweihung »stigmatisiert« haben, auf die Furcht vor einem »gläsernen Schüler« eingegangen sein und kryptisch Mittel, die sich dem Bewusstsein des Schülers entziehen, also andere Schulungsmethoden, kritisiert haben.

Zander vermutet, dass die »Schwierigkeiten mit der autoritären Struktur der Wissensvermittlung massiv« waren. Aber, wie gesagt, für diese »Vermutungen« bringt er keinen einzigen Beleg außerhalb des von ihm herangezogenen Steinertextes. Im Endeffekt habe Steiner am »Autoritätsgefälle« zwischen Lehrer und Schüler nicht rütteln lassen, ja sogar das »auf Vertrauen basierende Unterordnungsverhältnis« erneut eingeschärft. (Zander I, S. 595)

Im Hinweis auf die Notwendigkeit des Vertrauens gegenüber dem Lehrer, einem Verhältnis, das auch aus dem gewöhnlichen Leben nicht unbekannt ist, sieht Zander eine »massive Bestätigung des patriarchalen Autoritätsregiments«. Dass Steiner die von Zander zitierte Passage in der Auflage von 1913 gestrichen hat, ist für Zander Anlass, wieder über eine aus keiner historischen Quelle bekannte Kritik an Steiners »autoritärem Führungsstil« zu räsonnieren, die für diese Streichung vielleicht Anlass gegeben habe (Zander I, S. 596), was sich aber »aufgrund der augenblicklichen Quellenlage« nicht entscheiden lasse.

Wieso dann überhaupt solche Vermutungen, die durch die augenblickliche Quellenlage nicht abgedeckt sind? Könnte man nicht auch jede andere denkbare Vermutung aufstellen, die ebenso wenig durch die Quellenlage abgedeckt ist? Nun war 1913 gerade die Zeit, in der Steiners »Autorität«, wenn man denn von einer solchen sprechen will, in Hochblüte stand, folgte ihm doch nahezu die gesamte deutsche Sektion bei der Sezession von der Theosophischen Gesellschaft Adyar, um die Anthroposophische Gesellschaft zu begründen – und dies nicht, weil sie Kritik an Steiners Autorität geübt hätte, sondern weil sie Kritik an den Irrlehren und Rankünen Annie Besants übte. Warum sollte also Steiner ausgerechnet 1913 jene Passagen aus der »Geheimwissenschaft« gestrichen haben, die angeblich sein »patriarchales Autoritätsregime« unterstreichen? Aber, wie gesagt, der Text Steiners, auf den Zander sich bezieht, gibt keinerlei Anlass, eine massive Kritik an seiner angeblich beanspruchten Autorität zu unterstellen, deren Folge die gestrichene Passage in der »Geheimwissenschaft ...« gewesen sein sollen.

Wird die »Selbst-Einweihung« von Steiner »stigmatisiert«? Durchaus nicht. Durch die »Selbsterweckung« wird der Mensch in seinem ganzen Wesen umgewandelt. »Eine unbegrenzte Bereicherung seiner Seelenerlebnisse tritt ein. Und er wird finden, dass er durch keine Erlebnisse in der Sinnenwelt eine solche Beseligung, solche befriedigende Gemütsverfassung und innere Wärme empfinden kann, wie durch dasjenige, was sich ihm nun erschließt ... Kraft und Lebenssicherheit wird in seinen Willen aus einer geistigen Welt einströmen.« (GA 13, 1. Aufl. 1910, S. 280) Die Erlebnisse durch diese Selbsteinweihung werden also durchaus positiv gewertet.

Die Frage ist nur, wie die Selbsteinweihung im Zusammenhang mit der systematischen Schulung zu sehen ist. Sie kann laut Steiner nicht als Einwand gegen eine solche Schulung benutzt werden. Durch das Abwarten einer möglichen Selbsteinweihung würde sich jede Schulung erübrigen. Die Absicht Steiners besteht aber gerade darin, diese systematische Schulung darzustellen und jene Menschen zu einer Einweihung zu führen, die nicht durch eine Selbst-Erweckung gegangen sind. Steiner geht in dieser Frage auf eine bestimmte Seelenhaltung ein, die davor zurückscheut, das eigene Seelenleben zum Gegenstand einer systematischen Schulung zu machen, weil diese Seelenhaltung in einer solchen einen unzulässigen Eingriff in die geistige Führung, eine »Vermessenheit« oder »unberechtigte Begierde« sehen lässt. Dieser Seelenhaltung gegenüber betont Steiner, der Mensch habe die Pflicht, die ihm von höheren Mächten eingesenkten Keime auch zur Entwicklung zu bringen.

Ein anderes Bedenken betrifft die möglichen Einblicke in das verborgenste Heiligtum der Seele, das einer Persönlichkeit gewährt würde, in deren Hand man sich begäbe, wenn man Anleitungen zur Umwandlung der eigenen Seele von dieser empfangen müsste. Wieder ist es eine gewisse Seelenhaltung, aus der ein solches Bedenken hervorgehen kann. Das Wesen der Schulung, wie sie in der »Geheimwissenschaft« dargestellt wird, vermag jedoch nach Steiner solche Bedenken zu zerstreuen. Denn ein bedenklicher Eingriff in die Freiheit des Schülers läge nur vor, wenn der Lehrer die Umwandlung der Schülerseele vornähme, mit Mitteln, »die sich dem Bewusstsein des Schülers entziehen.« Dann wäre der Schüler ein willenloses und verständnisloses Objekt in der Hand seines Lehrers. Dies ist aber nicht der Fall. »Solcher Mittel würde sich auch kein richtiger Geisteslehrer in unserem Zeitalter bedienen.« (GA 13, 1. Aufl. 1910, S. 283)

Es gab durchaus Zeiten, in denen die Einweihung nicht auf das Verständnis und die Freiheit des Einzuweihenden baute. Aber diese Zeiten sind längst vorbei. Die heutige Geistesschulung stellt die Mittel und Wege der Schulung in einer dem gewöhnlichen Verstand zugänglichen Weise öffentlich dar, zeigt den gesetzmäßigen Zusammenhang zwischen seelischen Verrichtungen und ihren Folgen für das Seelenleben auf und überlässt es dem potentiellen Schüler, ob er sich auf den beschriebenen Weg einlassen will. Der Lehrer – in diesem Fall der Verfasser des Schulungskapitels – »gibt dem Schüler die Verhaltungsmaßregeln und der Schüler führt sie aus.«

Warum bestimmte Maßregeln gegeben werden, wird nicht verschwiegen, der Grund muss verstehbar, der Einsicht zugänglich sein. Vertrauen des Schülers zum Lehrer ist selbstverständlich. Warum sollte sich auch ein Schüler auf einen Schulungsweg einlassen, wenn er demjenigen, der diesen Weg beschreibt, von vorneherein misstraut? Ein gewisses Vertrauen ist auch im gewöhnlichen Leben Voraussetzung für den Verkehr zwischen Menschen. Mehr ist nicht erforderlich. Im übrigen ergibt sich aus der Darstellung des Weges eine Einsicht in seine Gesetzmäßigkeit, die das Vertrauen in den Weg selbst zu erwecken vermag, den der Schüler, aufgrund der vom Lehrer losgelösten Darstellung, unabhängig von ihm beschreiten kann. Ein solches Vertrauen ist kein blinder Glaube. Blinder Glaube würde die Umgehung der Einsicht und der Begründung verlangen, er würde den Schüler unter Umgehung seines Bewusstseins beeinflussen. Es ist aber der Schüler selbst, der sich gemäß den »Ratschlägen« des Schulungsweges verhält. All seine Handlungen liegen offen vor seiner Einsicht, die Wirkungen seiner Übungen vermag er an sich selbst zu beobachten, er selbst entscheidet, ob und welche Schritte er gehen will. Wo liegt hier eine Abhängigkeit? Wo ein »patriarchales Autoritätsregiment«?

Das einzige, was sich konstatieren lässt, ist ein Fähigkeitengefälle. Ein solches Gefälle ist aber naturgemäß immer gegeben, wo Menschen sich durch ihre Fähigkeiten unterscheiden. Will der eine vom andern etwas lernen, dann anerkennt er dieses Gefälle und er muss sich dem Lehrer im Vertrauen zuwenden, dass er von diesem jene Fähigkeiten erlernen kann, die er selbst noch nicht oder nicht im gleichen Maß besitzt. Wollte man diese natürliche Differenz von Fähigkeiten und das durch sie gegebene Verhältnis von Lehrer und Schüler als »autoritär« diffamieren, dann müsste man jede Vorstellung eines Lernens oder Lehrens als autoritär diffamieren. Die Folge wäre geistige und moralische Verwüstung.

In späteren Auflagen der »Geheimwissenschaft« hat Steiner die Bedeutung des Verstehens der Gesetzmäßigkeiten der Schulung in Zusätzen noch deutlicher herausgearbeitet. (GA 13, 1977, S. 304.)

Schon die »gewöhnliche Selbstbeobachtung« kann die Frage beantworten, wie die Regeln der Geistesschulung auf die Seele wirken. Sie kann bei unbefangener Anwendung des gesunden Menschenverstandes »genügend beantwortet werden«. Man kann sich über die Wirkungen der Regeln richtige Vorstellungen bilden, bereits bevor man sie anwendet. Während der Schulung wird das Erleben der Wirkungen stets vom Verstehen begleitet sein. Eine wahre Geisteswissenschaft wird nur solche Anweisungen geben, die stets vom Urteil des gesunden Menschenverstandes verstanden werden können.

Auch die Erwähnung zweier möglicher Missverständnisse: die Schulung wolle den Menschen »in bezug auf seine ganze Lebensführung zu einem anderen Menschen machen« und sie verändere seine »physische Konstitution«, die 1920 in den Text des Schulungskapitels eingearbeitet wurde, zeigt nicht etwa, wie Zander behauptet, dass Steiner »die Kritik an möglichen freiheitsbeschränkenden Folgen« der Schulung sein ganzes Leben lang nicht verlassen habe, sie zeigt vielmehr, dass Steiner möglichen Missverständnissen begegnen wollte.

Dass der Schulungsweg nicht das ganze Leben des Schülers umkrempeln soll, ist bereits aus »Wie erlangt man ...« zu entnehmen. So heißt es in Heft 14 der »Luzifer-Gnosis« vom Juli 1904:

»Nichts braucht sich im äußeren Leben des Geheimschülers zu ändern, dadurch, dass er anfängt, diese Regel [die Anweisung, das Wesentliche vom Unwesentlichen in innerer Ruhe zu unterscheiden] zu befolgen. Er geht seinen Pflichten nach wie vorher; er erduldet dieselben Leiden und erlebt dieselben Freuden zunächst, wie vorher. In keiner Weise kann er dem ›Leben‹ entfremdet werden. Ja, er kann um so voller den übrigen Tag hindurch diesem ›Leben‹ nachgehen, weil er in seinen ausgesonderten Augenblicken ein ›höheres Leben‹ sich aneignet.« (»Luzifer-Gnosis« Nr. 14, Juli 1904, S. 35)

Und zwei Seiten später:

»Immer wieder muss es gesagt werden: nicht weltfremd wird der Geheimschüler durch solche Wandelung. Er wird auf keinen Fall seinem alltäglichen Pflichtenkreis entfremdet. Denn er lernt einsehen, dass die geringste Handlung, die er vollbringt, das geringste Erlebnis, das sich ihm darbietet, in Zusammenhang steht mit den großen Weltwesenheiten und Weltereignissen. Wird ihm dieser Zusammenhang durch seine beschaulichen Augenblicke erst klar, dann geht er mit neuer, vollerer Kraft an seinen täglichen Wirkungskreis. ... Kraft zum Leben, nicht Lässigkeit, quillt aus der Meditation.« (»Luzifer-Gnosis« Nr. 14, Juli 1904, S. 38)

Solche Hinweise ziehen sich durch die ganze Aufsatzfolge von »Wie erlangt man Erkenntnisse ...« hindurch.