Zander sucht in den Darstellungen des esoterischen Schulungsweges durch Steiner nach Spuren angemaßter Autorität. So fällt ihm die »Häufung« des »modalen Hilfsverbs« »müssen« auf. Der Geheimschüler »muss« alles Mögliche. Zander spricht von einem »Stakkato der Imperative«, das die Frage nach den »Machtstrukturen im Verhältnis von Erkenntnis und Autorität« aufwerfe. Diese Autorität trete im Verhältnis des Lehrers zum Schüler in der »Forderung« nach der Devotion auf. Patriarchalische Autoritätsanmaßung läßt sich in der Schilderung des Schulungweges nur finden, wenn diese Schilderung zuvor gründlich dekontextualisiert worden ist.

Auf S. 608 schreibt Zander:

»Im Schulungsweg fällt die Häufung eines modalen Hilfsverbs auf: ›müssen‹.

[Es folgt eine Reihe von Beispielen aus »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?«]

... Ich wiederhole diese Formulierungen mit einer gewissen Penetranz, weil im Stakkato der Imperative das Verhältnis von Pflicht und Wahl, von Determination und Freiheit aufgeworfen ist und sich die Frage nach projektiver Wahrnehmung in das Problem der Autorität im Vermittlungsprozess transformiert.

Soziologisch heisst dies, die Frage nach den Machtstrukturen im Verhältnis von Erkenntnis und Autorität zu stellen, näherhin zu fragen: wie das Postulat einer demokratisierten esoterischen ›Gnosis‹ umgesetzt wird.«

Das angebliche »Stakkato der Imperative« ist leicht erklärlich. Handelt es sich doch in der Beschreibung des »Schulungsweges« um die Ausbildung von Fähigkeiten, die der Mensch noch nicht besitzt, die er erst entwickeln muss. Sie zielt also auf Handlungen ab, die der Schüler durchführen soll, um eine zukünftige Gestalt seiner selbst zur Erscheinung zu bringen.

Das, was werden soll, kann nur durch ein Wollen, das auf dieses Werdende abzielt, geschaffen werden. All die Regeln beziehen sich nicht auf ein moralisches Sollen oder Müssen, sondern auf Bedingungen, die erfüllt werden müssen, wenn bestimmte Effekte erzielt werden sollen. Wie anders sollten diese Bedingungen denn beschrieben werden, als im Modus des Sollens?

Entscheidend ist jedoch, dass der Schüler sich selbst entschließen muss, diese Bedingungen zu erfüllen. Niemand zwingt ihn dazu. Schließlich kann er auf das Beschreiten des Weges auch verzichten. Wie bei einer naturwissenschaftlichen Versuchsanordnung müssen bestimmte Bedingungen erfüllt sein, damit bestimmte Beobachtungen gemacht werden können. Im Hinweis auf solche Bedingungen einen patriarchalen Herrschaftsanspruch zu vermuten, würde jeder ohne weiteres für absurd halten. Für gleichermaßen absurd würde man es halten, wenn man einem Meistergeiger daraus einen Vorwurf machte, wenn dieser von seinen Schülern forderte, diese müßten erst das Geigenspielen lernen, wenn sie von ihm unterrichtet werden wollten.

Hier ist jedoch vor allem das »hermeneutische« Vorurteil Zanders auszuräumen, die Devotion beziehe sich auf die Person des Lehrers.

Um diese Behauptung zu begründen, zitiert er einen Absatz aus »Wie erlangt man ...« und hebt die späteren Ergänzungen des Textes durch Unterstreichung hervor. Der Text handelt von der Grundstimmung der Verehrung, der Devotion. (In GA 10 der 6. Absatz des 1. Kapitels von »Wie erlangt man ...«, der mit dem Satz beginnt:  »Eine gewisse Grundstimmung der Seele muss den Anfang bilden.«)

In diesen Absatz fügte Steiner in späteren Auflagen die Ergänzung ein, die Devotion sei eine solche »gegenüber Wahrheit und Erkenntnis«.

Der Text sei »tückisch«, so Zander, weil diese Ergänzung erst später erfolgt sei. Im Urtext dagegen beschreibe dieser Absatz das Verhältnis von Geheimschüler und Geheimlehrer, die Verehrung werde auf Menschen bezogen und der Adept werde »metaphorisch verkindlicht«, die Beziehung sei eine »hierarchische Konstruktion«. Im übrigen sei Kritik dem Lernenden »verboten«, so Zander unter Berufung auf den Satz: »Jede Kritik, jedes richtende Urteil vertreiben ebenso Kräfte der Seele zur höheren Erkenntnis, wie jede hingebungsvolle Ehrfurcht sie entwickelt.«

Steiner, behauptet Zander unter Berufung auf diesen Satz, habe zur Kritik als einer »fundamentalen Kategorie zur Prüfung seines Gegenstandes ein gebrochenes Verhältnis« besessen. Okkultes Wissen könne man in Steiners Augen nur in einem hierarchischen Gefälle erwerben, nicht autonom. Die Einweihung gehöre zu einer »heiligen, hierarchischen Ordnung«, die nicht über Plausibilität und Einwilligung, sondern über »Unterwerfung unter eine Autorität« funktioniere.

Beschreibt Steiner in dem zitierten Absatz und im folgenden Text tatsächlich, wie Zander behauptet, das Verhältnis zwischen Geisteslehrer und -schüler?

Nein, er tut es nicht. Was er beschreibt, ist das Verhältnis des Schülers zu seinem eigenen höheren Wesen und zum höheren Wesen in allen Dingen und Menschen, dem Verehrung entgegengebracht werden muss.

Steiner spricht von Kindern, die diese Anlage zur Verehrung in sich tragen. »Sie wachsen zu Jünglingen und Jungfrauen heran, denen es wohltut, wenn sie zu irgend etwas Verehrungsvollem aufsehen können.« (Luzifer-Gnosis, Nr. 13, S. 2) Also nicht zu einem Menschen, zu dem sie in einem Autoritätsverhältnis stehen. Solche Anlagen bilden laut Steiner nicht den »Keim zur Unterwürfigkeit und Sklaverei«, sondern Menschen »verstehen am besten, ihr Haupt frei zu tragen«, die verehren gelernt haben, »wo Verehrung am Platze ist«. (Luzifer-Gnosis, Nr. 13, S. 3)

Verehrung in der Kindheit und Jugend führt also zur Entwicklung der Freiheit, der Selbstbestimmung, der Autonomie im Erwachsenenalter, aber nur solche Verehrung, die am Platz ist, nicht blinde Unterwerfung. Der Geistesschüler muss das Gefühl entwickeln, »dass es etwas Höheres gibt, als er selbst ist«, um die Kraft zu finden, »sich zu diesem Höheren hinauf zu entwickeln«. (Luzifer-Gnosis, Nr. 13, S. 3) Dieses Höhere, das er selbst ist, kann sich nur in ihm selbst entwickeln. Er muss seinem eigenen höheren Wesen Verehrung entgegenbringen. Auch der Eingeweihte konnte nur durch das Tor der Demut zur Erkenntnis aufsteigen. »Ein rechtes Wissen kannst du nur erlangen, wenn du gelernt hast, dieses Wissen zu achten.« (Luzifer-Gnosis, Nr. 13, S. 3)

Es geht also bereits im Urtext von »Wie erlangt man Erkenntnisse ...« um Verehrung gegenüber Wissen und Erkenntnis.

Das Gefühl »wahrer« Devotion entwickelt Erkenntniskräfte. Um wahre, nicht falsche Devotion handelt es sich. »Idealen« gegenüber müssen Ehrfurcht, Anbetung, Bewunderung entwickelt werden. (Luzifer-Gnosis, Nr. 13, S. 3)

Der Geheimschüler muss »überall in seiner Umgebung aufsuchen«, was ihm Bewunderung und Ehrerbietung abzwingen kann. (Luzifer-Gnosis, Nr. 13, S. 4)  Also nicht einem Lehrer gegenüber, sondern allem gegenüber, soll er Bewunderung aufbringen, was bewundernswert ist. An Menschen soll er nicht ihre Schwächen tadeln, die sie ohne Zweifel auch besitzen, sondern sich »liebevoll in ihre Vorzüge vertiefen«, er soll »allen Dingen gegenüber auf das Gute sehen« und »mit dem richtenden Urteil zurückhalten.« (Luzifer-Gnosis, Nr. 13, S. 4)

Er soll sich mit »Bewunderung, Achtung, Verehrung gegenüber Menschen und Dingen erfüllen«. (Luzifer-Gnosis, Nr. 13, S. 4)

Liebe, Achtung und Bewunderung öffnen die Augen des Geistes, während abfällige Kritik den Menschen blind macht – das beste Beispiel für die negativen Folgen abfälliger Kritik ist Zander selbst, der sich durch seine exzessive Liebe zur Kritik blind macht für das, was in Steines Werk nur denkend erfaßt werden kann. Die energische Schulung in Devotion überstrahlt das ganze Gemütsleben des Menschen mit dieser Grundstimmung »gegenüber allem wahrhaft Ehrwürdigen.« (Luzifer-Gnosis, Nr. 13, S. 4)

Die Verehrung weckt eine »sympathische Kraft in der Seele«, durch die »Eigenschaften der uns umgebenden Wesen von uns angezogen werden, die sonst verborgen bleiben.« (Luzifer-Gnosis, Nr. 13, S. 5)

Nun kann man sich ja fragen, wie denn der Geistesschüler erkennen kann, »wo Verehrung am Platz ist« und wo nicht, wie sich »rechtes Wissen« von »falschem Wissen« unterscheidet, wann sein Gefühl der Devotion ein »wahres« ist und kein falsches, wie er in seiner Umgebung erkennen kann, was ihm mit Recht Bewunderung und Ehrerbietung abverlangt, wie er das »wahrhaft Ehrwürdige« vom nicht Ehrwürdigen unterscheiden kann.

Es ist klar, dass diese Erkenntnis und Unterscheidung Kritikfähigkeit voraussetzt. Diese Kritikfähigkeit ist ein immanenter Bestandteil wahrer Verehrungsfähigkeit. Der Geistesschüler muss Kritik üben, aber diese Kritik dazu nutzen, das Verehrungswürdige vom nicht Verehrungswürdigen zu unterscheiden.

Das Eingangskapitel von »Wie erlangt man ...« beschreibt also keineswegs das Verhältnis des Geistesschülers zu seinem Lehrer, wie Zander behauptet, sondern das Verhältnis dieses Schülers zu sich selbst und zum übrigen Weltinhalt, in den natürlich andere Menschen eingeschlossen sind. Er soll das Verehrungswürdige, Höhere, das sich in allen Dingen und Menschen offenbaren kann, aufsuchen, er soll lernen, dieses Verehrungswürdige vom nicht Verehrungswürdigen zu unterscheiden, er soll Idealen, dem rechten Wissen, den Vorzügen in anderen Menschen, dem Höheren in den Dingen Bewunderung entgegenbringen. Er wird nicht zu blinder Unterwerfung gegenüber dem Geisteslehrer aufgefordert, sondern muss auch diesem gegenüber Kritik üben, sonst verfällt er in »Unterwürfigkeit und Sklaverei«. Der Geistesschüler muss aber ein Mensch sein, der versteht, »sein Haupt frei zu tragen«, er soll ja seine innere und äußere Unabhängigkeit, seine Autonomie und Freiheit gerade durch den Schulungsweg immer mehr ausweiten und steigern.

Steiner hat nicht zur Kritik ein »gebrochenes Verhältnis« besessen, er hat auch nicht Einweihung als »Unterwerfung unter eine Autorität« verstanden, dies alles sind Projektionen Zanders, die mit den verschiedenen Texten über den Schulungsweg und dem sonstigen Verhalten Steiners als Geisteslehrer in schreiendem Widerspruch stehen. Auch die »selektive« Auswahl von Zitaten, die Zander anführt, um »die autoritäre Struktur« des Schulungsweges zu belegen, beweist nicht, was er behauptet.

Dass Meditation »besser unter der Anleitung erfahrener Menschen« geschieht, ist ebenso klar, wie dass die Fähigkeit des Kletterns besser erlernt wird, wenn sie unter der Anleitung erfahrener Menschen erworben wird, können sie dem Anfänger doch die nötigen Sicherungstechniken beibringen, ohne die dieser leicht sein Leben gefährden würde.

Wenn der Schüler seine Geistesaugen erweckt hat, ist ihm nicht anzuraten, »noch weiter zu gehen ohne kundigen Führer«: auch dies ist vollkommen nachvollziehbar, fehlt dem Schüler doch die nötige Unterscheidungsfähigkeit, um sich in der Welt der astralen Bilder zu Recht zu finden. Auch hier kann wieder der Vergleich mit dem Bergsteigen hilfreich sein. Manche Gletscher- oder Klettertouren nimmt man sinnvollerweise nur unter der Leitung eines kundigen, vertrauenswürdigen Bergführers in Angriff, der weniger Geübten über die Gefahren hinweg hilft, die eine solche Unternehmung mit sich bringt. Niemand, der einigermaßen bei Verstand ist, wird in einer solchen Hilfe eine Beeinträchtigung der eigenen Freiheit sehen. Er wird aber wissen, dass er solche Touren, wenn er genügend geübt ist, auch ohne Hilfe eines Bergführers gehen und sogar andere wird anleiten können.

Der Geheimschüler muss ganz ruhig warten, »bis er von höheren Mächten für würdig befunden wird, zu bestimmter Erleuchtung«: auch darin sieht Zander einen Beweis für »autoritäre Strukturen«. Nur unterliegen Engel, Erzengel und andere »höhere Mächte« nun einmal nicht dem Kommando von Geschichts- oder Theologieprofessoren, sondern handeln nach ihren eigenen Einsichten. Dies Steiner zum Vorwurf zu machen, ist ebenso klug, wie wenn man es dem Schöpfer zum Vorwurf macht, er habe die Natur so eingerichtet, dass Pflanzen die Sonne benötigen, um reifen zu können.

»Es gibt auch über höhere Wahrheiten in Wirklichkeit nur eine Meinung«, schreibt Steiner: so wie es über Fragen der höheren Mathematik nur eine Meinung gibt, was keinen Menschen veranlasst, den Mathematikern ein gebrochenes Verhältnis zur Kritik zu unterstellen.

Steiner »fordert« laut Zander den »Primat der Inhalte vor der Methode des Schulungswegs«, die von ihm beschriebene Methode sei »Anleitung zu bloßem Nachvollzug«. Auch diese »Interpretation« stellt den tatsächlichen Sachverhalt dekontextualisierend auf den Kopf.

Auf S. 611 schreibt Zander:

»Schliesslich forderte Steiner bis in seine letzten Lebensjahre, den Inhalten den Primat vor der Methode des Schulungswegs einzuräumen: ›Man wird über die echte Natur dieses Erlebten dann volle Klarheit erhalten, wenn man praktisch durchführt, was im zweiten (letzten) Teile dieses Buches [der ›Geheimwissenschaft‹] als ›Weg‹ zu den übersinnlichen Erkenntnissen geschildert wird. Man könnte leicht glauben, das Umgekehrte sei richtig: dieser Weg müsse zuerst geschildert werden. Das ist aber nicht der Fall.‹ (GA 13,50 [1920]) Die Methode war Anleitung zum blossen Nachvollzug.«

Zander versteht das Verhältnis von »Gedankenbildern der höheren Welten« und Methodologie nicht. Bekanntlich stellt die erste Stufe des Schulungsweges nach Steiner das »Studium« dar, das im Rosenkreuzer-Sinne darin besteht, sich in Gedankeninhalte zu vertiefen, die nicht aus der physischen Wirklichkeit geschöpft sind. Studium heißt »Leben in reinen Gedanken«. (Vgl. GA 99, 1985, 6.6.1907)

»Es ist ganz gleichgültig, wer vor ihnen steht«, führt Steiner in seinen Vorträgen zur »Theosophie des Rosenkreuzers« 1907 aus, »denn nicht durch eine Persönlichkeit sollen Sie ergriffen werden, sondern durch das, was diese Persönlichkeit von den Tatsachen des Weltenwerdens zu ihnen spricht. Daher ist in der Rosenkreuzer-Schulung jede unmittelbare Verehrung für den Lehrer gestrichen. Er beansprucht sie nicht, er braucht sie nicht. Er will sprechen zum Schüler von dem, was ohne ihn da ist.

Derjenige, der hinaufdringen will in die höheren Welten, muss sich jenes Denken angewöhnen, das einen Gedanken aus dem andern hervorgehen lässt. Ein solches Denken ist entwickelt in meiner ›Philosophie der Freiheit« und ›Wahrheit und Wissenschaft‹. Diese Bücher sind nicht so geschrieben, dass man einen Gedanken nehmen und an eine andere Stelle hinsetzen könnte; sie sind vielmehr so geschrieben, wie ein Organismus entsteht; ebenso wächst ein Gedanke aus dem andern hervor. Diese Bücher haben gar nichts zu tun mit dem, der sie geschrieben hat. Er überließ sich dem, was die Gedanken selbst in ihm erarbeiteten, wie sie sich selbst gliederten. So ist das Studium für den, der es in einer gewissen elementaren Weise absolvieren will, ein Sich-bekannt-Machen mit den elementaren Tatsachen der Geisteswissenschaft selber, während für den, der höher hinauf will, es ein Vertiefen in ein Gedankengebäude ist, das einen Gedanken aus dem andern, aus sich selbst herauswachsen lässt.« (GA 99, S. 159-160)

In besonders präziser Form behandelt Steiner die Bedeutung dieses reinen Denkens im Schulungskapitel der »Geheimwissenschaft ...«, bereits in der 1. Auflage 1909/10. (GA 13, S. 316-320; spätere Auflage: 1977, S. 340-344)

Hier verbürgt das sinnlichkeitsfreie Denken die »innere Gediegenheit der imaginativen Erkenntnis«. Die betreffenden Ausführungen verweisen auf die entsprechenden Ausführungen in »Wie erlangt man ...« zurück, insbesondere die Eigenschaft, die die Unterscheidung des Wesentlichen vom Unwesentlichen, die »objektive Selbstbeobachtung« ergänzen muss, nämlich die Hingabe an den Geist, der sich im (reinen) Denken manifestiert. (»Luzifer-Gnosis«, Nr. 14, S. 36 f.; GA 10, Taschenbuch 1975, S. 27 f.; sowie viele weitere Stellen)

Der »nächstliegende Weg« zu diesem sinnlichkeitsfreien Denken, so Steiner in der »Geheimwissenschaft ...«, ist das Studium der von der Geisteswissenschaft mitgeteilten Tatsachen über die nichtsinnliche Welt. Die Tatsachen können nicht sinnlich beobachtet, aber dennoch begriffen werden. Um die Tatsachen zu beobachten, bedarf es der tätigen Organe der Schau, um die Mitteilungen zu begreifen, bedarf es nur des Denkens.

»Durch bloßes Nachdenken« kann man zur sicheren Überzeugung gelangen, das Mitgeteilte sei wahr. Das menschliche Denken kann mehr begreifen, als man glaubt. Im Gedanken selbst liegt eine »innere Wesenheit«, die im Zusammenhang mit der übersinnlichen Welt steht. Bereits aus der »Theosophie« ist diese Tatsache bekannt. Der Gedanke ist das »Schattenbild« der Urbildwesenheiten im alltäglichen Bewusstsein des Menschen. Übersinnliche Tatsachen scheinen nur »unbegreiflich«, solange das Denken nicht gewöhnt ist, Gedanken zu denken, die sich auf Nichtsinnliches beziehen. Durch den Umgang mit den Darstellungen übersinnlicher Tatsachen eignet man sich ein Denken an, das in seinen Gedankenverknüpfungen eben so sicher ist, wie das Denken, das durch sinnliche Wahrnehmungen geleitet wird.

Man lernt erkennen, »wie im Innern der Seele Gedanke sich an Gedanke webt, wie Gedanke den Gedanken sucht, auch wenn die Gedankenverbindungen nicht durch die Macht der Sinnenbeobachtung bewirkt werden.« (GA 13, 1977, S. 341)

Wesentlich ist die Beobachtung, dass die Gedankenwelt ein inneres Leben besitzt, das von der Sinneswahrnehmung unabhängig ist, dass man sich bereits im Bereich einer »übersinnlichen lebendigen Welt befindet.« (GA 13, 1977, S. 341-342)

Das Denken bildet einen Organismus von Gedanken aus, mit dem der Denkende eins ist, in der Hingabe an sinnlichkeitsfreies Denken erlebt er etwas Wesenhaftes, das in sein Innenleben einfließt, wie die Eigenschaften der sinnlichen Dinge durch die Organe des physischen Leibes. Es ist die übersinnliche Wesenheit des Denkens selbst, die »Gedanke an Gedanken bindet«, einen »Gedankenorganismus« formt. Aber diese Wesenheit des Denkens tritt nicht von außen an den Menschen heran, er selbst ist es, der ihr Erscheinen bewirkt, auch wenn er zugleich vom Erscheinenden, das auf seiner eigenen Gesetzmäßigkeit beruht, durchdrungen wird. In dieser Art des Denkens kündigt sich »ein Wesenhaftes« an, das mit dem Denkenden vereinigt ist. Gedankenverbindungen können Ausdruck der eigenen Willkür sein. Sie können aber auch Ausdruck der inneren Gesetzmäßigkeit des Denkens selbst sein. Der Mensch gibt sich dann dem hin, was »in ihm denkt«. Diese Wesenheit des Denkens wirkt so in ihm, dass sie nur durch sein Mitwirken zur Wirksamkeit gelangt. Man kann nun den Inhalt eines solchen Denkens auch »aus den Mitteilungen des Geistesforschers« schöpfen. »Die Gedanken sind dann zwar bereits da, aber man kann sie nicht denken, wenn man sie nicht in jedem Falle in der Seele wieder neu nachschafft.« (GA 13, 1977, S. 343)

Was Steiner hier beschreibt, ist die intuitive Evidenz, die in der Beobachtung des Denkens erfahren wird, die sich in allen Formen des reinen Denkens aus den Inhalten oder Gesetzen des Denkens ergibt. Das denkende Bewusstsein verknüpft die »Gedankenmassen nach Maßgabe ihres Inhaltes«, wie es in den »Grundlinien ...« heißt. Das menschliche Bewusstsein gibt die »Gelegenheitsursache her, dass sich der Gedankeninhalt seiner eigenen Natur gemäß entfalten kann.« (GA 2, 1979, S. 49)

Eine solche intuitive Evidenz, die aus der Beobachtung der Gedankeninhalte abgeleitet ist, lässt sich auch in der Verknüpfung von Begriffsinhalten erfahren, die sich z.B. auf Wesenheiten wie Engel, Erzengel oder den ideellen Zusammenhang zwischen »Altem Saturn« und physischem Leib, »Alter Sonne« und Ätherleib usw. beziehen. Das »Nachschaffen« der Gedanken in der denkenden Seele führt nicht nur zum Begreifen dieser Gedanken, sondern auch zur Erfahrung der Evidenz ihrer Verknüpfung.

Die ganze Art des Denkens, die an solchen Inhalten geübt wird, unterscheidet sich formal nicht von jener, die scholastische Autoren an geistigen Inhalten übten, die sie aus Offenbarungsschriften übernommen hatten. Die theologischen Summen eines Albertus Magnus, eines Thomas von Aquin, aber auch eines Avicenna oder Maimonides beruhten auf nichts anderem, als auf solchen intuitiven Evidenzen. Diese haben natürlich nichts mit einer so genannten »Lebensphilosophie« zu tun, sondern mit Philosophie im eigentlichen Sinne dieses Wortes. In der betreffenden Passage der »Geheimwissenschaft ...« weist Steiner, wie schon in der »Theosophie«, auf seine philosophischen Werke hin, die er als Instrumente kennzeichnet, an denen das sinnlichkeitsfreie Denken erübt werden könne. (GA 13, 1977, S. 343-344)

Der Weg über die »Grundlinien« und die »Philosophie der Freiheit« sei »sicherer«, »genauer«, aber auch »schwieriger«. Diese Schriften enthalten laut Steiner, was der menschliche Gedanke erarbeiten kann, wenn er sich »nur sich selbst« hingibt. In ihnen arbeite das reine Denken wie eine »in sich lebendige Wesenheit«. Die Schriften stünden auf einer »wichtigen Zwischenstufe« zwischen dem Erkennen der sinnlichen und der geistigen Welt. Das reine Denken selbst bildet die Zwischenstufe zwischen diesen beiden Erkenntnisformen. Wer das reine Denken anhand dieser Schriften übt, »steht bereits in einer geistigen Welt, nur dass sich diese ihm als Gedankenwelt gibt.« (GA 13, 1. Aufl., S. 320; 1977, S. 344)

Das reine Denken ersetzt natürlich weder die Beobachtungsevidenz noch vermag es Existentialurteile über Beobachtungen zu fällen, es vermag jedoch logische Verknüpfungen begrifflicher Inhalte zu überprüfen und diese zu korrigieren und zwar aufgrund der Anschauung der Essenz dieser Inhalte.

Mit diesem reinen Denken hängt eine Form der »Prüfung« der »Ergebnisse der Geistesforschung« zusammen, die auch ohne die Anwendung der spezifischen Methoden dieser Forschung möglich ist. Auf sie weist Steiner bereits in den Vorbemerkungen zur Erstauflage der »Geheimwissenschat im Umriß« hin. Nichts, was die »Geheimwissenschaft« vorbringt, ist nicht »unbefangener Vernunft und gesundem Wahrheitssinn« verständlich. Der Verfasser wünscht sich Leser, die das Vorgebrachte nicht »auf blinden Glauben hin« annehmen, sondern es »an den Erkenntnissen der eigenen Seele und an den Erfahrungen des eigenen Lebens« prüfen. (GA 13, 1. Aufl., S. XV; 1977, S. 14)

1913 ergänzt Steiner an dieser Stelle: »Gemeint ist nicht etwa nur die geisteswissenschaftliche Prüfung durch die übersinnlichen Forschungsmethoden, sondern vor allem die durchaus mögliche vom gesunden, vorurteilslosen Denken und Menschenverstand aus.« (GA 13, 1977, S. 14)

Der Verfasser wünscht sich – so fährt Steiner fort – »vorsichtige Leser«, die »nur das logisch zu Rechtfertigende gelten lassen.« »Sein Buch wäre nichts wert, wenn es nur auf blinden Glauben angewiesen wäre; es ist nur in dem Maße tauglich, als es sich vor der unbefangenen Vernunft rechtfertigen kann.« (GA 13, 1. Aufl., S. XV; 1977, S. 15)

Das »vernunftgemäße Denken kann und soll« zum »Probierstein des Dargestellten« werden. (GA 13, 1. Aufl., S. XIV; 1977, S. 14)

Eine »vernunftgemäße Prüfung«, wie sie »sachgemäß« auch auf die »Tatsachen der Naturwissenschaft angewandt wird«, ist möglich. (GA 13, 1. Aufl., S. XIV; 1977, S. 14)

Drei Prüfungsmöglichkeiten deutet Steiner hier an:

(1) die Prüfung an den Erkenntnissen der eigenen Seele,

(2) an den Erfahrungen des eigenen Lebens,

(3) an den Gesetzen der Logik.

Die ersten beiden beziehen sich auf die geisteswissenschaftlichen Deutungen von Beobachtungen, die bereits dem gewöhnlichen Bewusstsein zugänglich sind, die dritte auf die logische Konsistenz dieser Deutungen. Alle drei sind Plausibilitätsprüfungen.

Das geisteswissenschaftliche Begriffsinstrumentarium kann auf die Erkenntnisse der eigenen Seele und die Lebenserfahrungen angewandt werden und sich als tauglich erweisen, diese zu deuten.

Die begrifflichen Beziehungen der geisteswissenschaftlichen Erklärungen können mittels der Gesetze der Logik auf ihre innere Konsistenz und Widerspruchsfreiheit überprüft werden. Von zwei Seiten her kann auf diese Weise die Plausibilität der Ergebnisse der Geistesforschung geprüft werden.

Einen Existenzbeweis für die Beobachtungen kann eine solche Prüfung natürlich nicht liefern, aber das ist auch bei den Naturwissenschaften nicht immer der Fall. Auch die Naturwissenschaft begnügt sich in vielen Fällen mit Plausibilitätsprüfungen. So gibt es keinen Beobachtungsbeweis für die Existenz der Schwerkraft. Die naturwissenschaftlichen Erklärungen, die beobachtbare Phänomene durch den Begriff der Schwerkraft deuten, sind lediglich plausibel. Die Schwerkraft selbst lässt sich nicht direkt sinnlich beobachten. Sie ist eine »qualitas occulta«, deren Existenz vorausgesetzt werden muss, deren gesetzmäßige Wirkungsweise durch mathematisch-physikalische Begriffe beschrieben wird, so wie der »Ätherleib« für die sinnliche Beobachtung eine »qualitas occulta« ist, deren gesetzmäßige Wirkungsweise durch geisteswissenschaftliche Begriffe beschrieben wird. Noch kein Physiker hat die Schwerkraft unmittelbar beobachtet.

Steiner habe in seinen Ausführungen zu den überhistorischen Quellen der Geistesforschung die möglichen Irrtümer »marginalisiert« und einen »dezidierten Überlegenheitsanspruch« gegenüber der historisch-kritischen Wissenschaft aufgebaut. Diese Behauptungen kann Zander nur aufstellen, weil er die einschlägigen Ausführungen Steiners zu den Irrtumsmöglichkeiten der Geistesforschung zuvor dezidiert dekontextualisiert bzw. marginalisiert hat.

Auf S. 618 schreibt Zander:

»Visionären Irrtum schloss er also nicht ganz aus, marginalisierte ihn jedoch. Gegenüber der historisch-kritischen Wissenschaft baute Steiner einen dezidierten Überlegenheitsanspruch auf, mit dem die Unterstellung einer harmonischen esoterischen Tradition zum Hebel wurde, die Geschichtswissenschaften aufgrund ihrer Quellenprobleme und ihrer Deutungspluralität zu diskreditieren.«

Davon, dass Steiner die Möglichkeit des Irrtums marginalisiert hätte, kann keine Rede sein.

Er hat in seinen Aufsätzen zur »Akasha-Chronik« dreimal ausdrücklich auf diese Irrtumsmöglichkeit hingewiesen.

So bereits im Vorwort:

»Um einem möglichen Irrtum vorzubeugen, sei hier gleich gesagt, dass auch der geistigen Anschauung keine Unfehlbarkeit innewohnt. Auch diese Anschauung kann sich täuschen, kann ungenau, schief, verkehrt sein. Von Irrtum frei ist auch auf diesem Felde kein Mensch; und stünde er noch so hoch. Deshalb soll man sich nicht daran stoßen, wenn Mitteilungen, die aus solchen geistigen Quellen stammen, nicht immer völlig übereinstimmen.« (GA 11, 1969, S. 23)

Im folgenden schränkt er allerdings ein, dieser Beobachtung wohne eine größere Zuverlässigkeit inne, als der sinnlichen Beobachtung, verschiedene Eingeweihte lehrten »im Wesentlichen« über Geschichte und Vorgeschichte dasselbe und »in den Geheimschulen« herrsche seit Jahrtausenden »im Wesentlichen« Übereinstimmung.

Wird dadurch die Irrtumsmöglichkeit marginalisiert? Durchaus nicht. Vielmehr wird auf die spezifische »scientific community«, auf die Diskursgemeinschaft verwiesen, in deren Erkenntnisgespräch die Forschungen Einzelner diskutiert und einer Prüfung unterzogen werden. Steiner deutet hier auf die Kontinuität spiritueller Geschichtserkenntnis, die sich bis in die Anfänge der Mythengeschichte zurückverfolgen lässt. Den möglichen Irrtümern des Einzelnen stehen die Zeugnisse von Jahrtausenden gegenüber, die – in unterschiedlichen symbolischen Formen – , im Wesentlichen dasselbe zum Ausdruck gebracht haben. Soweit die Erkenntnisse der »Eingeweihten« ihren Ausdruck in kosmogonischen und anthropogonischen Mythen oder religiösen Überlieferungen gefunden haben, kann eine vergleichende Mythenforschung und Religionswissenschaft die Hypothese dieser wesentlichen Übereinstimmung überprüfen. (Vgl. dazu: Mircea Eliade, Geschichte der religiösen Ideen; Joseph Campbell, Die Masken Gottes).

Auch in späteren Aufsätzen hebt Steiner die Irrtumsmöglichkeiten hervor, so zu Beginn des Beitrages über die »lemurische« Zeit:

»Wenn auch beim Entziffern der ›Akasha-Chronik‹ alle mögliche Sorgfalt angewendet worden ist, so muss doch betont werden, dass nirgends für diese Mitteilungen irgendwelcher dogmatische Charakter in Anspruch genommen werden soll. Ist schon das Lesen von Dingen und Ereignissen, welche dem gegenwärtigen Zeitalter so fern liegen, nicht leicht, so bietet die Übersetzung des Geschauten und Entzifferten in die gegenwärtige Sprache fast unübersteigliche Hindernisse.« (GA 11, 1969, S. 58)

Diese Passage ist insofern von Bedeutung, als sie nicht nur auf das Problem der »Entzifferung«, also der Deutung von Wahrnehmungen verweist, sondern auch auf das Problem der Übersetzung.

Die Mitteilung der gedeuteten Zeichen der Akasha-Chronik wird mit einer »Übersetzung« verglichen. Aber es handelt sich nicht um eine Übersetzung von einer gegenwärtigen Sprache in eine andere gegenwärtige Sprache, sondern von einer ungesprochenen, symbolischen Schrift oder Sprache in eine gegenwärtige. Diese Übersetzung kann sich nicht nur auf den Wortlaut, sie muss sich auch auf die Vorstellungsart, auf die Begriffsinhalte beziehen.

Was Steiner in den Aufsätzen aus der »Akasha-Chronik« bietet, sind Übersetzungen von geistigen Wahrnehmungsinhalten in eine vollkommen andere Sprache und Bewusstseinsform, eine Vergegenständlichung mystischer Anschauungen in den Vorstellungsformen des zeitgenössischen Bewusstseins. Man kann auch hier den Vergleich mit mythischen Erzählungen aus anderen Epochen heranziehen: die Genesis, die kosmogonischen Mythen der Babylonier, der Ägypter, der indianischen oder afrikanischen Völker, sie alle enthalten symbolische Beschreibungen von Entwicklungsvorgängen in den Vorstellungs- und Sprachformen ihrer Zeit und ihrer jeweiligen Kultur. Allen gemeinsam ist, dass sie eine Aufeinanderfolge unterschiedlicher Zustände, Übergänge, Entwicklungen in erzählerischer Form beschreiben. Sie beschreiben diese in den sprachlichen und begrifflichen Ausdrucksformen ihrer jeweiligen Kultur. Ihre formale Struktur kann analysiert werden, die essenziellen Gehalte können gedeutet werden, wenn man von den verschiedenartigen Ausdrucksformen absieht. Dies gilt auch für Steiners Schilderungen der Menschheitsevolution in der hier besprochenen Aufsatzfolge – übrigens für alle anderen entsprechenden Schilderungen – : es handelt sich um Beschreibungen von aufeinanderfolgenden Zuständen, Entwicklungen, in den Sprach- und Vorstellungsformen der Zeit und Kultur, für die sie geprägt sind.

Noch einmal, zu Beginn des Kapitels über die hyperboräische und polarische Zeit weist Steiner auf diese beiden Probleme hin:

»Die Entzifferung der Akasha-Chronik auf diesem Gebiete ist nicht gerade leicht. Der das geschrieben hat, macht auch keineswegs den Anspruch auf irgendeinen Autoritätsglauben. ... Jede Korrektur, die auf Sachkenntnis beruht, wäre ihm lieb. ... Die Einzeichnungen in der ›Akasha-Chronik‹ sind nur schwer in unsere Umgangssprache zu übersetzen. Leichter ist die Mitteilung in der in Geheimschulen üblichen symbolischen Zeichensprache, deren Mitteilung aber gegenwärtig noch nicht erlaubt ist. Deshalb möge der Leser manches Dunkle und Schwerverständliche hinnehmen und sich zu einem Verständnisse durchwinden, wie sich der Schreiber zu einer allgemeinverständlichen Darstellungsart durchzuwinden suchte ... Ein Wahrnehmungsirrtum ist natürlich dort wie da möglich.« (GA 11, 1969, S. 100)

Was Steiner also versuchte, war die Übersetzung von Engrammen des Weltgedächtnisses, die in einer zeichenhaften Form vorliegen, in eine Sprache, die seiner Zeit verständlich sein sollte. Es ist davon auszugehen, dass sich diese Äußerungen nicht nur auf die Umgangssprache, sondern auch auf die Begriffssprache der Zeit beziehen.

Steiner beansprucht also weder Unfehlbarkeit, noch dogmatische Gültigkeit seiner Forschungen, er weist ausdrücklich mehrfach auf die Irrtumsmöglichkeiten (Wahrnehmungsirrtümer, Deutungsirrtümer) hin, lädt zu Korrekturen ein, sofern sie auf Sachkenntnis beruhen, und betont die außerordentliche Schwierigkeit der Übersetzung in die Umgangssprache. Insbesondere die Übersetzung bietet »fast unübersteigliche Hindernisse«.

Angesichts all dieser Hinweise scheint die Bemerkung Zanders, Steiner habe die Irrtumsmöglichkeiten der Geistesschau marginalisiert, ungerechtfertigt.

Diese Irrtumsmöglichkeiten vermehren sich, wenn man der Frage nachgeht, was es eigentlich bedeutet, wenn Steiner von fast »unübersteiglichen Hindernissen« der Übersetzung spricht. Müssten seine Darstellungen, um richtig verstanden zu werden, nicht eigentlich auf den »Urtext« der Akasha-Chronik zurückbezogen, in diesen zurückübersetzt werden? Eine anthroposophische, geisteswissenschaftliche Hermeneutik müsste fragen, was alles an den Ausdrucksformen für die »Einzeichnungen der Akasha-Chronik« der Übersetzung in die habituelle Begriffs- und Umgangssprache zuzurechnen und was der substantielle Gehalt ist, der durch die Sprachformen der Umgangssprache zum Ausdruck gebracht wird. Eine solche Hermeneutik hätte nicht nur die Sprachformen, sondern auch die Vorstellungs- und Begriffsformen zu untersuchen, die der begrifflichen Umgangssprache der Zeit angehören, in die Steiner die genannten »Einzeichnungen« übersetzt hat. Dies gilt sowohl für die damaligen naturwissenschaftlichen als auch für die theosophischen Sprach- und Denkformen.

Baut nun Steiner, wie Zander behauptet, indem er das Schauen, das sich dem Ewigen im Zeitlichen, dem Unvergänglichen im Vergänglichen zuwendet, einen »Überlegenheitsanspruch« auf, mit dem er die Geschichtswissenschaften zu »diskreditieren« sucht? Entzieht er seine Vorstellungen einer »historiographischen Überprüfung«, »immunisiert« er »seine Schau« gegen den »Zugriff der Historiographie«? (Zander I, S. 618-619) Entzieht er, wie Zander meint, die »alten Inder« dem prüfenden Zugriff der »äußeren Wissenschaft«, wenn er einerseits an ihnen »als historischer Größe« festhält, andererseits aber zugleich behauptet, »äußere Dokumente« für deren Existenz gebe es nicht, wie er »im Vorgriff« auf die »Geheimwissenschaft im Umriss« Steiner vorwirft? (Zander I, S. 618-619)

Oder allgemeiner formuliert: Lassen sich die Ergebnisse der Geistesforschung mit empirischen Methoden verifizieren oder falsifizieren? Die Tatsache, dass Steiner wiederholt darauf hinweist, er lasse sich von anderen Geistesforschern gerne korrigieren, deutet darauf hin, dass es ihm nicht um eine Immunisierung gegen Kritik oder kritische Überprüfung ging. Weiter oben wurde der Satz zitiert, dem Verfasser der Aufsätze sei »jede Korrektur, die auf Sachkenntnis« beruhe, »lieb.« Dieser Satz setzt allerdings »Sachkenntnis« voraus. Ohne entsprechende Sachkenntnis läuft also, nach Steiners Auffassung, jeder Kritikversuch ins Leere. Was ist aber unter Sachkenntnis zu verstehen? Ist damit nur die Kenntnis gemeint, die sich durch eine vergleichbare Geistesforschung gewinnen lässt oder auch jede andere denkbare Sachkenntnis, die möglicherweise aus anderen Quellen geschöpft ist?

Die Vorrede zur »Geheimwissenschaft im Umriss« von 1909 bemerkt zu dieser Frage, das »vernunftgemäße Denken« könne und solle »in vollem Maß« »zum Probierstein des Dargestellten werden«. Wer auf den Inhalt der »Geheimwissenschaft« die vernunftgemäße Prüfung ebenso anwende, »wie sie sachgemäß zum Beispiel auf die Tatsachen der Naturwissenschaft angewendet wird«, der werde entscheiden können, »was die Vernunft bei solcher Prüfung sagt«. Obwohl die »Geheimwissenschaft« sich mit Gegenständen befasse, die dem »an die Sinnenwelt gebundenen Verstand nicht erforschbar« seien, werde in ihr nichts vorgebracht, das nicht »unbefangener Vernunft und gesundem Wahrheitssinn« verständlich sei. Steiner wünscht sich ausdrücklich Leser, die »nicht gewillt sind, auf blinden Glauben hin die vorgebrachten Dinge anzunehmen, sondern welche sich bemühen, das Mitgeteilte an den Erkenntnissen der eigenen Seele und an den Erfahrungen des eigenen Lebens zu prüfen. Er möchte vor allem vorsichtige Leser, welche nur das logisch zu Rechtfertigende gelten lassen.« »Sein Buch wäre nichts wert, wenn es nur auf blinden Glauben angewiesen wäre; es ist nur in dem Maße tauglich, als es sich vor der unbefangenen Vernunft rechtfertigen kann.« (GA 13, 1977, S. 15)

Diese Äußerungen, denen viele gleichlautende aus dem Vortragswerk zur Seite gestellt werden könnten, deuten darauf hin, dass Steiner nicht der Auffassung war, die Ergebnisse der Geistesforschung seien der Prüfung durch die Erkenntnisse und Erfahrungen des »Alltagsbewusstseins« entzogen. Vielmehr fordert er seine Leser zu einer solchen Prüfung auf, »wie sie sachgemäß zum Beispiel auf die Tatsachen der Naturwissenschaft angewendet wird«. Sachgemäße Prüfung kann nur heißen, dass diese Prüfung unter Berücksichtigung der methodischen Voraussetzungen und des begrifflichen Rahmens der Geisteswissenschaft zu erfolgen hat, wie dies auch in den Naturwissenschaften der Fall ist. Die Prüfung ist also nicht voraussetzungslos. Sie ist aber in keiner Wissenschaft voraussetzungslos. Sie kann auch nur unter Anerkennung der methodischen Grenzen der jeweils angewandten Prüfungsmethoden erfolgen. Steiner behauptet deswegen auch nicht, der Inhalt der »Geheimwissenschaft« sei durch die Methoden der Naturwissenschaft überprüfbar, sondern er spricht von einer vernunftgemäßen Prüfung, die auch auf die Tatsachen der Naturwissenschaft angewandt werde. Die vernunftgemäße Prüfung schließt die »Erkenntnisse der eigenen Seele«, die »Erfahrungen des eigenen Lebens« und die »logische Rechtfertigung« ausdrücklich ein. Manche Inhalte der »Geheimwissenschaft« können durch die Lebenserfahrung, manche durch die Erkenntnisse der eigenen Seele geprüft werden, alle jedoch können zweifellos einer logischen Plausibilitätsprüfung unterzogen werden.

Gerade diese Möglichkeiten der Prüfung ignoriert Zander jedoch systematisch. Er praktiziert nur eine einzige Form der Prüfung: den Bezug der Inhalte der Steinerwerks auf andere Texte, die auf gänzlich anderen methodologischen Voraussetzungen beruhen und insofern mit den untersuchten Texten größtenteils inkompatibel sind. Eine solche Prüfung ist nicht vernunftgemäß.

Die Texte Steiners könnten nur mit Texten verglichen werden, die auf ähnlichen, vergleichbaren methodischen Voraussetzungen beruhen, also Texten der Religions- und Mythengeschichte, der esoterischen Traditionen, die aus Erkenntnisquellen hervorgegangen sind, auf die auch Steiner sich beruft. Wo Zander vergleichbare Texte heranzieht, nämlich die theosophischen Literaturen, ist sein Vergleich von der Absicht beherrscht, den Nachweis einer Abhängigkeit, des Plagiats zu führen. Diese scheinbaren Beweise für Abhängigkeiten könnte man jedoch auch als weitgehende Übereinstimmungen, also Bestätigungen lesen. Eine solche Lesart zieht Zander jedoch nirgends in Betracht.

Im Unterkapitel 7.5.4 setzt sich Zander mit dem Thema »Rassen« auseinander und frägt unter anderem nach »Rassismus« im Werk Rudolf Steiners. Unter der Überschrift: »Die Geschichte der Menschheit und ihrer Rassen« gibt er einen kurzen, schematischen Überblick über die theosophischen »Wurzelrassen« und »Unterrassen«, greift aber bei seiner Systematisierung über die »Akasha-Chronik« bis in die »Geheimwissenschaft im Umriss« voraus. Zanders Auseinandersetzung mit diesem Thema ist ein Musterbeispiel für sinnentstellende Dekontextualisierung.

Auf S. 624 schreibt Zander:

»7.5.4 Die Geschichte der Menschheit und ihrer Rassen. a. Rassen als Medium der Evolution. Im Rahmen der ›Schau‹ in die Akasha-Chronik bot Steiner eine Entwicklungsgeschichte der Menschheit, in der er dann wiederum eine Rassentheorie inkorporierte.«

Die Auseinandersetzungen mit dem Thema nehmen die Seiten 624-637 ein.

Schon die Überschrift dieses Kapitels trifft nicht den richtigen Sachverhalt.

Erstens können die sogenannten »Wurzelrassen« nicht als »Rassen« im anthropologischen Sinn betrachtet werden, weder nach dem Verständnis Blavatskys noch nach dem Steiners.

Was ist von einer sogenannten Rasse zu halten, die physisch gar nicht existiert, wie das bei der polarischen, der hyperboräischen und dem größten Teil der lemurischen »Wurzelrasse« der Fall ist, in der erst die Geschlechtertrennung stattfindet, die geschlechtliche Fortpflanzung auftritt und damit die mögliche Vererbung von physischen »Rasseneigenschaften«?

Obwohl Blavatsky und Steiner hier (in Anknüpfung an die theosophische Terminologie) den Ausdruck »Rasse« verwenden, haben doch die Vorformen des Menschen, die mit diesen Ausdrücken bezeichnet werden, nicht das Entfernteste mit den Rassen der Anthropologie des 19. und 20. Jahrhunderts zu tun.

Es ist eben zu berücksichtigen, dass der Begriff »Rasse« im 19. Jahrhundert, in dem das Werk Blavatskys entstand, an das Steiner bei der Verwendung des Begriffs der Wurzelrassen anknüpfte, eine viel weitere Bedeutung haben konnte, als der spezifische Rassenbegriff der physischen Anthropologie.

Steiner selbst weist auf diese Tatsache in der Aufsatzfolge »Aus der Akasha-Chronik« in einem Teil hin, der im August 1907 erschienen ist. Hier bemerkt er, der Ausdruck »Hauptrassen« (Wurzelrassen) sei auf die polarische, hyperboräische und lemurische Menschheit nicht anwendbar, weil es sich bei diesen Vorformen des Menschen nicht um »Rassen« im anthropologischen Sinn gehandelt habe (GA 11, 1969, S. 209 f). Wörtlich heißt es in diesem Aufsatz:

»Wieder ist die Bezeichnung ›Rasse‹ für diesen Entwicklungszustand [den lemurischen, kursiv Red.] keine besonders glückliche. Denn mit dem, was man gegenwärtig als ›Rasse‹ bezeichnet, können die damaligen Menschenvorfahren nur im uneigentlichen Sinn verglichen werden. ... Im Grunde kann man von ›Rassen‹ erst anfangen zu sprechen, wenn in dem ... dritten Hauptzustand (dem lemurischen, [kursiv Red.]) die Entwicklung etwa in ihrem zweiten Drittel angelangt ist. Da bildet sich erst das heraus, was man jetzt ›Rassen‹ nennt. Es behält dann diesen ›Rassencharakter‹ bei in der Zeit der atlantischen Entwicklung, im vierten Hauptzustand, und weiter bis in unsere Zeit des fünften Hauptzustandes [kursiv Red.]. Doch schon am Ende unseres fünften Zeitalters wird das Wort ›Rasse‹ wieder allen Sinn verlieren. Die Menschheit wird in der Zukunft in Teile gegliedert sei, die man nicht mehr wird als ›Rassen‹ bezeichnen können.«

Einige Zeilen weiter heißt es:

»Auch das, was ›Rasse‹ genannt zu werden verdient, entsteht und vergeht. Und man dürfte den Ausdruck ›Rasse‹ nur für eine gewisse Strecke der Menschheitsentwicklung anwenden. Vor und nach dieser Strecke liegen Entwicklungsformen [kursiv Red.], die eben etwas ganz anderes sind als ›Rassen‹« (GA 11, 1969 S. 209-210).

Wie man sieht, ersetzt Steiner hier den Ausdruck »Hauptrasse« oder »Wurzelrasse« (den er gar nicht verwendet) durch die Ausdrücke »Hauptzustand«, »Entwicklungszustand«, »Entwicklungsform«.

»Wurzelrasse« meint also einen bestimmten Entwicklungszustand oder einen bestimmten Entwicklungszeitraum, den die Menschheit als Ganze durchläuft. Erst gegen Ende der lemurischen Zeit bildet sich etwas heraus, was mit den heutigen »Rassen« verglichen werden kann, es behält diesen »Rassencharakter« bei (Steiner setzt diese Ausdrücke in Anführungszeichen) und am Ende des fünften »Hauptzustandes« (nicht der fünften »Wurzelrasse«) wird das Wort »Rasse« schon wieder allen Sinn verlieren.

Am Ende des fünften Hauptzustandes wird das, was sich als »Rassendifferenzierung« im Wesentlichen in der atlantischen Zeit entwickelt hat, vollkommen verschwunden sein: die physische Verschiedenheit der Menschheit. Dieser fünfte Hauptzeitraum endet im 7., 8. Jahrtausend nach Christus. Steiner rechnete also damit, dass die physischen Unterschiede zwischen den Menschen innerhalb von fünf bis sechs Jahrtausenden völlig verschwunden sein werden.

Nun darf man sich durch diese Prognose nicht dazu verleiten lassen, zu glauben, Steiner hätte dieser physischen Differenzierung der Menschheit in der Gegenwart eine besondere Bedeutung beigemessen. Sie spielt weder für die Konstitution von Geschichte noch für deren Verständnis, erst recht nicht für die Gestaltung der politischen oder sozialen Verhältnisse in der Gegenwart eine Rolle. Der Sinn der Geschichte ist das Verschwinden der physischen Differenzen. Der Sinn der Geschichte ist das Hinauswachsen aus den in archaischen Zeiträumen entstandenen physischen Unterschiede durch eine von diesen unabhängige, seelische und geistige Entwicklung der Menschheit.

Dies geht aus vielen Darstellungen Steiners hervor, insbesondere aus Vorträgen, die er bei mehreren Gelegenheiten im Jahr 1908 hielt. In Vorträgen über das Johannes-Evangelium verneint Steiner ausdrücklich die Anwendbarkeit des »Rassen«begriffs auf die in der nachatlantischen Zeit aufeinanderfolgenden Kulturen:

»Denn diese sieben aufeinanderfolgenden Stufen der Menschheit auf der alten Atlantis waren auch noch körperlich ... sehr voneinander verschieden, während gar keine Rede davon sein kann, dass etwa die erste Menschheit der nachatlantischen Zeit, die alten Inder [ab ca. 8.000 v. Chr.], von uns so weit verschieden waren, dass wir noch den Ausdruck ›Rasse‹ darauf anwenden dürften. Man muss ja immer die Kontinuität der Theosophie festhalten, und daher ist es ja oft notwendig, an diesen alten Begriff der Rassen anzuknüpfen. Aber man erweckt doch zu leicht falsche Vorstellungen durch das Wort ›Rasse‹, weil man übersieht, dass das Einteilungsmotiv für die Menschheit, das wir heute haben, ein viel innerlicheres ist als das, welches mit dem Ausdruck der ›Rasse‹ zusammenhängt.« (GA 103, »Das Johannes-Evangelium«, 1908, S. 168)

Die anthropologische Kategorie der »Rasse« ist nach diesen Worten ein »äußerliches« Motiv, und dem, was sich in der nachtatlantischen Zeit an Kulturen entwickelt hat, nicht angemessen. »Heute schon« hat der Kulturbegriff den Rassenbegriff abgelöst. Aber dieses »heute« schließt den ganzen nachatlantischen Zeitraum ein.

»Deshalb sprechen wir auch von Kulturzeitaltern im Gegensatz zu ›Rassen‹. Alles das, was etwa verknüpft ist mit dem Rassenbegriff, ist noch Überbleibsel des Zeitraumes, der dem unseren vorangegangen ist, des atlantischen. Wir leben im Zeitraum der Kulturepochen. Die Atlantis war der Zeitraum, wo sich nach und nach sieben aufeinander folgende große ›Rassen‹ bildeten. Natürlich, die Früchte dieser Rassenbildung ragen herein auch in unser Zeitalter, daher spricht man auch heute noch von Rassen. Das sind aber schon Verwischungen jener scharfen Trennungen in der atlantischen Zeit. Heute hat schon der Kulturbegriff den Rassenbegriff abgelöst. Daher sprechen wir von der alten indischen Kultur, von welcher die Kultur, die uns in den Veden angekündigt wird, nur ein Nachklang ist. Die uralt-heilige indische Kultur ist die erste Morgenröte der nachatlantischen Kultur, sie folgt unmittelbar auf die atlantische Zeit.« (GA 104, »Die Apokalypse des Johannes«, 20.06.1908, S. 69)

Deswegen kann man auch heute zwar noch von »Rassen« sprechen, aber nur in einem solchen Sinn, dass diese Rassen »Überbleibsel« eines archaischen Entwicklungszeitraums und im »Verschwinden« begriffen sind.

»Wenn man heute von ›Rassen‹ spricht, bezeichnet man etwas, was nicht mehr ganz richtig ist. ... Es hat zum Beispiel schon gegenüber der heutigen Menschheit keinen rechten Sinn mehr, von einer bloßen Rassenentwicklung zu sprechen. Von einer solchen Rassenentwicklung im wahren Sinne des Wortes können wir nur während der atlantischen Entwicklung sprechen. ... In unserer Zeit wird der Rassenbegriff in einer gewissen Weise verschwinden, da wird aller von früher her gebliebene Unterschied nach und nach verschwinden. So dass alles, was in Bezug auf Menschenrassen heute existiert, Überbleibsel aus der Differenzierung sind, die sich in der atlantischen Zeit herausgebildet hat. Wir können noch von ›Rassen‹ sprechen, aber nur in einem solchen Sinn, dass der eigentliche Rassenbegriff seine Bedeutung verliert.« (GA 105, Welt, Erde und Mensch, 16.08.1908, S. 183-184)

Wie man aus diesen Bemerkungen sieht, ist Steiner der Auffassung, dass der Rassenbegriff kein Begriff ist, der auf die Menschheitsgeschichte oder die Menschheit noch anwendbar wäre. Rassen sind Überbleibsel, Rudimente aus der atlantischen Zeit und sie werden gänzlich verschwinden. Aus der Anwendung von Rassenbegriffen ist keinerlei Verständnisertrag zu erwarten, der über eine mögliche Erklärung der Entstehung der Rassendifferenzierung selbst hinausginge. Seit dem Beginn der nachatlantischen Zeit kann man im Hinblick auf die Menschheitsgeschichte nicht mehr von einer Rassenentwicklung, sondern nur noch von einer Kulturentwicklung sprechen. Deshalb kann Steiner sogar einen Gegensatz zwischen »Kulturzeitaltern« und »Rassen« konstatieren: er selbst spricht von Kulturzeitaltern, nicht von Rassen, wenn er von der nachatlantischen Zeit spricht. Überhaupt kann man nur noch in einem solchen Sinn von Rassen sprechen, dass der »eigentliche Rassenbegriff« seine Bedeutung verliert bzw. seit dem Beginn der nachatlantischen Zeit verloren hat.

Während nun die »Unterrassen« der atlantischen Zeit in der »Akasha-Chronik« behandelt werden, tauchen die »Unterrassen« der nachatlantischen Zeit in dieser Aufsatzfolge gar nicht erst auf und dort, wo Zander sie findet, in der »Geheimwissenschaft im Umriss«, erscheinen sie nicht als »Unterrassen«, sondern als »Kulturepochen«. Zwischen den frühen Darstellungen der »Akasha-Chronik« und der »Geheimwissenschaft im Umriss« liegt die Problematisierung des »Wurzelrassen«begriffs bzw. »Rassen«begriffs durch Steiner in der Aufsatzfolge »Aus der Akasha-Chronik« selbst und in seinem Vortragswerk.

In der »Geheimwissenschaft im Umriss« wiederum, auch in der ersten Auflage, tauchen die Wurzelrassen überhaupt nicht mehr auf, es ist statt dessen vom polarischen, hyperboräischen, lemurischen Zeitalter oder Zeitraum die Rede (GA 13, »Geheimwissenschaft im Umriss«, 1. Aufl., 1909, S. 235).

Es ist unhistorisch, die verschiedenen Entwicklungsstufen der Anschauungen Steiners so miteinander zu vermengen, wie Zander dies tut. Auch wenn man die Schilderungen Steiners über die polarische, hyperboräische und lemurische Menschheit zur Kenntnis nimmt, zeigt sich das offensichtliche Missverständnis, das in einer rassenanthropologischen Interpretation besteht. So spricht Steiner im Hinblick auf den polarischen Zeitraum in der »Akasha-Chronik« von »Astralvorfahren« des Menschen, die in die Äthererde hineinversetzt wurden und sich in dieser ätherische Leiber bildeten. Diese Menschenvorfahren pflanzten sich fort, indem sie sich in Tochterwesen spalteten, die ebenso seelenbegabt waren wie sie, denn die Mutterseelen gliederten sich wie Seelenbäume in ihren Nachfahren auf. Die Astralvorfahren der polarischen Zeit waren im Grunde ein einziges »Gehörorgan«. Ähnliches gilt auch für die hyperboräische Epoche, in der weiterhin Mutterwesen ihre Tochterwesen parthenogen aus sich hervorgehen lassen. Noch in der lemurischen Zeit war der Leib des Menschen nur bis zur »Wässrigkeit verdichtet«. Selbst noch im Hinblick auf das Ende der atlantischen Zeit kann Steiner, wenn er von den Vorfahren des heutigen Menschen spricht, von »menschenartigen Wesen«, statt von Menschen im heutigen Sinn sprechen (GA 11, 1969, S. 48).

Aber nicht nur dies. Auch wenn man die Darstellungen Steiners im Kapitel über unsere atlantischen Vorfahren (GA 11, 1969, S. 26-43) einer näheren Betrachtung unterzieht, dann zeigt sich, dass diese Ausführungen alles andere als eine Rassenanthropologie enthalten.

Das betreffende Kapitel stellt vielmehr eine Studie Steiners über die Metamorphosen der Lebenskraft dar, deren unterschiedliche Ausprägung den Inhalt der einzelnen Entwicklungsstufen der atlantischen Menschenvorfahren bildet. Diese einzelnen Entwicklungsstufen wiederum werden nicht mit anthropologischen Begriffen beschrieben, sondern mit Begriffen, die ihre Seeleneigenschaften und die spezifischen Kulturformen charakterisieren, die aus diesen Seeleneigenschaften hervorgegangen sind.

Im Gegensatz zu Scott-Elliots Buch »Atlantis, nach okkulten Quellen« (W. Scott-Elliot, »The Story of Atlantis«, New York 1882), in dem die »Außenseite« der atlantischen Geschichte verzeichnet sei, will Steiner den »seelischen Charakter« und die »innere Natur« der atlantischen Verhältnisse schildern. Diese Absichtserklärung bewahrheitet sich, wenn man die Ausführungen Rudolf Steiners liest.

Was auf den ersten Blick wie die schlichte Erzählung einer geschichtlichen Tatsachenreihe erscheint, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als Entfaltung einer inneren Entwicklungslogik und zwar der Entwicklungslogik der Lebenskraft. Die atlantische Zeit ist die Zeit der Metamorphose der Lebenskraft, die dem Gesetz der Metamorphose gemäß durch sieben Stufen verläuft, drei aufsteigende, eine vierte, mittlere und drei absteigende.

Was Steiner als Geschichte der atlantischen »Wurzelrasse« beschreibt, ist die Metamorphose der in der Lebensorganisation fundierten menschlichen Gedächtnis- oder Erinnerungskraft, die eine Jugendzeit, einen Reifezustand und einen Verfallsprozess durchläuft. Wer – durch die Verwendung der Ausdrücke »Wurzelrasse« und »Unterrasse« verleitet – in der Geschichte »unserer atlantischen Vorfahren« eine Rassenanthropologie erwarten würde, wird enttäuscht: Steiners Schilderungen gehen mit keinem Wort auf mögliche anthropologische Differenzierungen ein, er schildert keine Rassen, keine physischen Merkmale, durch die sie sich voneinander unterscheiden würden, sondern bestimmte Seelenfähigkeiten und Kulturformen, die mit diesen Seelenfähigkeiten zusammenhängen.

Das Gesetz dieser Entwicklung benennt Steiner ausdrücklich im Absatz sieben des Aufsatzes über »unsere atlantischen Vorfahren«:

Die Haupteigenschaften einer »Wurzelrasse«, also einer Entwicklungsepoche, eines »Hauptzustandes« der Menschheit, durchlaufen einen jugendlichen Zustand, gelangen allmählich zur Reife und zuletzt auch zum Verfall. Das ist das Gesetz aller Entwicklung. Es gibt nichts, was in der Zeit entsteht und ewig unverändert bleibt. Das würde dem Wesen der Zeit und des in der Zeit Entstehenden widersprechen. Was für das einzelne Lebewesen gilt, gilt auch für das Leben der gesamten Menschheit, für Völker, Kulturen und Epochen. Es gibt keinen unüberschreitbaren Höhepunkt der Geschichte, es gibt keinen unaufhaltsamen Aufstieg. Jeder Fortschritt überholt sich irgendwann selbst und wird durch neue Lebensformen abgelöst. Der Tod ist unausweichlich, der Niedergang aller geschichtlichen Formen gehört zum Wesen der Geschichte, nichts ist für die Ewigkeit gebaut.

Dieses Gesetz bezeichnet Steiner auch als Fortschritt der Geschichte. Fortschritt ist aber nicht nur Aufstieg, sondern auch Niedergang, Leben ist nicht nur Werden, sondern auch Vergehen, Tod. Alle Kulturen entstehen und vergehen, so wie der einzelne Mensch entsteht und vergeht. Aber in diesem Werden und Vergehen kommt das Ewige zur Erscheinung, das das Werdende und Vergehende generiert, es durchdringt und sich in ihm abbildet. Auch die abendländische Zivilisation stellt nur eine Entwicklungsform des menschheitlichen Bewusstseins dar, der Fortschritt der Geschichte wird über diese Zivilisation und Bewusstseinsform ebenso hinausgehen, wie über alle vorangegangenen, ja die Geisteswissenschaft hat die Aufgabe, die abendländische Bewusstseinsform zu überschreiten, eine künftige Bewusstseinsform der Menschheit vorzubereiten. Der Grund liegt in der Begrenztheit, im defizitären Charakter dieser Bewusstseinsform. Die ganze Anthroposophie ist nur zu verstehen, wenn man sie als Versuch begreift, diese defizitäre Bewusstseinsform, die nicht der Gipfel der geschichtlichen Entwicklung ist, zu überschreiten.

Was war die Grundeigenschaft der Atlantier? Der logische Verstand, die rechnerische Kombinationsfähigkeit fehlte ihnen ganz. Sie konnten nicht denken, so wie wir dies können. Dafür besaßen sie ein hoch entwickeltes Gedächtnis. Das Gedächtnis war die »hervorstechendste Geistesfähigkeit« der Atlantier. Wir denken in Begriffen, die Atlantier dachten in Bildern. Wir schließen und kombinieren, die Atlantier reproduzierten Bilder ihrer Erfahrungen und handelten aus der Erinnerung. Aber das Gedächtnis, so Steiner, steht der »tieferen Naturgrundlage des Menschen näher als die Verstandeskraft«, es beruht auf der »Lebenskraft«. Diese Lebenskraft, deren Träger der Ätherleib des Menschen ist, bildet das Zentralmotiv der atlantischen Entwicklung. Die Metamorphose und Beherrschung der Lebenskräfte ist das Urthema des atlantischen Entwicklungszustandes. Sie bildet auch die Grundlage der Ausführungen Steiners über die technischen Errungenschaften der Atlantier, die auf der Beherrschung dieser Lebenskraft beruhten. Steiners Darstellungen über diese technischen Errungenschaften ergeben sich nicht aus einer theosophischen Quelle (Scott-Elliot), sondern aus der inneren Logik dieser Grundtatsache.

Wie eine genauere Untersuchung zeigt, spielt eine mögliche Rassenanthropologie in der ersten Skizze der atlantischen Zeit aus Steiners Feder keinerlei Rolle. Sie ist von einem inneren strukturbildenden Prinzip beherrscht, der Metamorphose der Lebenskräfte, die jeweils durch das Vorherrschen der Kräfte eines Wesensgliedes des Menschen von einer Stufe in die nächste geführt werden.

Dabei liegt der Höhepunkt der Metamorphose nicht am Ende der atlantischen Entwicklung, sondern in deren Mitte bzw. in der fünften Epoche, als mit dem Einschlag des Neuen, das die vierte Stufe vorbereitet, bereits das Hauptmotiv der Entwicklung der nachatlantischen Menschheit in Erscheinung tritt.

Ähnlich stellt sich auch die Entwicklung der Kulturen der nachatlantischen Zeit dar. Den Höhepunkt der Kulturentwicklung erreicht die Menschheit in der nachatlantischen Zeit nicht am Ende dieser Epochen sondern in der Mitte, in der griechisch-lateinischen Zeit, in der das Höchstmaß an Einklang zwischen Sinnlichem und Geistigem erreicht wird.

In physischer Beziehung befindet sich die Menschheit bereits in einer absteigenden Entwicklung, denn den Höhepunkt der physischen Entwicklung hat sie in der atlantischen Zeit erreicht. Wo aber das Physische sich im Niedergang befindet, kann das Seelische und Geistige umso mehr hervortreten.

Deswegen ist die nachatlantische Menschheit eine Zeit der Kulturentwicklung, in der die Menschheit als Ganze nacheinander unterschiedliche Kulturen durchläuft. Diese Kulturen repräsentieren wiederum Bewusstseinsformen, die durch die unterschiedlichen Beziehungen des seelisch-geistigen Wesens des Menschen zur sinnlichen und zur geistigen Welt gekennzeichnet sind. Diese Bewusstseinsformen sind nicht auf bestimmte geographische Schauplätze beschränkt, sondern finden sich zu den jeweiligen Hochblüten der Initialkulturen überall auf der Erde.

Während die Menschheit zu Beginn der nachatlantischen Zeit mit der uralt-indischen Kultur auf der höchsten Höhe der Spiritualität steht und die nachfolgenden Kulturen einen Abstieg von dieser Höhe darstellen, bildet sich zugleich mit diesem Abstieg das Bewusstsein vom individuellen Ich immer stärker aus, das gleichsam aus den unbewussten Tiefen des seelischen Lebens aufsteigt oder aus den geistigen Höhen, in denen es sich zu Beginn aufhält, absteigt. Aber diese ganze Charakterisierung von Bewusstseinsformen und Kulturen unter dem Gesichtspunkt von Höherem und Niederem ist ohnehin relativ, denn, wie es in der »Akasha-Chronik« heißt:

»An sich ist überhaupt nicht etwas ein Höheres oder Niedrigeres, sondern nur im Verhältnis zu einem anderen. Und was in einer Beziehung hoch steht, kann nach einer anderen Richtung sehr tief stehen.« (GA 11, Tb-Ausgabe, S. 104)

Wie sehr Zander bei seinen dekontextualisierden Rekonstruktionen zu reduktionistischen Simplifizierungen neigt, zeigt das Beispiel der »Kulturepochen«. Zander behauptet, Steiners Lehre von den Kulturepochen verlaufe linear und sei eurozentrisch.

Auf S. 625 schreibt Zander:

»Die Geschichte verlaufe demnach linear und eurozentrisch ...«

Es ist unzutreffend, wenn Zander behauptet, Steiners Lehre von den Kulturepochen verlaufe linear und sei eurozentrisch.

Wie komplex in Wahrheit die Entwicklung der Menschheit (in der nachatlantischen Zeit, aber nicht nur in dieser) verläuft, zeigt sich, wenn man berücksichtigt, dass nach Steiners Auffassung für die Entwicklung der Menschheit nicht nur eine gegenläufige, sich durchdringende Aufstiegs- und Abstiegsbewegung konstitutiv ist, dass vielmehr mindestens zwei weitere unterschiedliche Evolutionströmungen in dieser Entwicklung durch einander laufen:

• eine Entwicklung der Menschheit als Ganzer und

• eine Entwicklung des einzelnen Menschen in der Menschheit.

So stellt Steiner 1918 das Gesetz vom Jüngerwerden der Menschheit dar, nach dem die Menschheit als Ganze sich in den aufeinanderfolgenden nachatlantischen Kulturepochen in einer absteigenden Entwicklung befindet.

Während sie in der urindischen Zeit noch bis zum Ende des achten Jahrsiebts (56. Lebensjahr) körperlich entwicklungsfähig war, konnte sie sich in den folgenden Kulturepochen bei ihrer seelisch-geistigen Entwicklung jeweils um ein Jahrsiebt weniger auf die vererbten Kräfte stützen. Heute ist der Mensch nur bis zum 27., 28. Lebensjahr körperlich entwicklungsfähig. Seine weitere seelisch-geistige Entwicklung muss der heutige Mensch aus spirituellen Impulsen schöpfen.

»Dann wird eine Menschheit kommen, die gar nur entwicklungsfähig bleiben wird bis in das Lebensalter von 14 bis 21 Jahren. Es wird dann der sechste nachatlantische Zeitraum sein [ab dem 3. Jahrtausend nach Christus]. Und so wird es weiter gehen.« (GA 185, 1962, S. 180-182 )

Diese absteigende Evolution betrifft die Menschheit als Ganze. Sie befindet sich demnach in der Epoche der Empfindungsseele, die in der Zeit zwischen dem 21. und 28. Lebensjahr ausgebildet wird.

Daneben steht aber eine andere Evolutionsströmung, in der die einzelnen Menschen, insofern sie in einer Kulturepoche leben, ihr Ich in aufsteigender Reihenfolge an den einzelnen Wesensgliedern spiegeln: in der urindischen Zeit am Ätherleib, in der urpersischen, am Empfindungsleib, in der ägyptischen an der Empfindungsseele, in der heutigen Zeit schließlich an der Bewusstseinseele. Die eine Evolutionsströmung betrifft die ganze Menschheit, die andere den einzelnen Menschen in der ganzen Menschheit. Die ganze Menschheit bringt also die Empfindungsseele zur Entwicklung, der einzelne Mensch in der Menschheit die Bewusstseinsseele. (GA 185, 1962, S. 180-182)

Daraus geht zweierlei hervor:

1. dass die Kulturepochen der nachatlantischen Zeit und die Entwicklungsschritte dieser Epochen Entwicklungsschritte sind, die die ganze Menschheit durchgemacht hat, also nicht nur einzelne Teile, Völker oder gar Rassen;

2. dass die Bewusstseinsseele nicht nur von den sog. germanischen Völkern ausgebildet wird, sondern von den einzelnen Menschen in der Menschheit in der Epoche der Bewusstseinsseele, wiederum unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu einem bestimmten Volk oder gar einer bestimmten Rasse.

Die Behauptung, Steiner verstehe die Kulturentwicklung der nachatlantischen Zeit eurozentrisch ist daher gegenstandslos. Sie ist darüber hinaus auch deswegen gegenstandslos, weil die gegenwärtige Epoche der Kulturentwicklung gerade jene ist, in der die Menschheit ein globales Bewusstsein erlangen muss, das alle Völker und Kulturen der Erde einschließt, und weil diese Epoche keineswegs die letzte oder höchste ist, sondern nur eine in der Abfolge von vielen, auf die zwei weitere folgen werden, nämlich eine »slawische« und eine »amerikanische«.

Die erstere müsste man als eurasisch bezeichnen, die letztere schließt den amerikanischen Doppelkontinent ein. Die beiden künftigen Kulturepochen werden aber nicht auf die genannten Gebiete beschränkt sein, sondern von diesen lediglich bestimmte geistig-kulturelle Impulse empfangen, die in die gesamte Menschheit diffundieren. Also auch die Kultur der Neuzeit, die von Europa eine entscheidende anfängliche Prägung erhalten hat, stellt lediglich eine Durchgangsstufe auf dem Weg der Menschheit zu jenem gemeinsamen Bewusstsein dar, in dem sich die Menschheit wieder als Einheit begreifen wird, die aus der Vielheit, der Partikularisierung und Vereinzelung, hervorgeht.