Eine bemerkenswerte Einsicht, die aber in diametralem Widerspruch zu seinen früheren Thesen steht, formuliert Zander, wenn er schreibt, es gebe »keine schlüssigen externen Motive« für den »Christologisierungsprozess« in Steiners Denken. Die sich hieraus ergebenden Selbstwidersprüche in Zanders Argumentationslinien sind Folge seiner dekontextualisierenden Steinerinterpretation.

Auf S. 796 schreibt Zander:

»Letztlich liegen momentan keine schlüssigen externen Motive für den Christologisierungsprozess im Denken Steiners vor. Man kommt meines Ertrachtens [sic] nicht ohne die Annahme aus, dass Steiner ›den Christus‹ – aus welchen Motiven auch immer – als eine innere Erfahrung deutete. Gegen eine nur machtpolitisch motivierte Christologisierung spricht neben den fehlenden Konflikten in der Theosophischen Gesellschaft im übrigen die Konsequenz, mit der Steiner auch nach der Trennung von der Muttergesellschaft an seiner Christusvorstellung (wohl auch in der persönlichen Praxis) festgehalten hat und die ein ausschließlich strategisches Motiv unwahrscheinlich macht.«

Zander widerspricht sich hier selbst. Auf S. 167-168 schrieb er noch:

»Steiner hat nicht wegen der ›Christus-Frage‹ mit Besant gebrochen, sondern in der Auseinandersetzung mit ihr seine Christologie zu einer bruchfähigen Differenz ausgebaut ... Die spätere Einengung auf die Christus-Frage konnte vor allem angesichts einer über Jahrzehnte fast unbekannten Geschichte der machtpolitischen Hintergründe in der Theosophischen Gesellschaft plausibel erscheinen ... die christologische Thematik kam bei Steiner signifikanterweise erst in dem Augenblick zum Durchbruch, als sich seine Selbstständigkeitsbestrebungen mit den Interessen der Führung in Adyar unter Annie Besant stärker kreuzten, und konsequenterweise ist der Konflikt dann auch nicht an Sachthemen, sondern an Organisationsfragen, die zugleich Machtfragen waren, ausgebrochen ... «

Während hier eindeutig Machtfragen, die man wohl zu den externen Motiven zählen darf, zur »Christologisierung« in Steiners Denken geführt haben, stellen diese Machtfragen rund 630 Seiten später keine hinreichende Erklärung für den »Christologisierungsprozess« mehr dar. Vielmehr muss Zander nun zugestehen, dass Steiner »wohl« »den Christus« als eine innere Erfahrung »deutete« und dass diese »Deutung« entscheidend für die »Christologisierung« war.

Dass Steiner Christus nicht als innere Erfahrung »deutete«, sondern nach seinem eigenen Bekunden diesen Christus innerlich erfuhr und erlebte, lässt sich bereits seinen Büchern »Die Mystik im Aufgang des neuzeitlichen Geisteslebens ...« und »Das Christentum als mystische Tatsache« entnehmen, etwa wenn es in der »Mystik ...« 1901 heißt: »Nicht eine gedankliche Wiederholung, sondern ein reeller Teil des Weltprozesses ist das, was sich im menschlichen Innenleben abspielt. Die Welt wäre nicht, was sie ist, wenn sich das zu ihr gehörige Glied in der menschlichen Seele nicht abspielte. Und nennt man das höchste, das dem Menschen erreichbar ist, das Göttliche, dann muss man sagen, dass dieses Göttliche nicht als ein Äußeres vorhanden ist, um bildlich im Menschen erweckt zu werden, sondern dass dieses Göttliche im Menschen [durch die Selbsterkenntnis] erweckt wird.« (S. 18, 1. Auflage) und im »Christentum ...« 1902: »Die mystische Erkenntnis ist ein wirklicher Vorgang im Weltprozesse. Sie ist eine Geburt Gottes.« (S. 24, 1. Auflage) »... den Sohn, den in der Seele lebenden Sprossen Gottes, der gleich ist dem Vater: ihn kann der Mensch gebären.« (S. 51-52, 1. Auflage).

Hätte Zander die unzähligen Äußerungen Steiners, die von einer authentischen spirituellen Erfahrung – letztlich einer Christus-Erfahrung – sprechen, beim Wort genommen und sie nicht ignoriert oder um»gedeutet«, stünde er hinsichtlich der Frage, was den »Christologisierungsprozess« in Steiners Denken veranlasste, nicht vor einem unlösbaren Rätsel. In Zanders Selbstwidersprüchen zeigt sich weniger das Schwanken oder Taktieren Steiners, als die Abneigung seines Interpreten, eine mystische, spirituelle Christus-Erfahrung zuzulassen, die nicht von kirchlichen Instanzen sanktioniert ist.

Laut Zander hat Steiner, um sich von Annie Besant abzugrenzen und seine eigene Position in der Theosophischen Gesellschaft auszubauen, Christus als die »größte aller Erscheinungen« bezeichnet.

Auf S. 808 schreibt Zander:

»Doch nach dem Budapester Kongress, der am 2. Juni 1909 zu Ende gegangen war, setzten sich die zentrifugalen Kräfte durch. Steiner bekräftigte seine Position, indem er am 24. Juni den Christus als ›die größte aller Erscheinungen‹ bezeichnete (GA 112,13), und am 3. Juli behauptete er, der Christus sei ›nicht … durch vorherige Inkarnationen durchgegangen‹ (ebd., 179).«

Steiner gibt im genannten Vortrag nicht »seine Position« in einem politischen Machtkampf zum Besten, wie Zander kontratextuell behauptet, sondern die Auffassungen der Evangelisten wieder. Im Original lauten Steiners Ausführungen in seiner Vortragsreihe »Das Johannes-Evangelium im Verhältnis zu den drei anderen Evangelien, besonders zu dem Lukas-Evangelium« vom 24. Juni 1909 wie folgt:

»Aber auch die andern Evangelisten haben sich, ein jeder nach seiner Art, bemüht darzustellen, was in dem Jesus von Nazareth eigentlich erschienen ist. Da sehen wir zum Beispiel, wie der Schreiber des Lukas-Evangeliums bemüht ist, zu zeigen, wie etwas ganz Besonderes erschienen ist, als durch die Taufe des Christus Jesus durch Johannes den Täufer der Geist sich vereinigte mit dem Leibe des Jesus von Nazareth. Und dann stellt uns der Schreiber des Lukas-Evangeliums weiter dar, wie dieser Jesus von Nazareth der Abkömmling von Vorfahren ist, die weit, weit hinaufreichen. Da wird uns gesagt, daß der Stammbaum des Jesus von Nazareth hinaufreicht bis zu David, bis zu Abraham, bis zu Adam, ja bis zu Gott selber.

Wohlgemerkt, im Lukas-Evangelium ist überall darauf hingewiesen: Jesus von Nazareth war der Sohn des Joseph, Joseph war der Sohn des Eli, der war ein Sohn des Matthat ..., dann: der war ein Sohn des David, und weiter heißt es dann: der war ein Sohn des Adam, und Adam war Gottes! Das heißt, der Schreiber des  Lukas-Evangeliums legt einen besonderen Wert darauf, daß von diesem Jesus von Nazareth, mit dem sich der Geist vereinigt hat bei der Taufe des Johannes, eine gerade Abstammungslinie hinaufgeht bis zu dem, den er den Vater des Adam, den Gott, nennt. Solche Dinge muß man durchaus wörtlich nehmen.

Im Matthäus-Evangelium wird versucht, diesen Jesus von Nazareth wiederum seinem Stammbaum nach bis hinauf zu Abraham zu führen, dem sich der Gott geoffenbart hat. Dadurch, und durch manches andere auch, durch viele Worte, die wir in den Evangelien finden können, wird die Individualität, die der Träger des Christus ist, und die ganze Erscheinung des Christus als etwas hingestellt, was nicht nur eine der größten, sondern was die größte aller Erscheinungen in der Menschheitsentwickelung ist. Dadurch ist doch unbedingt ausgedrückt, was man mit schlichten Worten in der folgenden Art sagen kann: Wenn der Christus Jesus von denen, die seine Größe ahnen, angesehen wird als die wichtigste Erscheinung in der Menschheitsentwickelung der Erde, dann muß dieser Christus Jesus irgendwie zusammenhängen mit dem Wesentlichsten und Heiligsten im Menschen selbst. Es muß also innerhalb des Menschen selber etwas geben, was man unmittelbar auf das Christus-Ereignis beziehen kann. Könnten wir denn nicht die Frage aufwerfen: Wenn der Christus Jesus wirklich entsprechend den Evangelien das wichtigste Ereignis der Menschheitsentwickelung ist, muß sich dann nicht überall, in jeder von all den Seelen der Menschen etwas finden, was Bezug hat zu dem Christus Jesus?«

(GA 112, Vortrag vom 24.09.1909 in Kassel, Dornach 1984, S. 12-13)

Zander unterstellt Steiner »deutschnationale Aufladungen« des Christusmotivs. Einen Beleg dafür will er in einem öffentlichen Vortrag aus dem Jahr 1916 finden. Das Argument ist ein klassischer Fall von Umdeutung durch Dekontextualisierung.

Auf S. 823 schreibt Zander:

»Neu waren allenfalls einzelne deutschnationale Aufladungen des Christusmotivs139.

Anmerkung 139:

1916 stimmte Steiner einem katholischen Priester, Xavier Schmid, zu, dass das ›deutsche Volk auserwählt‹ sei, ›Christus‹ ›geistig zu gebären‹ (GA 65,627).«

Steiner stimmt an der betreffenden Stelle nicht dem katholischen Priester und dessen Behauptung zu, das deutsche Volk sei »auserwählt«, sondern führt diesen als Beispiel dafür an, dass im »deutschen Gemüt« ein Bedürfnis nach einer vertieften, geistigen Auffassung des Christentums vorhanden sei.

»Ich könnte viele Beispiele anführen. Ich will nur eines anführen, das zeigt, wie in einer Persönlichkeit, die als katholischer Priester im deutschen Volksseelenwesen drinnen steht, empfindungsgemäß ein Bewußtsein von dem lebt, was ich heute erkenntnisgemäß angedeutet habe. 1850 schreibt Xavier Schmid in einem anspruchslosen Büchelchen, in dem er für eine gemeinsame vertiefte Auffassung eines deutsch gefühlten Christentums eintreten will: ›Wie Israel auserwählt war, den Christus leiblich hervorzubringen, so ist das deutsche Volk auserwählt, denselben geistig zu gebären. Wie bei jenem merkwürdigen Volke die politische Freiwerdung von der inneren bedingt war, so wird auch die Größe des deutschen Volkes wesentlich davon abhängen, ob es seine geistige Sendung erfüllt.‹ Wie ist da das Erfassen des Christentums im Geiste von diesem einfach gebildeten Priester Xavier Schmid gekennzeichnet! Es lebt das, was ich charakterisiert habe, schon durchaus bis in das tiefste Volksgemüt hinein, wenn man auch selbstverständlich andere Worte prägen müßte, als ich sie heute hier zu prägen hatte, um nun zu zeigen, wie im einfachsten Volksgemüt dasjenige lebt, was heute charakterisiert worden ist.«

Was Steiner charakterisiert, zeigt sich zum Beispiel an einer Passage im selben Vortrag wenige Seiten zuvor. Hier stellt er die »deutsche Volksseele« als ein Seelenwesen dar, das »den Deutschen« dazu disponiere, seine Nationalität aufzugeben:

»Da kann man eine merkwürdige Eigentümlichkeit studieren. Man darf sie doch wohl aussprechen: wie leicht gerade der Deutsche seine Nationalität verliert, allmählich abstreift, wenn er sich so in andere Nationalitäten hineinschiebt. Das hängt mit dieser Eigentümlichkeit der deutschen Volksseele zusammen, von der ich eben gesprochen habe. Sie ergreift den Menschen, ich möchte sagen, in leichterer, feinerer Art mit den Kräften, die in der Individual-Entwickelung des Menschen zwischen den zwanziger und fünfundvierziger Jahren liegen. Aber indem sie ihn seelisch labiler charakterisiert, macht sie es ihm möglich, leichter sein Seelisches abzustreifen, sich zu entnationalisieren und sich hineinzunationalisieren in andere Nationen. Er ist nicht so stark, so innig durchtränkt von diesem deutschen Wesen, das aus der Volksseele kommt.«

(GA 65, Vortrag vom 13. April 1916, Dornach 1962, S. 616)

Laut Zander hatte Steiners »Selbstverständnis als Hellseher« massive Folgen für die Deutung des biblischen Textes. Er strebte, so Zander, eine Herrschaft der Schau über den biblischen Text an. Diese Folgerung lässt sich nur ziehen, wenn die Äußerungen Steiners dekontextualisiert werden.

Auf S. 827 schreibt Zander:

»Steiners Selbstverständnis als Hellseher zeitigte auch ohne die Überhöhung [von Steiner] als Boddhisattva massive Folgen für die Deutung des biblischen Textes, wie sich mit exemplarischen Äußerungen Steiners deutlich machen lässt:

...

Die den Evangelien zugrunde liegenden Wahrheiten seien nicht mit Hilfe ›äußerer Dokumente‹ zu erfassen, sondern nur durch ›Selbstseher‹ (GA 114,171).

...

Derartige Aussagen laufen auf die Herrschaft der Schau über den biblischen Text hinaus, auf einen übersinnlichen Absolutheitsanspruch.«

Die von Zander zitierte Aussage Steiners bezieht sich nicht auf Steiner, sondern auf die Verfasser der Evangelien.

Im betreffenden Vortragstext heißt es:

»Und der Schreiber des Lukas-Evangeliums, der insbesondere in diesen Partien auf die Darstellungen der Heilwirkungen ausgeht, wollte zeigen, wie die Heilwirkungen des Ich uns darstellen die Entfaltung des Ich auf einem hohen Gipfel der Menschheitsentwickelung, und er zeigt, wie der Christus wirken musste ...

Das sind solche Wahrheiten, wie sie den Evangelien zugrunde liegen, und die nur diejenigen schreiben konnten, die sich nicht auf äußere Dokumente stützten, sondern auf das Zeugnis derjenigen, die ›Selbstseher‹ und ›Diener des Wortes‹ waren.«

Die Ausdrücke »Selbstseher« und »Diener des Wortes« sind Zitate aus dem Lukas-Evangelium. Am Anfang des Evangeliums heißt es:

»Viele haben es schon unternommen, Bericht zu geben von den Geschichten, die unter uns geschehen sind, wie uns das überliefert haben, die es von Anfang an selbst gesehen haben [ap arches autoptai] und Diener des Wortes [hyperetai tou logou] gewesen sind.« (Lk, 1,1-2)

Wenn jemandem vorgeworfen werden müsste, die »Herrschaft der Schau« angestrebt zu haben, dann dem Verfasser des Lukas-Evangeliums.

Rudolf Steiner, Das Lukas-Evangelium, GA 114, Dornach 1985, S. 171.

Ausführungen Steiners über die Vorbereitung zur Schau des ätherischen Christus im 20. Jahrhundert liest Zander dekontextualisierend als Beleg dafür, dass Steiner eine »Herrschaft der Schau« über den biblischen Text und einen »übersinnlichen Absolutheitsanspruch« angestrebt habe.

Auf S. 827 schreibt Zander:

»Steiners Selbstverständnis als Hellseher zeitigte auch ohne die Überhöhung [von Steiner] als Bodhisattva massive Folgen für die Deutung des biblischen Textes, wie sich mit exemplarischen Äußerungen Steiners deutlich machen lässt:

...

Nur denjenigen, die ›durch die anthroposophische Weltanschauung‹ vorbereitet seien, das Christus-Ereignis ›verständnisvoll, lichtvoll zu schauen‹, werde Christus als ›Herr des Karma‹ zwischen zwei Inkarnationen nicht ›erscheinen wie eine furchtbare Strafe‹ (GA 131, 222).

...

Derartige Aussagen laufen auf die Herrschaft der Schau über den biblischen Text hinaus, auf einen übersinnlichen Absolutheitsanspruch.«

Die von Zander zitierten Aussagen Steiners beziehen sich nicht auf die Evangelien und den historischen Christus, sondern auf die Wiederkunft Christi im 20. Jahrhundert in ätherischer Gestalt. Von einem »Herrschaftsanspruch« der Schau über den biblischen Text kann also keine Rede sein, da es im betreffenden Vortrag gar nicht um eine Bibelinterpretation geht.

Im Originaltext ist nicht von einem »lichtvollen Schauen« des Christus-Ereignisses die Rede, sondern von einem »lichtvollen Verstehen«. Nicht um das »verständnisvolle, lichtvolle Schauen« geht es Steiner also, sondern um das »lichtvolle Verstehen« des Geschauten. Diese Nuance ist von Bedeutung, weil Zander behauptet, Steiner strebe die »Herrschaft der Schau« über den biblischen Text an. Um die Schau geht es aber in der zitierten Aussage gerade nicht, sondern um das Verstehen.

Im betreffenden Vortrag heißt es:

»Nicht das Schauen des Christus-Ereignisses hängt davon ab, ob wir in einem physischen Leibe verkörpert sind, wohl aber die Vorbereitung dazu. Gerade so wie es notwendig war, dass das erste Christus-Ereignis auf dem physischen Plan sich abgespielt hat, damit es dem Menschen zum Heile gereichen konnte, so muss die Vorbereitung, um das Christus-Ereignis des zwanzigsten Jahrhunderts zu schauen, hier in der physischen Welt gemacht werden. Denn der Mensch, der es unvorbereitet schaut wenn seine Kräfte erwacht sind, wird es nicht verstehen können. Da wird ihm der Herr des Karma erscheinen wie eine furchtbare Strafe. Um dieses Ereignis lichtvoll zu verstehen, muss der Mensch vorbereitet sein. Dazu aber geschieht die Ausbreitung der anthroposophischen Weltanschauung auf dem physischen Plan, um entweder auf dem physischen Plan oder auf höheren Planen das Christus-Ereignis wahrnehmen zu können.«

Rudolf Steiner, Von Jesus zu Christus, Dornach 1985 (tb), S. 222.