Vollkommen grotesk ist die Behauptung Zanders, Steiner habe manchmal die Eurythmie auch »zum Instrument der Intellektualität« gemacht. Hier von dekontextualisierender Lesart zu sprechen ist noch viel zu vornehm.

Auf. S. 1192 schreibt Zander:

»Steiner konnte allerdings gegenläufig die Eurythmie auch zum Instrument der Intellektualität machen, wenn er forderte, sie solle ›das menschliche Denken, den menschlichen Gedanken aus seiner gegenwärtigen Erstarrung, aus seinem Eingefrorensein in Bewegung ... bringen. (GA 277a2, 53 [ 1914]).«

Die bereits weiter oben zitierten Ausführungen Steiners, aus denen Zander hier zitiert, besagen in Wahrheit das genaue Gegenteil dessen, was er in sie hineinliest.

Die Eurythmie wird nicht zum Instrument der Intellektualität gemacht, sondern sie soll den Menschen gerade von dieser Intellektualität erlösen, indem sie den erstarrten Intellekt wieder verlebendigt!

Bei Steiner heißt es:

»Eine fundamentale Forderung für die Denk- und Weltanschauungsgesundung unserer Zeit sollte gestern Abend einmal dargestellt werden: die Möglichkeit, wieder das menschliche Denken, den menschlichen Gedanken aus seiner gegenwärtigen Erstarrung, aus seinem Eingefrorensein in Bewegung zu bringen ...

Endlich wird die Zeit kommen, in welcher dasjenige, was aus den ewigen Gesetzen des Äthers herausgewellt ist, übergehen wird bis in das hinein, wo es heute so wenig vorhanden ist, dass einer, der in dem heute charakterisierten Sinne es erfasst, nur zu der Aussicht auf den Freitod aller Erkenntnis kommen konnte!

Ja, auch in dieses Gebiet hinein wird sich das erstrecken, was wir suchen, in das hinein, was man den menschlichen Gedanken nennt, so dass zuletzt auch unsere Gedanken lernen, künstlerisch sich zu bewegen. Dann wird die Erlösung der Menschheit auf diesem einen Gebiet vor uns stehen.«

GA 277a, Dornach 1998, S. 53-54

Sich selbst widerspricht Zander, wenn er einerseits behauptet, Steiner habe den Vorteil der Eurythmie in ihrer »Univozität« (Eindeutigkeit) gesehen und ihm andererseits vorwirft, er habe die »ursprüngliche Präzision« seiner Lautinterpretation »flexibilisiert«, um mit der »Variabilität der Lautformen« umzugehen.

Auf S. 1193 schreibt Zander:

»... gegenüber der Deutungspolyphonie der Sprache sah Steiner an einigen Stellen den Vorteil der Eurythmie in ihrer Univozität, wie sich an seiner Kritik von Mauthners Sprachphilosophie und dessen Auffassung einer Äquivozität [Mehrdeutigkeit] der Sprache ablesen lässt.«

Auf S. 1195-1196 schreibt er dagegen:

»Steiners zentrales Problem war der Lautstand der realen Sprache ... Dahinter steht das Fundamentalproblem, dass sich die Sprache den Korrelationen Steiners vielfach nicht beugt ... Mit einer solchen Zusatzannahme nahm Steiner seiner Deutung die ursprüngliche Präzision, ohne aber deutlich zu machen, wo die Grenzen einer beliebigen Uminterpretation liegen. Diese Rücknahme der Deutlichkeit gab ihm jedoch den Spielraum, mit der Variabilität von Lautformen umzugehen.«

Was nun: Univozität oder Aquivozität?

Das Problem besteht nur in Zanders Argumentationskontext, in dem zuerst das Paradigma der Univozität für verbindlich erklärt und kurze Zeit später die Variabilität und Flexibilität zum Problem erklärt wird.

In Wahrheit handelt es sich um zwei Aspekte ein und derselben Sache, die sich wie Urbild und Abbild oder Idee und Erscheinung zueinander verhalten.

Die urbildliche Lautform nimmt die Stelle der Idee ein, die flexiblen Abwandlungen die Stelle der Erscheinung. Bereits in seinen »Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften« hatte Steiner 1883 geschrieben:

»... die Urpflanze ... ist ... ein Ideelles, nur im Gedanken Festzuhaltendes; sie gewinnt aber Gestalt, sie gewinnt eine gewisse Form, Größe, Farbe, Zahl ihrer Organe usw. Diese äußere Gestalt ist nichts Festes, sondern sie kann unendliche Veränderungen erleiden, welche alle jenem Komplexe von Bildungsgesetzen gemäß sind, aus ihm mit Notwendigkeit folgen. Hat man jene Bildungsgesetze, jenes Urbild der Pflanze erfaßt, so hat man das in der Idee festgehalten, was bei jedem einzelnen Pflanzenindividuum die Natur gleichsam zugrunde legt und woraus sie dasselbe als eine Folge ableitet und entstehen läßt.«

GA 1, Dornach 1977, S. 21-22.

Zanders Behandlung der sozialen Dreigliederung und der politischen Ideen und Initiativen Steiners krankt insgesamt daran, dass er dessen Konzeption des Geisteslebens machtpolitisch missdeutet und bedeutende Beiträge Steiners zur Theorie der Gesellschaft ausblendet, also auch hier sinnentstellend dekontextualisiert.

Auf S. 1239 schreibt Zander:

»Im Frühjahr 1919 entstand Steiners Theorie der ›Dreigliederung des sozialen Organismus‹, in deren Zentrum die Forderung der Trennung von Wirtschaft, Recht und ›Geistesleben‹ stand ... Dabei bleiben viele Detailprobleme (etwa große Teile der ökonomischem Theorie) zugunsten einer Konzentration auf die gesellschaftspolitische Grundkonzeption und ihre historischen Kontexte ausgespart.«

Christoph Strawe schreibt über diese Art der Behandlung in »Anthroposophie in Geschichte und Gegenwart«:

»Zander handelt das Thema Dreigliederung ... unter dem Obertitel Praxis und dem Untertitel Politik ab ... Durch diese Reduktion versucht er sich einerseits zu entlasten und ›große Teile der ökonomischen Theorie‹ auszuklammern, andererseits kommt sie seinem Versuch entgegen, Steiners Konzeption des Geisteslebens machtpolitisch zu deuten. Steiners aus der sozialen Dreigliederung abgeleiteter Politikbegriff wird dabei gar nicht erst diskutiert. Vor den beiden Memoranden von 1917 hat sich Steiner nach Meinung Zanders kaum mit gesellschaftspolitischen Fragen beschäftigt, erst im Frühjahr 1919 werde die klassische Theorie der Dreigliederung des sozialen Organismus sichtbar ... Das ignoriert nun sowohl den Inhalt der Memoranden selbst als auch den Inhalt der Aufsätze von 1898 bzw. 1905/06.

Die Ausblendung dieser inneren Kontexte hat fatale Folgen für Zanders Deutung der sozialen Dreigliederung.«

(Christoph Strawe, Sozialimpulse, in »Anthroposophie in Geschichte und Gegenwart«, S. 690.)

Mit den Aufsätzen aus den genannten Jahren sind folgende gemeint:

1898:

»Die soziale Frage«, Magazin für Literatur (GA 31)

»Freiheit und Gesellschaft«, Magazin für Literatur (GA 31).

1905/06:

»Geisteswissenschaft und soziale Frage«, Lucifer-Gnosis (GA 34).

In den Aufsätzen von 1898 wird das »soziologische Grundgesetz« formuliert, nach dem menschliche Gesellschaften zunächst die Interessen des Kollektivs über die des Individuums stellen, bis diese Individuen sich vom Kollektiv emanzipieren, um die Gesellschaft in den Dienst des Individuums zu stellen.

In den Aufsätzen aus dem Jahr 1905/06 wird das »soziale Hauptgesetz« entwickelt, das sich mit der Trennung von Arbeit und Einkommen und der Verteilung des Einkommens nach Gesichtspunkten der Menschenwürde befasst.

Ein Grundproblem Zanders ist seine Unfähigkeit, aus Steiners Auseinandersetzungen mit politischen Fragen etwas anderes als den von ihm unterstellten »deutschen Nationalismus« oder »Kulturimperialismus« herauszulesen.

Bereits auf S. 1243 führt Zander Steiner als »massiven Deutschnationalisten« und »Kulturimperialisten« ein. Zander schreibt:

»Steiner geriet mit der Tätigkeit in der Deutschen Wochenschrift in ein massiv deutschnationales Fahrwasser. Offenbar hatte er mit der Zuweisung unter ›deutschnational‹ keine Probleme und äußerte sich entsprechend. So propagierte er die ›Kulturmission, die dem deutschen Volke in Österreich obliegt‹ ... und verband damit einen verbal militanten Kulturimperialismus gegenüber nichtdeutschen Ethnien.«

Auf S. 1271 schreibt Zander über Steiners Haltung während des ersten Weltkrieges:

Steiner hielt »seine deutschnationale Position ... während des gesamten Krieges durch. Eine In-Frage-Stellung seines deutschen Kulturimperialismus gab es nicht, ein Schuldeingeständnis ebensowenig, allenfalls und immerhin eine Kritik an der deutschen Kriegspolitik in den Revolutionsmonaten, die aber Steiners Glaube [sic!] an die deutsche Kultur›mission‹ nicht in Frage stellte.«

Christoph Strawe kommentiert diese tendenziöse Sichtweise in »Anthroposophie in Geschichte und Gegenwart« (S. 692-693) wie folgt:

»Zanders Beschreibung von Steiners Beschäftigung mit politischen Themen bis 1917 ... hebt sehr stark dessen positive Haltung gegenüber dem kulturellen Beitrag des Deutschtums für die Weltkultur hervor, den Zander im Sinne eines nationalistisch gefärbten Anspruchs auf kulturelle Hegemonie deutet. Die dafür herangezogenen Belege – z.B. eine in der Tat eher peinliche Lobeshymne des jungen Steiner auf Kaiser Wilhelm den Zweiten anlässlich seiner Thronbesteigung [die man allerdings auch als Satire lesen kann; L.R.] – machen aber eben auch um so deutlicher sichtbar, wie weit sich Steiner in seinen späteren Jahren von der zeitüblichen Deutschtümelei entfernt hatte.

Tatsächlich werden Steiners Reden über die deutsche und mitteleuropäische Kultur in den Kriegsjahren zunehmend stärker von einer Kritik am Machtstaat-Gedanken in der Tradition von Nietzsches Wort von der 1871 erfolgten Exstirpation des deutschen Geistes zugunsten des Deutschen Reiches geprägt. Steiners Mahnung, ›die weltgeschichtliche Sendung der Deutschen wiederzufinden‹ ... sieht diese Sendung gerade durch den Machtstaatsimpuls des Kaiserreiches gefährdet. 1919 fasst er zusammen: ›Das deutsche Reich war in den Weltzusammenhang hineingestellt ohne wesenhafte, seinen Bestand rechtfertigende Zielsetzung. Diese Zielsetzung hätte nicht so sein dürfen, dass nur militärische Macht sie zu tragen hatte, konnte überhaupt nicht auf Machtentfaltung im äußeren Sinne gerichtet sein. Sie konnte nur auf die innere Entwicklung seiner Kultur gerichtet sein‹ ...

Steiners Bild der Aufgaben Mitteleuropas ist geprägt von den mitteleuropäischen Dichtern und Denkern, die kosmopolitisch in den Nationalkulturen gleichwertige und unverzichtbare Beiträge zur Weltkultur erblickten: Herder, Goethe, Schiller und Wilhelm von Humboldt (dass manche Urteile Steiners aus heutiger Sicht kritisch hinterfragt werden können, wird durch diese generelle Bemerkung nicht bestritten. In dieser Hinsicht hat bereits Christoph Lindenberg mit seiner historisch-kritischen Steiner-Biographie die Diskussion eröffnet. Zanders Pauschalurteil, dass Steiner im deutschnationalen Fahrwasser gesegelt sei, scheint mir jedoch unhaltbar. Bei Zander verwischt sich durch solche Deutungen der tiefe Gegensatz zwischen dem anthroposophischen Sozialimpuls und jenen Strömungen, die direkt oder indirekt an der Zerstörung der Weimarer Republik beteiligt waren. ...)

Einer der Schlüsselsätze des von Zander kritisch kommentierten ›Volksseelenzyklus‹ ... besagt, dass die nächste Zukunft die Menschheit immer mehr zu einer gemeinsamen Menschheitsmission zusammenführen werde und hierfür ein besseres gegenseitiges Verständnis der Völker nötig sei ... Wenn Völkerverständigung nicht etwas ganz Abstraktes sein soll, dann muss sie die wesenhafte Prägung von Sprachen und Kulturen in ihrem Reichtum und ihrer Vielfalt einbeziehen. Das antizipiert in gewisser Weise das Diversitätskonzept der heutigen Zivilgesellschaft und schlägt einen durchaus nicht nationalistischen Ton an. Die Nazis hatten also von ihrem Standpunkt aus ganz Recht, die Anthroposophie als im Kern individualistisch und kosmopolitisch zu verbieten ...«

Zander behauptet, Steiner sei mit seiner Tätigkeit für die »Deutsche Wochenschrift« 1888 in ein »massiv deutschnationales Fahrwasser« geraten. Er habe einen »militanten Kulturimperialismus« gegenüber »nichtdeutschen Ethnien« vertreten.

Zander schreibt auf S. 1243:

»Steiner geriet mit der Tätigkeit in der Deutschen Wochenschrift in ein massiv deutschnationales Fahrwasser. Offenbar hatte er mit der Zuweisung unter ›deutschnational‹ keine Probleme und äußerte sich entsprechend. So propagierte er ›die Kulturmission, die dem deutschen Volke in Österreich obliegt‹ (GA 31,112) und verband damit einen verbal militanten Kulturimperialismus gegenüber nichtdeutschen Ethnien:

›Wenn die Völker Österreichs wetteifern wollen mit den Deutschen, dann müssen sie vor allem den Entwicklungsprozess nachholen, den jene durchgemacht haben, sie müssen sich die deutsche Kultur in deutscher Sprache … aneignen« (ebd., 112 f.); ›die Feindseligkeit der slavischen Nationen gegenüber der deutschen Bildung‹ (ebd., 117) sei aufzugeben.

Steiner zeigte damit einen unter den Deutschen des Habsburgerreichs nicht seltenen Nationalismus.«

Leider versäumt es Zander, die sonst übliche Kontextualisierung vorzunehmen. Er hätte darauf hinweisen können, dass Steiner in der »Deutschen Wochenschrift« mitzuarbeiten begann, als der Kampf der Sprachnationen im habsburgischen Vielvölkerreich einem bis dahin nicht erlebten Höhepunkt zustrebte. Dieser Kampf der verschiedenen »Nationen« konzentrierte sich vor allem auf den Status der Sprachen und Bildungseinrichtungen in den jeweiligen Verwaltungsgebieten. In diese Auseinandersetzungen mischten sich klerikale und ständische Standpunkte. Das österreichische Parlament war ein Tummelplatz nationaler und sozialer Partikularinteressen, dessen Arbeit durch nicht endenwollende polemische Redeschlachten und Obstruktion (Verhinderung von Abstimmungen) gekennzeichnet war. Die politischen Positionen wurden teilweise auch handgreiflich auf den Straßen ausgetragen.

Angesichts dieser historischen Gegebenheiten müssten Steiners Äußerungen zu solchen anderer Politiker dieser Zeit ins Verhältnis gesetzt werden, um ihre spezifische Färbung innerhalb eines ganzen Spektrums politischer und polemischer Stile einschätzen zu können. Eine solche Kontextualisierung unterlässt Zander, vermutlich im Vertrauen darauf, dass solche Schlagworte wie »deutschnational« und »kulturimperialistisch« sowie aus dem Zusammenhang gerissene, verkürzte Zitate ihre Wirkung auf den Leser nicht verfehlen.

Zander verfehlt aber auch noch in einem anderen Sinn die nötige Kontextualisierung: jene mit Steiners eigenem Denken nämlich. Seine Auswahl aus den von Steiner veröffentlichten Artikeln aus dem Jahr 1888 ist höchst einseitig und greift nur jene Reizthemen heraus, die geeignet sind, Steiner in den Augen einer politisch korrekten Öffentlichkeit anzuschwärzen: Nationalismus, Kulturimperialismus, Antisemitismus.

Zander zitiert aus einem Aufsatz mit dem Titel »Die deutschnationale Sache in Österreich. Die parlamentarische Vertretung der Deutschen.«

Es ist der erste eigenständige Aufsatz, den Steiner für die Deutsche Wochenschrift verfasst hat. In diesem ersten Aufsatz übt Steiner eine fundamentale Kritik an den Parlamentariern der deutschnationalen Partei und wirft ihnen – also den Vertretern der »deutschen Sache« im Parlament – vor, sie hätten »die Kulturmission, die dem deutschen Volk in Österreich« obliege, »nie begriffen«, ihnen – also den Vertretern dieser Partei – fehle jegliches Verständnis für die kulturelle Aufgabe des deutschen Geistes innerhalb Österreichs. Steiner hat also seinen sogenannten Kulturimperialismus gegen die Vertreter der deutschnationalen Partei vorgebracht, denen er einen gänzlichen Ideenmangel und eine kleinliche Kirchturmpolitik vorhält.

Allein schon, wenn man die ganze Passage zur Kenntnis nimmt, die Zander nur verstümmelt zitiert, gewinnt man einen anderen Eindruck, als Zander ihn zu insinuieren sucht.

Sie lautet:

»Wir verkennen nicht, welche Summe von Geist in dieser Partei ruht, wir wissen ganz gut, dass die sachliche Arbeit des Parlaments zumeist von ihr besorgt wird; aber es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass sie die Kulturmission, die dem deutschen Volke in Österreich obliegt, nie begriffen hat. Um nur eines anzuführen: wie kläglich ist es, wenn für die deutsche Staatssprache immer und immer wieder nichts anderes als reine Nützlichkeitsgründe (für den amtlichen Verkehr usw.) vorgebracht werden. Für den Umstand, dass die nicht-deutschen Völker Österreichs, um zu jener Bildungshöhe zu kommen, die eine notwendige Forderung der Neuzeit ist, das in sich aufnehmen müssen, was deutscher Geist und deutsche Arbeit geschaffen haben, und dass die Bildungshöhe eines Volkes in keiner andern als in der Sprache des betreffenden Volkes erreicht werden kann, dafür fehlt dieser Partei das Verständnis. Was keine Vergangenheit hat, hat auch keine Zukunft. Wenn die Völker Österreichs wetteifern wollen mit den Deutschen, dann müssen sie vor allem den Entwicklungsprozess nachholen, den jene durchgemacht haben, sie müssen sich die deutsche Kultur in deutscher Sprache ebenso aneignen, wie es die Römer mit der griechischen Bildung in griechischer, die Deutschen mit der lateinischen in lateinischer Sprache getan haben.«

(GA 31, Dornach 1989, S. 112-113 f.)

Steiner fährt in seinem Aufsatz damit fort, die führenden Vertreter der deutschnationalen Partei zu kritisieren, um mit folgenden Überlegungen zu schließen:

»Wir haben heute Herbstianer, Plenerianer, Sturmianer, Steinwendianer, Schönerianer usw., die alle wohl wissen, was sie trennt, die aber gar nicht beachten, was sie eint. Das kommt daher, weil man es durchaus nicht versteht, die persönlichen den sachlichen Interessen unterzuordnen. Man weiß nicht, dass man ein Staatsmann nicht wird durch die Aufstellung von rein subjektiven, willkürlichen Ansichten, sondern dadurch, dass man sich in den Dienst einer großen Idee stellt, die wohl geeignet ist, die Zeit zu beherrschen. Der Mann hat der Idee, nicht die Idee dem Manne zu dienen. Sonst wird man einfach von der geschichtlichen Entwicklung als eine Null hinweggefegt, denn zuletzt erweisen sich die Ideen doch immer stärker als die Menschen. Der deutschen Partei fehlt jener große Zug, der allein auf den Gegner die rechte Wirkung ausüben könnte.«

(GA 31, Dornach 1989, S. 115 f.)

Steiner nimmt also als Redakteur der Deutschen Wochenschrift die erste Gelegenheit – den ersten eigenständigen Aufsatz, den er in ihr veröffentlicht – wahr, um die deutsche »nationale« Sache von einer nationalen in eine Kulturaufgabe umzudefinieren und den politischen Vertretern der deutschen Interessen – von denen er namentlich die »Herbstianer, Plenerianer, Sturmianer, Steinwendianer, Schönerianer« erwähnt – zu attestieren, sie stellten persönliche Vorlieben über die große Idee, um die es bei der »Kulturmission« der Deutschen in Österreich gehe.

Und er benutzt die zweite Gelegenheit – den zweiten Aufsatz, den er in der Deutschen Wochenschrift publiziert – um für die Umgestaltung des Erziehungs- und Unterrichtswesens im österreichischen Kaiserreich im Sinne eines ethischen Individualismus zu plädieren, der alles auf die freie Einzelpersönlichkeit abstellt und nichts von einer obrigkeitsstaatlichen Bürokratie erwartet. (Im Aufsatz »Das deutsche Unterrichtswesen [in Österreich] und Herr von Gautsch«, der in der zweiten von ihm redigierten Nummer der Deutschen Wochenschrift erschienen ist, in: Deutsche Wochenschrift, 1888, VI. Jg., Nr. 23, abgedruckt in GA 31, Dornach 1989, S. 121 f.)

Die Umbildung der Lehrerbildungsanstalten »in methodische Drill-Institute«, so Steiner in diesem Aufsatz, mache die Ausbildung der Individualität schlicht unmöglich, wo doch das Gedeihen des Unterrichtswesens allein von der »Pflege der Individualitäten« abhänge. Deswegen lobt er auch den klerikalen (sic!) Unterrichtsminister Thun, der eben diese Individualität – selbst entgegen  seinem klerikalen Parteiinteresse – durch seine Berufungspolitik gefördert habe, auch wenn er die Bildung des Volkes zugunsten der höheren Lehranstalten vernachlässigt habe.

Der künftige Lehrer solle, so Steiner in diesem Aufsatz, die »Ziele der Kulturentwicklung seines Volkes« kennen. Er bedürfe zu diesem Zweck der historischen und ästhetischen Bildung. Er solle in die »Geistesentwicklung der Menschheit« eingeführt werden, an der er mitzuarbeiten habe. »Mechanische Wirksamkeit« nach ministeriellen Verordnungen sei der »Tod« aller Pädagogik. Der Lehrer könne nur auf die »nötige Geisteshöhe« gebracht werden, wenn er sich an die Wissenschaften anschließe und mit der Kunst bekannt mache, denn dadurch lerne er die verschiedenen Richtungen und Entwicklungsmöglichkeiten des menschlichen Geistes kennen.

In sein Zitat fügt Zander ein Zitat-Fragment aus einem anderen Artikel Steiners ein, das eine »Feindseligkeit der slavischen Nationen gegenüber der deutschen Bildung« erwähnt.

Dieser Artikel stellt den zweiten Teil des Aufsatzes »Die deutschnationale Sache in Österreich« dar und trägt den Untertitel »Die deutschen Klerikalen und ihre Freunde«. In diesem polemisiert Steiner, wie Zander richtig bemerkt, gegen das Ministerium Taaffe (Die deutschnationale Sache in Österreich mit dem Untertitel Die deutschen Klerikalen und ihre Freunde, in: Deutsche Wochenschrift, 1888, VI. Jg., Nr. 25, abgedruckt in GA 31, Dornach 1989, S. 116 f.), aber nicht, weil ihm dieses zu wenig national gewesen wäre, sondern weil es sich durch seine Ideenlosigkeit auszeichne und unter Politik bloß machiavellistische Machtarithmetik und Diplomatie um des Machterhalts willen verstehe. Es ist vielleicht hilfreich, hier Urteile dritter Historiker über Taaffe zur Kenntnis zu nehmen.

Der amerikanische Historiker Robert A. Kann schreibt über Taaffe: »Er nannte seine Politik eine Politik des ›Forstwurstelns‹, ein ungemein anschaulicher Ausdruck, der ein Fortschleppen von einem Tag zum andern, den Abschluss von Kompromissen über alles und jedes und eine Haltung bezeichnet, die dieses Gleichgewicht niemals durch erzwungene, weitreichende Reformpläne stören will. Diese Politik  des ›Forstwurstelns‹, die mit dem anderen Grundprinzip der österreichischen Regierungspolitik übereinstimmte, dass provisorische Regelungen die dauerhaftesten sind, trägt zu der Erklärung bei, wieso sich das Taaffesche Regime volle vierzehn Jahre halten konnte.« (Robert A. Kann, Das Nationalitätenproblem der Habsburgermonarchie. Band 1. Das Reich und die Völker, Graz-Köln 1964,  S. 98).

Etwas weniger freundlich – von einem konservativen Standpunkt aus – beurteilt Viktor Bibl 1924 die Wirkungen der Taaffeschen Politik: »Er [Taaffe] hatte geglaubt, durch das gegenseitige Ausspielen der Nationalitäten alle in der Hand zu haben, indes erging es ihm wie dem Zauberlehrling, der die Geister, die er rief, nicht mehr zu bannen vermochte. Für jeden halbwegs gereiften Politiker musste es klar sein, dass die Tschechen in ihrem nationalen Größenwahn und Fanatismus mit dem Erreichten sich nicht zufrieden geben würden. Sie wollten die volle staatliche Selbständigkeit Böhmens, und wenn sie diese erlangt hätten, die Personalunion, die bekanntlich, wie Plener sagt, gewöhnlich zur völligen Trennung führt. Es war ihnen nicht um die Gleichberechtigung mit den Deutschen zu tun, sondern um die volle Herrschaft ...« (Viktor Bibl, Der Zerfall Österreichs, Bd. II, Von Revolution zu Revolution, Wien 1924, S. 377.)

Nicht weniger schmeichelhaft ist das Fazit, das Bibl zieht: »Die traurige Hinterlassenschaft der vierzehnjährigen Ära Taaffe war eine Verschärfung des Völkerstreits, war die völlige Zerrüttung des Staatswesens. Minister kommen und gehen, das Chaos bleibt ... Wäre Graf Taaffe nicht bald nach seinem Sturz verschieden, so hätte er die Genugtuung gehabt, zu sehen, wie sein System des ›Fortwurstelns‹ das einzige Bleibende in der Erscheinungen Flucht darstellte. Das Hauptrequisit seiner Regierungskunst, die Slawisierung Österreichs, das gegenseitige Ausspielen der Nationen und sein Gedanke einer Wahlreform verschwanden nicht mehr aus dem Gesichtskreis seiner Nachfolger.« (Ebenda, S. 380)

Kehren wir zu Steiners Aufsatz zurück. Den Deutschen in Österreich, so führt Steiner aus, dürfe es nicht um ihr »liebes nationales Ich« gehen, sie hätten nicht einen leeren Namen, sondern einen Inhalt zu verteidigen, nämlich die gegenwärtig erreichte Bildungshöhe der Humanität. Nicht auf das, was sie durch Geburt, also durch Vererbung und damit Rasse, geworden seien, komme es an, sondern allein auf den geistigen Inhalt des nationalen Selbstes, der in der Bildungshöhe der Zeit bestehe.

Steiner fordert also von den Vertretern der deutschen Sache in Österreich erneut, sie sollten sich auf die Bildungshöhe der Zeit heben und diese vertreten. Worin diese Bildungshöhe seiner Ansicht nach bestand, hatte er im zuvor erschienenen Aufsatz über das Unterrichtswesen dargelegt.

Steiner distanziert sich mit solchen Äußerungen von einem emotional aufgeladenen Nationalismus, den er in der »Feindseligkeit der slavischen Nationen gegenüber der deutschen Bildung« wirksam sieht. Gleichzeitig grenzt er sich auch vom deutschen Nationalismus ab, wenn er das »Wesen der deutschen Nation« in deren Interesse für die »Errungenschaften unserer europäischen [nicht deutschen] Kultur der letzten Jahrhunderte« setzt (S. 117), diese Kultur als das Ergebnis einer langen Entwicklungsgeschichte des Geistes charakterisiert und den Vertretern der »deutschen Sache« die Aufgabe zuweist, diese Kultur überhaupt erst einmal zu verstehen und produktiv fortzubilden. Im slavischen Nationalismus sieht Steiner 1888 dagegen dieselbe Feindseligkeit gegen den deutschen Geist wirksam, wie im Katholizismus, dessen freiheits- und individualitätsfeindlichen Autoritarismus er ebenfalls ablehnt.

Gänzlich ignoriert Zander einen weiteren werkimmanenten Kontext. Bereits 1886 hatte Steiner in seinen »Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung« verdeutlicht, dass er in der Freiheit die schlechthin höchste Idee sah, zu der es die Geistesentwicklung der Menschheit bisher gebracht hatte.

In einem weiteren Aufsatz, der am 13. Juli 1888, in der Deutschen Wochenschrift abgedruckt wurde, erklärt er nun das »Verständnis« dieser Freiheit zum alleinigen Maßstab des kulturellen Fortschritts.

In diesem Aufsatz mit dem Titel »Papsttum und Liberalismus« schreibt Steiner:

»Das Barometer des Fortschritts in der Entwicklung der Menschheit ist nämlich in der Tat die Auffassung, die man von der Freiheit hat, und die praktische Realisierung dieser Auffassung«.

Damit spricht Steiner seine Grundorientierung aus, die unmittelbar an Hegels Auffassung vom Wesen der Menschheitsgeschichte anklingt. Für Hegel war die »Weltgeschichte der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit«, und der Endzweck dieser Geschichte nicht nur das Bewusstsein, sondern die Wirklichkeit der Freiheit des Geistes (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Philosophie der Geschichte, Stuttgart 1961, S. 61.).

In Steiners Artikel findet sich ein unzweideutiges Bekenntnis »zum liberalen Prinzip als dem Kernpunkt der modernen Kultur überhaupt.« Steiner schreibt im Anschluss an den eben zitierten Satz:

»Unserer Überzeugung nach hat die neueste Zeit in dieser Auffassung [von der Freiheit] einen Fortschritt zu verzeichnen, der ebenso bedeutsam ist, wie jener war, den die Lehren Christi bewirkten: ›es sei nicht Jude, noch Grieche, noch Barbar, noch Skythe, sondern alle seien Brüder in Christo‹. Wie damals die Gleichwertigkeit aller Menschen vor Gott und ihresgleichen anerkannt wurde, so bemächtigte sich in dem letzten Jahrhundert immer mehr die Überzeugung der Menschen, dass nicht in der Unterwerfung unter die Gebote einer äußeren Autorität unsere Aufgabe bestehen könne, dass alles, was wir glauben, dass die Richtschnur unseres Handelns lediglich aus dem Lichte der Vernunft in unserem eigenen Innern entstammen solle. Nur das für wahr halten, wozu uns unser eigenes Denken zwingt, nur in solchen gesellschaftlichen und staatlichen Formen sich bewegen, die wir uns selbst geben, das ist der große Grundsatz der Zeit.« (GA 31, Gesammelte Aufsätze zur Kultur- und Zeitgeschichte, S. 134-139)

Diese Fundstelle ist kaum zu übertreffen, denn sie vereinigt

– ein Plädoyer für das Christentum, dessen Wesen nach Steiners Auffassung in der Überwindung des Rassenprinzips zugunsten des Prinzips von der Gleichwertigkeit aller Menschen vor Gott und ihresgleichen besteht,

– mit der Würdigung der sittlichen Autonomie als des höchsten Grades der Moralentwicklung

– und erhebt zugleich das Prinzip der Demokratie auf die gleiche Bedeutungs- und Geltungshöhe wie die christliche Revolution.

Dass sich aber in Steiners Verständnis der politischen Freiheit, deren Idee er als die größte Errungenschaft der Neuzeit betrachtet, wiederum sein individualistischer Anarchismus verbirgt, dürfte nicht überraschen. Immerhin ist es Steiner gelungen, sich in dieser kurzen Passage seiner angeblich deutschnationalen, volkstümelnden Beiträge zur Wochenschrift zu den Ideen Rousseaus und Montesquieus von der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit und zum Antirassismus zu bekennen.

Die Zeitung wurde am selben Tag wegen kritischer Äußerungen des späteren Sozialdemokraten Pernerstorfer über das österreichische Schulwesen und die Unterrichtsverwaltung von den Behörden konfisziert. Pernerstorfer hatte gegenüber dem völkisch-deutschnationalen Schönerer bereits 1883 erklärt, dass dessen Antisemitismus für ihn inakzeptabel sei: »Ich fühle mich verpflichtet, zum wiederholten Mal zu erklären, dass der Antisemitismus als Teil des Partei-Programms für mich inakzeptabel ist. Dieser Kampf ... verspricht nur, die politische Atmosphäre zu vergiften.« (Zitiert nach: Andrew G. Whiteside, Georg Ritter von Schönerer, Alldeutschland und sein Prophet, Graz 1981, S. 94, Titel des amerikanischen Originals: The Socialism of Fools. Georg Ritter von Schönerer and Austrian Pan-Germanism, Berkeley 1975.)

Ebenso vergiftend auf die politische Atmosphäre wirkte Karl Lueger, der ehemalige Mitarbeiter Schönerers, der Führer der Christlichsozialen Partei und langjährige Bürgermeister Wiens, der zwar kein Rassenantisemit, aber ein militanter Antisemit war. Über ihn schreibt Brigitte Hamann: »Der Antisemitismus, den Lueger über Jahrzehnte als hypnotischer Redner in die ihn verehrenden Volksmassen brachte, die ordinären Entgleisungen seiner Parteigenossen und geistlichen Freunde, die er unwidersprochen ließ, vergifteten die Atmosphäre. Auch wenn keine Juden ermordet wurden, verrohten die Menschen, die von ihrem verehrten Idol in alten Vorurteilen bestätigt wurden.« (Hamann, Hitlers Wien, S. 418.)

Angesichts all dieser Kontexte ist es angebracht, Steiner nicht wie Zander dies tut, als deutschen Nationalisten, Kulturimperialisten oder Antisemiten zu charakterisieren, sondern als Liberalen, der inmitten aufgepeitschter nationaler Emotionen die Fahne des Kulturfortschritts und der Freiheit hochhielt.