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Reichlich abstrus erscheinen Zanders Vermutungen darüber, warum in Steiners Ausführungen über die Entstehung der »Rassen« in der atlantischen Zeit in einer Darstellung von 1910 nun »auf einmal geistige Wesenheiten« der Hierarchienwelt eine Rolle spielen.

Auf S. 304-305 schreibt Zander:

»Die Logik dieser zusätzlich eingeführten Engelhierarchie könnte sich von einer doppelten Spiritualisierung her erschließen: Zum einen überhöhen sie [sic!] Rolle der Führerfiguren, die es als ›Eingeweihte‹ schon 1904 gab, ins Übersinnliche; die Ereignisse auf der Erde werden durch ein himmlisches Geschehen verdoppelt und determiniert – ein bei Steiner des Öfteren feststellbares Verfahren. Zum anderen führen auch die Engel den Kampf gegen Steiners kulturellen Hauptfeind, den Materialismus ...

Auf Erden jedoch regiert ein deterministischer Fortschritt unter dem Anspruch der ›Notwendigkeit‹:

›Es ist ein Fortschritt in der menschlichen Entwickelung. [...] Es ist gleichgültig, wie wir die Dinge bewerten; der notwendige Gang führt die Menschheit vorwärts, mag man das auch später Niedergang nennen. Die Notwendigkeit führt die Menschheit vorwärts.‹ (GA 121,25)

...

Die Engel sind konsequenterweise auch für die Entwicklung der Menschen zuständig. Als ›Verleiher der Ich-Organisation‹, die nun als Kriterium der Konstitution von Rassen ausgewiesen werden, erscheinen die ›abnormen Geister der Form‹ (GA 121,68), die seit der lemurischen Zeit die ›Rassenentwickelung‹ bewirken (GA 121,76).«

Geistige Wesenheiten spielten auch schon 1904 und 1909 eine Rolle, sie standen nur nicht im Zentrum der Darstellung. Vom alten Saturn heißt es beispielsweise in den Aufsätzen »Aus der Akasha-Chronik«:

»I. Es ist dieser Planet derjenige, auf dem sich das dumpfeste menschliche Bewusstsein entfaltet (ein tiefes Trancebewusstsein). Zugleich damit bildet sich die erste Anlage des physischen Menschenleibes.

II. Diese Entwickelung geht durch sieben Unterstufen (kleinere Kreisläufe oder «Runden») hindurch. Auf jeder dieser Stufen setzen höhere Geister an der Ausbildung des Menschenleibes mit ihrer Arbeit ein, und zwar im

1. Kreislauf die Geister des Willens (Throne),

2. Kreislauf die Geister der Weisheit (Herrschaften),

3. Kreislauf die Geister der Bewegung (Mächte),

4. Kreislauf die Geister der Form (Gewalten),

5. Kreislauf die Geister der Persönlichkeit (Urkräfte),

6. Kreislauf die Geister der Söhne des Feuers (Erzengel),

7. Kreislauf die Geister der Söhne des Zwielichtes (Engel).

III. Im vierten Kreislauf erheben sich die Geister der Persönlichkeit zur Stufe der Menschheit.

IV. Vom fünften Kreislauf an offenbaren sich die Seraphim.

V. Vom sechsten Kreislauf an offenbaren sich die Cherubim.

VI. Vom siebenten Kreislauf an offenbaren sich die Throne, die eigentlichen «Schöpfer der Menschen».

VII. Durch die letztere Offenbarung entsteht in dem siebenten Kreislauf des ersten Planeten die Anlage zum «Geistmenschen», zu Atma.« (GA 11, S. 170)

Und über die Eingeweihten der atlantischen Zeit sagte man: »... daß sie ›mit den Göttern verkehren‹ und von diesen selbst in die Gesetze eingeweiht werden, nach denen sich die Menschheit entwickeln müsse. Und das entsprach der Wirklichkeit. An Orten, von denen die Menge nichts wusste, geschah diese Einweihung, dieser Verkehr mit den Göttern. Mysterientempel wurden diese Einweihungsorte genannt. Von ihnen aus also geschah die Verwaltung des Menschengeschlechts. ...

Die Sprache, welche die Götter mit ihren Boten in den Mysterien sprachen, war ja auch keine irdische, und die Gestalten, in denen sich diese Götter offenbarten, waren ebensowenig irdisch. ‹In feurigen Wolken» erschienen die höheren Geister ihren Boten, um ihnen mitzuteilen, wie sie die Menschen zu führen haben. In menschlicher Gestalt kann nur ein Mensch erscheinen; Wesenheiten, deren Fähigkeiten über das Menschliche hinausragen, müssen in Gestalten sich offenbaren, die nicht unter den irdischen zu finden sind.« (GA 11, S. 45-46)

Von einer 1910 »zusätzlich eingeführten Engelshierarchie« kann also keine Rede sein, ebensowenig von einer »doppelten Spiritualisierung« oder einer »Überhöhung der Führerfiguren« von 1904, da es das alles 1904 auch schon gab. Es handelt sich um nichts als abstruse Thesen, die mit der Realität nichts zu tun haben.

Das gilt auch für das Folgende. Denn nun führt Zander wieder einen seiner Lieblingsvorwürfe gegen Steiner ins Feld: den »Determinismus«. Den soll es geben, weil »die Ereignisse auf der Erde durch ein himmlisches Geschehen determiniert« sind und weil die Ereignisse auf der Erde gleichzeitig von einem deterministischen Fortschritt unter dem Anspruch der ›Notwendigkeit‹ determiniert sind. Wem all das ein bisschen viel Determinismus, ja eine selbstwidersprüchliche Verdoppelung von Determinismus ist, der möge sich bei Zander beklagen. Die Ereignisse auf der Erde sollen einerseits »durch ein himmlisches Geschehen« determiniert sein, gleichzeitig aber auch »durch einen Fortschritt«, der seinerseits wieder »durch die Notwendigkeit« determiniert ist ... Anlass zu dieser Inflation des Determinismus bietet Zander ein Steinerzitat:

»Es ist ein Fortschritt in der menschlichen Entwickelung. [...] Es ist gleichgültig, wie wir die Dinge bewerten; der notwendige Gang führt die Menschheit vorwärts, mag man das auch später Niedergang nennen. Die Notwendigkeit führt die Menschheit vorwärts.« (GA 121,25)

Worauf bezieht sich dieses Zitat? Sehen wir uns den Kontext an, den Zander natürlich unterschlägt und achten wir auf die für ihn höchst charakteristischen Auslassungen. Im ersten Vortrag der Reihe »Die Mission der einzelnen Volksseelen ...«, am 7. Juni 1910, führt Steiner aus:

»Wenn wir uns einmal geistig veranschaulichen, wie in der Weltgeschichte Volk nach Volk und auch Volk neben Volk wirkt, so können wir jetzt, wenigstens in abstrakter Form – die Form wird immer konkreter und konkreter werden in den nächsten Vorträgen – uns vorstellen, dass alles, was da vor sich geht, inspiriert ist von diesen geistigen Wesenheiten [den Erzengeln als Volksgeistern].

Aber eines wird uns wohl leicht vor die Seele treten können: dass neben diesem Wirken von Volk nach Volk noch etwas anderes stattfindet in der Menschheitsentwickelung. Sie können, wenn Sie jenen Zeitraum überblicken, den wir von der großen atlantischen Katastrophe aus rechnen, die das Antlitz der Erde so weit verändert hat, dass jener Kontinent, der bestanden hat zwischen dem heutigen Afrika, Amerika und Europa, in jener Zeit untergegangen ist, die Zeiträume unterscheiden, in welchen die großen Völker gewirkt haben, bei denen die nachatlantischen Kulturen herauskamen: die alte indische, die persische, die ägyptisch-chaldäische, die griechisch-lateinische und unsere gegenwärtige Kultur, die nach einiger Zeit in die sechste Kulturepoche übergehen wird.

Wir bemerken auch, dass nacheinander darin gewirkt haben verschiedene Völkerinspiratoren. Wir wissen, dass noch lange die ägyptisch-chaldäische Kultur gewirkt hat, als die griechische Kultur schon ihren Anfang nahm, und dass die griechische Kultur noch weiter waltete, als die römische schon ihren Anfang genommen hatte.

So können wir die Völker nebeneinander und nacheinander betrachten. Aber in allem, was sich in und mit den Völkern entwickelt, entwickelt sich noch etwas anderes.

Es ist ein Fortschritt in der menschlichen Entwickelung. Es kommt dabei nicht in Betracht, ob wir das eine höher oder niedriger stellen. Es kann zum Beispiel einer sagen: Mir gefällt die indische Kultur am besten. Das mag ein persönliches Urteil sein. Wer aber nicht auf persönliche Urteile schwört, der wird sagen: Es ist gleichgültig, wie wir die Dinge bewerten; der notwendige Gang führt die Menschheit vorwärts, mag man das später auch Niedergang nennen. Die Notwendigkeit führt die Menschheit vorwärts.

Wenn wir die verschiedenen Zeiträume vergleichen, 5000 Jahre vor Christus, 3000 Jahre vor Christus und 1000 Jahre nach Christus, dann ist etwas noch da, was über die Volksgeister hinübergreift, etwas, woran die verschiedenen Volksgeister teilnehmen. Sie brauchen das nur in unserer Zeit ins Auge zu fassen.

Woher kommt es, dass in diesem Saale so viele Menschen zusammensitzen können, die aus den verschiedensten Volksgebieten herkommen und sich verstehen und sich zu verstehen versuchen in bezug auf das Allerwichtigste, was sie hier zusammengeführt hat? Die verschiedenen Menschen kommen aus dem Bereich der verschiedensten Volksgeister heraus, und dennoch gibt es etwas, worin sie sich verstehen. In ähnlicher Weise verstanden sich und konnten sich verstehen in damaliger Zeit die verschiedenen Völker untereinander, weil es in jeder Zeit etwas gibt, was die Volksseele übergreift die verschiedenen Volksseelen zusammenführen kann, etwas, was man überall mehr oder weniger versteht. Das ist dasjenige, was man mit dem recht schlechten, aber gebräuchlichen deutschen Wort ›Zeitgeist‹ benennt oder auch ›Geist der Epoche‹.

Der Geist der Epoche, der Zeitgeist, ist ein anderer in der griechischen Zeit, ein anderer in der unsrigen. Diejenigen, welche den Geist in unserer Zeit erfassen, werden zur Theosophie hingetrieben. Das ist das aus dem Geiste der Epoche über die einzelnen Volksgeister Übergreifende. In derjenigen Zeit, in der Christus Jesus auf der Erde erschien, bezeichnete sein Vorläufer, Johannes der Täufer, den Geist, den man als Zeitgeist bezeichnen könnte, mit den Worten: ›Ändert die Verfassung der Seele, denn die Reiche der Himmel sind nahe herbeigekommen.‹«

Wichtig ist hier einiges, das Zander ausgelassen hat. Zum Beispiel der Satz, der auf »Es ist ein Fortschritt in der menschlichen Entwickelung« folgt: »Es kommt dabei nicht in Betracht, ob wir das eine höher oder niedriger stellen.« Gleichgültig, ob man diesen Fortschritt später als Niedergang betrachtet oder nicht: der notwendige Gang führt die Menschheit vorwärts. Und was drückt sich in diesem notwendigen Gang aus? Das Wirken der Zeitgeister – d.h. Angehörige jener angeblich 1909 zusätzlich eingeführten Engelshierarche, die das Geschehen auf der Erde determiniert, das gleichzeitig von der Notwendigkeit determiniert sein soll. Diese Notwendigkeit ist aber Ausdruck des Wirkens der Zeitgeister – das heißt, es ist ein und dieselbe »Determination«, wenn man diesen untauglichen Begriff verwenden will. Und diese Zeitgeister stellen das bereit, wodurch sich die einzelnen Völker, die zeitlich koexistieren, verstehen können, eine höhere geistige Sphäre an der die Völker und die einzelnen Menschen, die den Völkern angehören, teilhaben, den gemeinschaftlichen Geist einer Epoche, der das Wirken der Völker harmonisiert und ihr gegenseitiges Verstehen ermöglicht. »Diejenigen, welche den Geist in unserer Zeit erfassen, werden zur Theosophie hingetrieben. Das ist das aus dem Geiste der Epoche über die einzelnen Volksgeister Übergreifende.« Diese Theosophie enthält die der gegenwärtigen Zeitepoche angemessene Form der Christusoffenbarung, welche die Menschheit in der Lebe Christi vereinigen und sie über alle Zerkflüftungen und Spaltungen der Völker und Rassen hinausführen will. Aus dieser Perspektive ist nichts »höher« oder »niedriger«, denn auch im »Niedergang« wirkt Christus.

Nun behauptet Zander: »Als ›Verleiher der Ich-Organisation‹, die nun als Kriterium der Konstitution von Rassen ausgewiesen werden, erscheinen die ›abnormen Geister der Form‹«. Für Zander mag es nebensächlich scheinen, aber für den Geistesforscher ist es die Hauptsache: nicht die »abnormen Geister der Form« sind die Verleiher der Ich-Organisation, sondern die »regulären Geister der Form«, denn diese Ich-Organisation, die Ausdruck des Christuswesens ist, das sich durch die Gesamtheit der regulären Geister der Form offenbart, führt den Menschen über die Rassenspaltung hinaus, die von den Antagonisten des Christus, den abnormen Geistern der Form geschaffen wurde! Zander macht die Widersacher des Christus zu den Schöpfern des menschlichen Allerheiligsten, zu dem, was die Grundlage der Vereinigung der Menschheit in Christus, zur Überwindung des Rassismus bildet. Muss man sich noch wundern, dass Zander nicht zu begreifen vermag, warum die Anthroposophie die endgültige Überwindung des Rassismus ist? Mit dieser Aussage fesselt er den Menschen an die Rasseneigenschaften, er zwingt ihm jenen Determinismus der Biologie auf, den er so vollmundig immer Steiner vorwirft, und verbaut ihm die Möglichkeit, sich von seiner physiologischen Vereinseitigung zu befreien!

Im vierten Vortrag am 10. Juni 1910, führt Steiner aus:

»Die hauptsächlichste Wesenheit, welche für den heutigen Menschen in Betracht kommt, ist diejenige, welche ihm die Möglichkeit gegeben hat, zu sich «Ich» zu sagen, nach und nach zu dem Bewusstsein des Ich zu
kommen. Und wir wissen, dass diese Möglichkeit zuerst von den Geistern der Form, von denjenigen Wesenheiten gegeben worden ist, die wir Gewalten, Exusiai nennen. Wenn wir gerade diese Wesenheiten bei ihrer Tätigkeit, welche sie dem Menschen zuwenden, belauschen und uns gewissermaßen fragen: Wie würde es mit dem Menschen werden, wenn bloß diese Wesenheiten, und zwar nur diejenige Art dieser Wesenheiten, die in normaler Entwickelung sich befindet, in der Hauptsache im Menschen tätig wäre? — so werden wir finden: Sie sind die Verleiher der Ich-Organisation. Damit ist aber schon gesagt, dass sie eigentlich, wenn wir sie ihrer eigenen Natur nach betrachten, ihr Hauptinteresse daran haben, den Menschen zu seinem Ich zu bringen.« (GA 121, 10. Juni 1910)

Und über die abnormen Geister der Form heißt es am 9. Juni 1910:

»... auf diesem Umwege sind die abnormen Geister der Form – diejenigen Geister der Form oder Gewalten, die zu einer anderen Zeit als zwischen dem einundzwanzigsten bis dreiundvierzigsten Jahre dem Menschen das geben, was wir heutiges Erdenbewußtsein nennen – die Verursacher der Rassenverschiedenheit des Menschen über die ganze Erde hin, die also von dem Orte auf der Erde abhängt, auf dem der Mensch geboren wird.« (GA 121, 9. Juni 1910)

Erneut kommt Zander auf Steiners angeblichen Determinismus und Sozialdarwinismus im Kontext der Volksgeister zu sprechen und interpretiert alle möglichen Widersprüche in dessen Darstellungen hinein, wo keine vorhanden sind, oder macht ihm eine Dialektik zum Vorwurf, die er nicht erfunden hat, sondern die ein konstitutiver Bestandteil der Wirklichkeit selbst ist.

Auf S. 311-312 schreibt Zander:

1.

»Die Zugehörigkeit zu einem Volk bestimmt Steiner wie bei den Rassen 1917 sowohl durch biologische als auch durch ›karmische‹ Größen: Er kennt den Aspekt einer naturalen Zugehörigkeit (GA 174,57), doch postuliert er in seiner ›Karmadoktrin‹, dass der Mensch sich die Eltern und damit ein Volk bei einer neuen Inkarnation aussuche (GA 174,58). Zwei Theoriemodelle, Vererbung und Reinkarnation, stoßen hier, nur locker miteinander verbunden, aufeinander und sollen beide die Zugehörigkeit zu einer ›Nationalität‹ begründen, ohne dass Steiner die Vereinbarkeit dieser Modelle weiter reflektiert. Nicht weiter reflektiert wird, wie sich Steiner den Wechsel der Zugehörigkeit zu einem Volk41, die er als Freiheit von genetischen Bindungen versteht, vorstellt und wie sich ein solcher Wechsel zur ›blutsmäßigen‹ Zugehörigkeit und zu karmischen Bedingungen verhält.«

Anmerkung 41 verweist auf: Steiner: Aus dem mitteleuropäischen Geistesleben. Dornach 1962, S. 608.

2.

»Der Aufstieg und Niedergang von Völkern, unterliegt, wie schon die Rassengeschichte, einem notwendig ablaufenden Fortschrittsmodell:

›Aber in allem, was sich in und mit den Völkern entwickelt, entwickelt sich noch etwas anderes. Es ist ein Fortschritt in der menschlichen Entwickelung‹ (GA 121,25) – für Steiner ein ›notwendiger Gang‹. Er realisierte dabei 1908 durchaus die sozialdarwinistische Erniedrigung von Völkern zur Konkursmasse der Kosmologie:

›Ist das nicht ein ungeheuer harter Gedanke, dass ganze Völkermassen unreif werden und nicht die Fähigkeit entwickeln, sich zu entfalten, dass nur eine kleine Gruppe fähig wird, den Keim zur nächsten Kultur abzugeben? – Aber dieser Gedanke wird für Sie nicht mehr etwas Beängstigendes haben .... Die Rasse kann zurückbleiben, eine Völkergemeinschaft kann zurückbleiben, die Seelen aber schreiten über die einzelnen Rassen hinaus.‹ (GA 104.89)

Der Determinismus, denen die ›Völkermassen‹ unterliegen, soll durch eine ›individuelle Schicksalsgestaltung‹ überwunden werden.«

Zu 1.

Entgegen Zanders Behauptung, in »Biologie und Karma« stießen zwei »nur locker miteinander verbundene Theoriemodelle« aufeinander, deren »Vereinbarkeit« Steiner »nicht weiter« reflektiere, handelt es sich bei »Vererbung und Reinkarnation«, um zwei Aspekte ein und desselben Sachverhalts, die durch einfache Logik zueinander in Beziehung stehen.

Wenn man die geistige Individualität des Menschen nicht zur Resultante der Vererbung erklärt (biologischer Reduktionismus) oder sie gänzlich als Funktion der sozialen Konstellationen auffasst (soziologischer Reduktionismus), dann muss man davon ausgehen, dass sie bereits vor der Geburt bzw. Empfängnis existiert.

Der Leib wird von Eltern gezeugt und – sofern keine Reproduktionsmedizin diesen natürlichen Prozess konterkariert – von der Mutter geboren. Geboren wird der Leib, der Geist aber wird vom Leib empfangen, er inkarniert sich. Der Leib unterliegt der Vererbung, der Geist der Reinkarnation. Der Leib ist ein Ergebnis der Vererbung, der Geist ein Ergebnis seiner eigenen geistigen Vorgeschichte.

Die geistige Individualität wird nicht nur in eine Familie hineingeboren, sondern auch in ein Volk, da die Familie ja ihrerseits wiederum dem kulturellen Raum eines Volkes angehört. Völker sind im übrigen nach Steiners Auffassung keine »Rassen«, also auch nicht durch »naturale« – sprich biologische –  Faktoren bestimmt, sondern durch Sprache, Kultur und Tradition, also durch geistige Faktoren.

Und natürlich wird das Kind in einen Kulturraum hineingeboren, in dem es aufwächst und dessen »eigentümliche Geisteskonfiguration es sich im Laufe seines Heranwachsens aneignet. Die durch die Vererbung geschaffenen leiblichen Bedingungen der Inkarnation entsprechen wiederum der geistigen Vorgeschichte der Individualität, die sich in der betreffenden Familie inkarniert, ebenso wie die kulturellen Ausgangsbedingungen dieser geistigen Vorgeschichte entsprechen.

Die geistige Individualität aber schöpft ihren geistigen Inhalt weder aus den Bedingungen der Vererbung (aus der Biologie, was einem biologischen Reduktionismus entspräche), noch aus den Bedingungen der Volkskultur (aus den sozialen und kulturellen Konstellationen, was einem sozialen oder nationalen Reduktionismus entspräche), sondern wächst über all diese Bedingungen hinaus. »Die Natur macht aus dem Menschen bloß ein Naturwesen; die Gesellschaft ein gesetzmäßig handelndes; ein freies Wesen kann er nur selbst aus sich machen. Die Natur lässt den Menschen in einem gewissen Stadium seiner Entwicklung aus ihren Fesseln los; die Gesellschaft führt diese Entwicklung bis zu einem weiteren Punkte; den letzten Schliff kann nur der Mensch selbst sich geben«, heißt es bereits in der »Philosophie der Freiheit« 1893.

Auf diese Fragestellung ging Steiner wiederholt ein. Zum Beispiel in einem Vortrag am 17. Dezember 1916 in Dornach. Hier erläuterte er das Zusammenspiel von »Vererbung und Reinkarnation«, das bei der Geburt eines jedes Menschen eine Rolle spielt, am Beispiel Dantes:

»Ich habe in der letzten Zeit an verschiedenen Orten von dem Zusammenhange der Menschenseele zwischen Tod und neuer Geburt mit dem, was auftritt, wenn der Mensch durch die Geburt ins Dasein tritt, gesprochen. Ich habe darauf aufmerksam gemacht, dass der Mensch zwischen dem Tod und neuer Geburt mit den Kräften in Verbindung ist, die die Menschen durch Generationen zusammenführen. Durch das Immer-wieder-Zusammenkommen von Elternpaaren und so weiter in der Nachkommenschaft und in den sonstigen Bedingungen, die mit der Generationenfolge zusammenhängen, wird bewirkt, dass der Mensch, der zwischen Tod und Geburt in der ganzen Strömung darinnen ist, zuletzt zu dem Elternpaar geführt wird, durch das er sich verkörpern kann. So wie man im physischen Leben mit seinem physischen Leib zusammenhängt, so hängt man zwischen Tod und neuer Geburt zusammen mit den Verhältnissen, welche die Geburt aus einem bestimmten Elternpaar heraus vorbereiten. In den Kräften, die einen Menschen schließlich zu einem bestimmten Elternpaar führen, die bewirken, dass dieser Vater, diese Mutter wieder ihre Eltern hatten und so weiter rückwärts, in alldem, was sich da in verschiedenen Verzweigungen verästelt, was in der verschiedensten Weise zusammenwirkt, in alledem steckt man drinnen wahrend Jahrhunderten!

Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass es schon eine stattliche Anzahl von Jahrhunderten gibt, wenn man nur in dem darinnensteckt, was durch dreißig Generationen zieht. Denn von Karl dem Großen bis auf unsere Zeit sind etwa dreißig Generationen, und in allem, was sich da so vollzieht an Sich-Lieben, Sich-Finden, Nachkommenschaft erzeugen, das zuletzt zu dem Elternpaar führt, aus dem man geboren wird, in alledem steckt man selbst darinnen, das hat man alles selber vorbereitet.

Ich wiederhole dies aus dem Grunde, weil bei denjenigen Persönlichkeiten, die man die Führenden nennt und die man als Führende in einer gewissen Weise anerkennen kann, es wichtig ist, einzusehen, wie gerade durch die eben angeführte Tatsache das zustande kommt, was sie dann für die Menschheit bedeuten. Ich möchte Ihren Blick auf eine führende Persönlichkeit lenken, aber das, was über sie zu sagen ist, zuletzt gipfeln lassen in einem Ausspruch, den ein anderer über diese Persönlichkeit getan hat. Sie werden gleich sehen, warum.

Wir haben in Dante eine ganz hervorragende Persönlichkeit am Ausgang des vierten nachatlantischen Zeitraums. Wir können eine solche hervorragende Persönlichkeit jenen Persönlichkeiten gegenüberstellen, die nach Eintritt des fünften nachatlantischen Zeitraums eine gewisse Bedeutung erlangt haben, wie zum Beispiel Thomas Morus. Fassen wir dasjenige, was wir bei einer solchen Persönlichkeit wie Dante im Allgemeinen erkannt haben, im Speziellen ins Auge. Eine Persönlichkeit wie Dante wirkt weithin impulsierend, weithin bedeutungsvoll. Da ist es schon interessant, wenigstens ahnend darüber nachzudenken, wie eine solche Seele, bevor sie durch die Geburt in ein physisches Erdendasein tritt, das für die Menschheit bedeutend sein wird, sich gewissermaßen, wenn ich den etwas barocken Ausdruck gebrauchen darf, zusammenstellt dasjenige, was sie werden soll, um in der richtigen Weise durch das richtige Elternpaar geboren zu werden. Selbstverständlich werden diese Verhältnisse aus der geistigen Welt heraus zustande gebracht; aber sie werden mit Hilfe der physischen Werkzeuge realisiert. Es wird also gewissermaßen aus der geistigen Welt heraus dieses Blut zu jenem Blut dirigiert und so weiter.

In der Regel kann eine Persönlichkeit wie Dante nie zustande kommen aus einem homogenen Blut heraus. Einem Volke anzugehören, ist für eine solche Seele geradezu unmöglich. Da muss schon eine geheimnisvolle Alchimie stattfinden, das heißt, es muss verschiedenes Blut zusammenfließen. Was auch diejenigen sagen mögen, welche in Überpatriotismus die großen Persönlichkeiten für ein Volk in Anspruch nehmen wollen, es steckt nicht viel Reales dahinter!

Was Dante betrifft, so möchte ich zunächst, damit Sie sehen, dass ich nicht parteiisch bin, einen andern schildern lassen, was in seinem Wesen deutlich zutage tritt für den, der auf dieses Wesen einzugehen versteht. Man könnte sehr leicht glauben, dass ich irgendwie Politik treibe, was mir natürlich so fern wie möglich liegt. Deshalb habe ich bei Carducci, dem großen italienischen Dichter der neueren Zeit, der ein großer Dante-Kenner war, angefragt. ...

Nun sagt Carducci: In Dante wirken drei Elemente zusammen, und nur durch das Zusammenwirken dieser drei Elemente konnte Dantes Wesenheit das werden, was sie war. Erstens durch gewisse Glieder seiner Abstammung ein altetruskisches Element. Von diesem habe Dante dasjenige erhalten, was ihm die übersinnlichen Welten erschlossen hat, dadurch konnte er in so tiefer Weise über die übersinnlichen Welten sprechen. Zweitens liege in ihm das romanische Element, welches ihn das rechte Verhältnis gewinnen lässt zu dem Leben des Tages und das Ausgehen von gewissen Rechtsbegriffen. Und als drittes, sagt Carducci, liegt in Dante das germanische Element. Von diesem hat er die Kühnheit und Frische der Anschauung, einen gewissen Freimut und festes Eintreten für dasjenige, was er sich vorgesetzt hat. Aus diesen drei Elementen setzt Carducci das Seelenleben Dantes zusammen.

Das erste weist uns hin auf Altkeltisches, das ihn irgendwie durchblutet und ihn zurückführt in den dritten nachatlantischen Zeitraum, denn das Keltische im Norden führt zurück in dasjenige, was wir kennengelernt haben als den dritten nachatlantischen Zeitraum. Dann finden wir den vierten nachatlantischen Zeitraum im romanischen, den fünften im germanischen Elemente. Aus den drei Zeiträumen und ihren Impulsen setzt Carducci die Elemente in Dantes Seele zusammen, so dass wir also wirklich drei Schichten haben, welche nebeneinander oder vielmehr übereinander gelagert sind: dritter, vierter, fünfter Zeitraum, keltisch, romanisch, germanisch. Gute Dante-Forscher haben viele Bemühungen angestellt, um dahinterzukommen, wie Dante von der geistigen Welt aus sein Blut in der Weise hat mischen können, dass es ein derartig zusammengesetztes wurde. Sie haben es natürlich nicht mit diesen Worten ausgesprochen, wie ich es jetzt sage, aber sie haben diese Bemühungen angestellt, und manches ist, wie man glaubt, dadurch zustande gekommen, dass ein gutes Stück von Dantes Vorfahrenschaft in Graubünden zu finden ist. Das kann die Geschichte schon bis zu einem gewissen Grade bestätigen: Nach allen Windrichtungen hin, aber auch nach dieser Gegend, wo so viel Blutmischung stattgefunden hat, weist der Vorfahrenzug Dantes hin.

Wir sehen so, wie an einer einzelnen Persönlichkeit das merkwürdige Zusammenwirken der drei Schichten europäischer Menschheitsentwickelung zutage tritt. Und Sie sehen, ein Mann wie Carducci, der dieses Urteil nicht gefällt hat unter dem Einfluss der heutigen völkischen Tollheit, sondern aus einer gewissen Objektivität heraus, weist auf dasjenige hin, was bei Dante zugrunde liegt.« (GA 173, Dornach, 17. Dezember 1916)

Auch die Behauptung, von Steiner werde der »Wechsel der Volkszugehörigkeit« nicht weiter reflektiert, trifft nicht zu. Denn in dem von Zander herangezogenen Vortrag heißt es:

» ... eine solche Volksseele wirkt aus gewissen Tiefen des Geisteswesens heraus das ganze Leben auf den Menschen ein. Selbstverständlich muss das nicht sein. Der Mensch kann das eine Volk verlassen, in das andere aufgenommen werden. Aber die Wirkungen sind trotzdem so, wenn sie sich dadurch auch modifizieren. ... Wer während seines ganzen Lebens in seinem Volke stehenbleibt, hat eben diese Wirkung sein ganzes Leben hindurch. Wer von einem Volk in das andere geht, wird eben zuerst die Wirkung der einen Volksseele, nachher auch die der anderen Volksseele haben. Darauf kommt es jetzt nicht an. Es wäre interessant, die einzelnen Wirkungen des Wechselns der Volksseele anzudeuten, aber dazu ist nicht die Zeit.« (GA 65, Berlin, 13. April 1916)

Der betreffende Mensch wird also zunächst die Wirkungen der einen Volksseele in sich aufnehmen, danach die einer anderen, so dass die zweiten die ersten modifizieren usw..

Auf diese Frage kam Steiner des öfteren zurück. Zum Beispiel am 7. Januar 1917 in Dornach. Dieser Vortrag ist noch aus einem weiteren Grund von Bedeutung. Denn Steiner entkräftet in ihm den auch von Zander erhobenen Vorwurf, seine Charakterisierung europäischer Völker oder Volksseelen führe zu einer Hierarchisierung oder Abwertung.

Was die Beziehung des Einzelnen zur Volksseele betrifft, so ließen sich Steiners Erörterungen gut mit Freuds Formel: »Wo Es war, soll Ich werden«, zusammenfassen: Was unbewusst und damit unfrei an der Verbindung zum Volk ist, soll ins Bewusstsein gehoben und dadurch vergeistigt und frei werden. Durch die Anthroposophie wird das Allgemein-Menschliche ins Bewusstsein gehoben, das für alle Menschen, unabhängig von ihrer Volkszugehörigkeit gilt. Sie lehrt aber auch verstehen, in welcher Beziehung die Differenzierungen des Allgemein-Menschlichen, die durch die Völker zustande kommen, zu diesem stehen. Und sie lehrt einen Weg zur Befreiung von den Vereinseitigungen, die durch diese Differenzierungen zustande kommen. Schließlich zeigt sie auf, dass und wie diese Differenzierungen aus Freiheit bejaht werden können, ohne dass sie das Allgemein-Menschliche oder die Freiheit des Einzelnen einschränken.

»Wir haben verschiedene Erwägungen angestellt über die Zugehörigkeit des Menschen zu diesem oder jenem Volkstum, oder, wie man auch sagt in der neueren Zeit, zu dieser oder jener Nation oder Nationalität.

Nun ist gerade das Allgemein-Menschliche das, was der Mensch an sich trägt, ohne dass es sich in dieses oder jenes Volkstum individualisiert, spezifiziert, was man sich durch die Geisteswissenschaft voll zum Bewusstsein bringen kann, weil ja alles das, was den Hauptinhalt der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft ausmacht, wirklich für jeden Menschen gilt, ohne irgendeinen Gruppenunterschied.

Und wenn man vom anthroposophischen Standpunkte aus nationale Differenzierungen betrachtet, so betrachtet man sie ja auch anders als vom nichtanthroposophischen Standpunkte, indem man gewissermaßen objektiv ins Auge fasst, worauf diese Differenzierungen beruhen. Die Dinge können objektiv ins Auge gefasst werden.

Wir sind uns ja der Dreigliedrigkeit unserer Seele in Empfindungsseele, Verstandes- oder Gemütsseele und Bewusstseinsseele bewusst, welche drei Glieder ausgefüllt, durchgeistigt, durchlebt werden von der Ichheit. Die Empfindungsseele ist dasjenige, was von der italienischen Volksseele besonders beeinflusst wird, wenn die Kräfte und Impulse der Volksseele in die einzelne Menschenseele hineinwirken. Die Verstandes- oder Gemütsseele im einzelnen Menschen ist für die französische, die Bewusstseinsseele für die britische Volksseele, das Ich für die mitteleuropäischen und das Geistselbst für die Volksseelen der slawischen Völker besonders empfänglich. Wenn wir dies erkennen und durchdringen, so sollten wir nicht mehr dazu verführt werden, Urteile zu fällen, wie sie eben sehr häufig gefällt werden.

Jemand, der diese Dinge gehört hat, ist nun gewissermaßen wütend geworden aus dem Grunde, weil er vernommen hat: Durch die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft wird das deutsche Volkstum so interpretiert, als ob die Volksseele hereinwirkt in das Ich. –

Sein Irrtum war, dass er dies für etwas Höheres gehalten hat, als wenn die Bewusstseinsseele von der Volksseele beeinflusst wird. Das lag an ihm!

In der Geisteswissenschaft werden die Dinge in ihrer Objektivität nebeneinander hingestellt. Die Volksseelen haben ihre Aufgaben, und die bestehen in diesem Hereinwirken. Aber bei diesem Hereinwirken der Volksseele in die Menschenseele müssen wir uns durchaus klar sein, dass gerade in unserem fünften nachatlantischen Zeitraum eine gewisse Entwickelung vor sich gehen muss. Und als das erste Glied dieser Entwickelung müssten eigentlich diejenigen sich fühlen, die jetzt zur anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft hinneigen.

Wodurch wirkt denn eigentlich die Volksseele in das Menschengemüt herein? Wenn wir so, wie die Menschheit einmal ist, betrachten, was in bezug auf diese Sache geschieht, so müssen wir sagen:

Das Hereinwirken der Volksseele in die individuelle Menschenseele ist zunächst ein unterbewusstes, das nur teilweise heraufsteigt in das Bewusstsein. Der Mensch fühlt sich diesem oder jenem Volkstum angehörig, und in der Hauptsache geschieht ja die Einwirkung der Volksseele auf die Individualität des Menschen durch den Umweg des mütterlichen Prinzips. Das mütterliche Prinzip ist eingebettet in das Volksseelentum. Was den Menschen als physisch-ätherisches Naturwesen mehr herausreißt aus dem Gruppenhaften, ist die Einwirkung des väterlichen Impulses. Das habe ich in früheren Jahren öfter auseinandergesetzt. Für die christliche Weltanschauung liegt das schon in den Evangelien ausgedrückt. Auch darüber ist in früheren Jahren gesprochen worden.

Im wesentlichen wird, so wie die Dinge heute noch liegen, zunächst durch das Blut vom Volkstume aus in den Menschen hereingewirkt, und durch dasjenige, was im Ätherleibe dem Blute entspricht. Natürlich haben wir es da mit einem mehr oder weniger animalischen Impulse zu tun, und er bleibt animalisch für den weitaus größten Teil der heutigen Menschen. Der Mensch gehört einem gewissen Volkstum an durch sein Blut. Welche geheimnisvollen Kräfte und Impulse in das Blut hineinwirken, ist schwierig im einzelnen auseinanderzusetzen, weil diese Impulse außerordentlich vielgestaltig, mannigfaltig sind. Aber sie liegen unter der Oberfläche des Bewusstseins.

Viel bewusster lebt der Mensch in all dem, was an Menschlichkeit ohne Unterschied der Nation in ihm lebt.

Daher wird auch das Pathos, die Leidenschaft, der Affekt, mit dem sich der Mensch einer Nationalität angehörig fühlt, mit einer gewissen elementaren Kraft hervortreten. Der Mensch wird nicht versuchen, logische Gründe oder Urteile geltend zu machen, wenn es sich für ihn darum handelt, seine Zusammengehörigkeit mit seiner Nationalität zu bestimmen oder zu empfinden. Das Blut und das Herz, das unter dem Einflusse des Blutes steht, bringt den Menschen mit seiner Nationalität zusammen, lässt ihn in der Nationalität drinnen leben.

Die Impulse, die da in Betracht kommen, sind unterbewusst, und es ist schon viel gewonnen, wenn man sich dieses unterbewussten Charakters bewusst ist. Gerade in bezug darauf ist es wichtig, wenn der Mensch, der an die Geisteswissenschaft herantritt, in sich selber eine Entwickelung durchmacht, wenn er in bezug auf diese Dinge gewissermaßen anders empfindet als die übrige Menschheit.

Wenn Menschen, die nicht der Geisteswissenschaft angehören, gefragt werden, wie sie mit ihrer Nationalität zusammenhängen, so werden und müssen sie sagen: Durch das Blut! – Das ist die einzige Idee, die sie sich über die Zugehörigkeit zu ihrer Nationalität machen können. Der Geisteswissenschafter soll allmählich dazu kommen, sich nicht diese Antwort zu geben, sondern eine andere.

Würde er sich nicht allmählich zu dieser andern Antwort entwickeln können, so würde er die Geisteswissenschaft nur theoretisch nehmen, nicht im eigentlichen Sinne praktisch und lebendig.

Während also der Nichtgeisteswissenschafter sich nur die Antwort geben kann: Durch mein Blut hänge ich mit meiner Nationalität zusammen, durch mein Blut verteidige ich dasjenige, was in der Nation lebt, durch mein Blut fühle ich die Verpflichtung, mich zu identifizieren mit meiner Nationalität –, muss der Geisteswissenschaf ter sich die andere Antwort geben: Durch mein Karma bin ich mit der Nationalität verbunden, denn es ist ein Teil des Karma. – Sobald man Karmabegriffe einführt, vergeistigt man allerdings das gesamte Verhältnis. Und während der Nichtgeisteswissenschafter für alles das, was er als Angehöriger eines bestimmten Volkes tut, das Pathos, die Impulsivität, das Blut aufrufen wird, wird derjenige, der die geisteswissenschaftliche Entwickelung durchgemacht hat, sich durch das Karma verbunden fühlen mit diesem oder jenem Volkstum.

Das ist eine Vergeistigung der Sache. Äußerlich mag dasselbe ablaufen, äußerlich mag der Mensch, wenn er diese Vergeistigung empfindet, das gleiche geltend machen; aber innerlich wird die Sache vergeistigt sein, und er wird ganz anders empfinden als derjenige, der die Zugehörigkeit gewissermaßen nur animalisch empfindet.

Da sehen Sie gerade einen Punkt, in dem die Zugehörigkeit zur Geisteswissenschaft die Seele zu etwas anderem macht, eine andere Stimmung in die Seele hineinbringt. Sie sehen aber zugleich, wie weit das allgemeine Zeitbewusstsein zurück ist hinter dem, was heute von den willigen Leuten wohl gewusst werden könnte.

Das allgemeine Zeitbewusstsein kann gar nicht anders, als die Zugehörigkeit des Menschen zur Nationalität nach dem Blute, oder nach dem, was sehr wenig blutsmäßig, aber eben im Zusammenhange mit dem Blut und aus diesem Anschauen des Blutes heraus geregelt wird, auffassen. Es wird eine viel freiere Auffassung dieser Zugehörigkeit Platz greifen, wenn die ganze Angelegenheit als eine Karmaangelegenheit betrachtet wird. Dann werden gewisse feine Begriffe auftauchen für denjenigen, der sich vielleicht der oder jener Nationalität bewusst anschließt und dadurch eine Karmaschwenkung vollzieht. (GA 174, Dornach, 7. Januar 1917)

Zu 2.

In den unter 2. zitierten Sätzen bietet Zander wieder ein aus dem Zusammenhang gerissenes Konglomerat von Satz- und Gedankenfragmenten, das sich in dieser Zusammenstellung bei Steiner nicht findet. Zuerst zitiert er anderthalb Sätze aus GA 121 von 1909 und schließt daran die Behauptung an, die in diesen anderthalb Sätzen implizierte »sozialdarwinistische Erniedrigung« habe Steiner 1908 realisiert. Wie konnte aber Steiner die Konsequenz aus einem Gedanken, den er erst 1909 aussprach, bereits 1908 realisieren?

Dass in den Sätzen »Es ist ein Fortschritt in der menschlichen Entwickelung. Es kommt dabei nicht in Betracht, ob wir das eine höher oder niedriger stellen. Es kann zum Beispiel einer sagen: Mir gefällt die indische Kultur am besten. Das mag ein persönliches Urteil sein. Wer aber nicht auf persönliche Urteile schwört, der wird sagen: Es ist gleichgültig, wie wir die Dinge bewerten; der notwendige Gang führt die Menschheit vorwärts, mag man das später auch Niedergang nennen. Die Notwendigkeit führt die Menschheit vorwärts ...« keine »sozialdarwinistische Erniedrigung von Völkern zur Konkursmasse der Kosmologie« steckt, wurde bereits weiter oben nachgewiesen. Vielmehr verweist das Zitat im Kontext auf das Wirken der Zeitgeister, durch welche die einzelnen Völker, die zeitlich koexistieren, an einer sie alle umfassenden geistigen Sphäre teilhaben, durch die sie sich gegenseitig verstehen und harmonisch zusammenwirken können. Es geht also gerade nicht um eine »sozialdarwinistische Erniedrigung von Völkern zur Konkursmasse«, sondern um eine Erhöhung der Völker zum gemeinsamen Menschheitsgeist, dem sie alle zustreben.

Das Zitat, das Zander nun anschließt: »Ist das nicht ein ungeheuer harter Gedanke, dass ganze Völkermassen unreif werden ...«, das belegen soll, dass Steiner die »sozialdarwinistische Erniedrigung von Völkern« realisiert haben soll, bezieht sich nicht auf Völker der Gegenwart oder der nachatlantischen Zeit, sondern auf die »Rassen« der atlantischen Zeit. Es ist daher nicht auf den Kontext übertragbar, auf den Zander es anwendet. Auch in diesem zweiten Zitat lässt Zander in einer für seine Zitierweise charakteristischen Art gewisse Sätze aus, die für das Verständnis des tatsächlich Gesagten von entscheidender Bedeutung sind.

Steiner spricht in der zitierten Passage aus GA 104 nicht über gegenwärtige Völker oder »Völkermassen«, sondern über die alte Atlantis und er weist in diesem Zusammenhang explizit darauf hin, dass das für die nachatlantischen Zeit maßgebliche Entwicklungsprinzip nicht die »Rassen-«, sondern die »Seelenentwicklung« sei, denn »keine Seele ist dazu verdammt, innerhalb irgendeiner Rasse zu bleiben«, die »Seelenentwicklung« schreitet über die »Rassenentwickelung« hinaus.

Nach Auseinandersetzungen über die zukünftige Epoche von Philadelphia (von der die Apokalypse des Johannes spricht), in der sich aus allen Völkern und Rassen, »aus allen Stämmen und Nationen« Menschen, die das »Prinzip des Fortschritts, die innere Freiheit und die Bruderliebe« in sich tragen, zu einem Bruderbund zusammenschließen werden, um durch die umfassende Verwirklichung des Christus-Prinzip die Menschheit auf ihrem Weg der spirituellen Evolution einen Schritt weiterzubringen, wirft Steiner einen Blick zurück in die atlantische Zeit:

»So ging es auch beim Herüberleben vom vierten Zeitlauf [der atlantischen Zeit] in unsere Zeit herein. Derjenige, der mit hellseherischen Blicken den Zeitenlauf zurückverfolgen kann, der kommt, wenn er hindurchgegangen ist durch die Zeiträume, die wir betrachtet haben – den griechisch-römischen, den ägyptisch-babylonischen, den altpersischen und den altindischen –, wenn er hindurchgegangen ist auch durch die Zeit der großen Flut, er kommt dann in die atlantische Zeit hinein.

Wir brauchen sie nicht ausführlich zu betrachten, aber wir müssen uns wenigstens klarmachen, wie sich diese atlantische Kultur herüberentwickelt hat. Auch da war es so, dass der große Teil der atlantischen Bevölkerung unreif war, sich weiterzuentwickeln, unfähig war, herüberzukommen in unsere Zeiten. Ein kleiner Teil, der in einem Gebiete in der Nähe des heutigen Irland lebte, entwickelte sich zur höchsten Kulturblüte des atlantischen Landes und zog gegen Osten. Wir müssen uns klar sein, dass dies nur der Hauptzug ist. Immer wanderten Völker von Westen nach Osten, und alle die späteren Völker in europäischen Gegenden, im nördlichen und im mittleren Europa, alle diese rührten her von jenem Zug, der da ging von Westen nach Osten.

Nur war unter der Leitung eines großen Führers der Menschheit derjenige Teil der Bevölkerung, der es zur höchsten Blüte gebracht hatte, am weitesten vorgeschritten. Der siedelte sich in Mittelasien an als ein ganz kleiner Volksstamm von auserwählten Menschen, und von da aus ging die Kolonie nach jenen Kulturgebieten, die wir angeführt haben, von da aus ging die Kulturströmung nach Alt-Indien, nach Persien, Ägypten, Griechenland und so weiter.

Sie können nun leicht fragen: Ist das nicht ein ungeheuer harter Gedanke, dass ganze Völkermassen unreif werden und nicht die Fähigkeiten entwickeln, sich zu entfalten, dass nur eine kleine Gruppe fähig wird, den Keim zur nächsten Kultur abzugeben? – Aber dieser Gedanke wird für Sie nicht mehr etwas Beängstigendes haben, wenn Sie unterscheiden zwischen Rassenentwickelung und Seelenentwickelung. Denn keine Seele ist dazu verdammt, innerhalb irgendeiner Rasse zu bleiben. Die Rasse kann zurückbleiben, eine Völkergemeinschaft kann zurückbleiben, die Seelen aber schreiten über die einzelnen Rassen hinaus. ... Keine Seele ist an einen zurückgebliebenen Leib gebunden, wenn sie sich nicht selber bindet.« (GA 104, Nürnberg, 21. Juni 1908)

Diese Ausführungen Steiners sind nicht zuletzt ein weiterer Beleg dafür, dass er kein Rassist war, denn nicht nur ist die Seelenentwicklung von der Rassenentwicklung völlig unabhängig, besteht doch der Fortschritt der Menschheit darin, dass sich erstere von der letzteren emanzipiert, sondern das »Prinzip des Fortschritts«, das moralische Ideal, dem die Menschheit zustrebt wird von ihm ausdrücklich in die »innere Freiheit und die Bruderliebe« gesetzt. Das »Prinzip der inneren Freiheit« kann man auch so formulieren, dass »keine Seele dazu verdammt ist, innerhalb irgendeiner Rasse zu bleiben« – d.h. keine Seele ist dazu verdammt, durch ihren Leib, durch ihren Organismus determiniert zu sein, denn eine jede kann sich von den Eigenschaften und Merkmalen des Leibes emanzipieren – ja darin besteht gerade der Fortschritt der Menschheit als Ganzer, dass die einzelnen Seelen diese Freiheit realisieren. Und das »Prinzip der Bruderliebe«, der »Selbstlosigkeit«, das neben jenes der inneren Freiheit tritt, ist der Gegensatz des Bruderhasses, des Egoismus, der sich unter anderem im Rassenhass manifestiert, der auf der Liebe zu dem beruht, das ist wie man selbst, und der dazu antreibt, andere zu bekämpfen, weil sie nicht so sind, wie man selbst ist. Der Egoismus aber, das Überhandnehmen der Selbstliebe wird laut Steiners Apokalypsedeutung »zum Kriege des einzelnen gegen den einzelnen auf den mannigfaltigsten Gebieten des Lebens« führen, »zum Kriege der Stände gegen die Stände, der Kasten gegen die Kasten, der Geschlechter gegen die Geschlechter.«

Als skandalös erweist sich der bemühte Versuch Zanders, eine Verwandtschaft zwischen Anthroposophie und Nationalsozialismus nachzuweisen. Hier schreckt er selbst vor massivsten Zitatfälschungen nicht zurück.

Auf S. 328-329 schreibt Zander:

»Schwierig beantwortbar und erwartungsgemäß umstritten ist die Frage der Verwandtschaften zwischen Anthroposophie und Nationalsozialismus ...

Ein philosophisch ambitionierter Nationalsozialist wie Alfred Baeumler sah an der Anthroposophie viele gute Seiten und suchte die Anknüpfungspunkte zwischen der nationalsozialistischen und der anthroposophischen Weltanschauung nicht zuletzt in der Rassenvorstellung:

›Insofern Rasse eine Naturwirklichkeit ist, scheint schon im Ansatzpunkt eine wesentliche Übereinstimmung zwischen der Menschenkunde des Nationalsozialismus und der Rudolf Steiners vorzuliegen‹.100«

Anmerkung 100 verweist auf: »Alfred Baeumler: Gutachten über die Waldorfschulen. Berlin 1942, ohne Seitenangabe zitiert bei Grandt: Schwarzbuch [Anm. 15], S. 191 ...«

Aus dem Baeumler-Gutachten zieht Zander den Satz aus:

»Insofern Rasse eine Naturwirklichkeit ist, scheint schon im Ansatzpunkt eine wesentliche Übereinstimmung zwischen der Menschenkunde des Nationalsozialismus und der Rudolf Steiners vorzuliegen.«

Er unterschlägt allerdings die Absätze, die unmittelbar darauf folgen. die ganze Passage im von Leschinsky veröffentlichten Gutachten (Achim Leschinsky: Waldorfschulen im Nationalsozialismus. Im Neue Sammlung 23, 1983, S. 255-283) lautet jedoch:

»Die nationalsozialistische Menschenkunde kann nur von der Rasse her entworfen werden. Insofern Rasse eine Naturwirklichkeit ist, scheint schon im Ansatzpunkt eine wesentliche Übereinstimmung zwischen der Menschenkunde des Nationalsozialismus und der Rudolf Steiners vorzuliegen. Denn Steiner geht ja von den bildenden Kräften der wirkenden Natur aus und gründet die Schulerziehung auf die Entwicklung der natürlichen Kräfte. Insofern könnte man seine Pädagogik »biologisch« fundiert nennen.

Würde man jedoch versuchen, den Begriff der Rasse in unserem Sinne in diese biologische Fundierung einzuführen, dann würde er die Menschenkunde Steiners zersprengen. Denn der Nationalsozialismus geht zwar von der Wirklichkeit des Blutes aus, aber zugleich auch von den Unterschieden, die zwischen Menschengruppen verschiedenen Blutes bestehen ...

Zu diesem von der Erkenntnis der rassischen Wirklichkeit geleiteten geschichtlichen Denken gibt es von der Menschenkunde Steiners her keinen Zugang. Der Platz, den in unserem Weltbilde der von rassischen Kräften bestimmte geschichtlich gestaltende Mensch einnimmt, ist in der Weltanschauung Rudolf Steiners besetzt durch den über aller Geschichte thronenden Geistesmenschen.«

Besser kann man die Unvereinbarkeit zwischen NS-Rassismus und Anthroposophie kaum mehr ausdrücken. Bei Zander wird die radikale Ablehnung der Anthroposophie durch einen prominenten Nationalsozialisten allerdings zu einer geistigen Verwandtschaft umgelogen.

Zander hat in einem privaten Schreiben, das der Redaktion vorliegt, diesen Befund übrigens zugestanden: »Ihre sachlichen Richtigstellungen (Ostara, Baeumler-Gutachten) akzeptiere ich selbstverständlich.« Allerdings hat er diese Richtigstellungen bisher nirgends veröffentlicht. Stattdessen schickte er noch im Jahr 2007 aus Anlass eines Prüfverfahrens zu zwei Bänden der Rudolf-Steiner-Gesamtausgabe, das durch eine Anzeige »besorgter Bürger« zustande gekommen war, der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften unaufgefordert Kopien seines Beitrages zum Sammelband Ullbricht/Schnurbein zu, der in Bezug auf die Einschätzung der Anthroposophie durch Baeumler das Gegenteil der Wahrheit enthält.

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