Zanders Steiner-»Biografie« beginnt mit einer durchtriebenen Insinuation: Steiner habe aus ideologischen Gründen sein Geburtsdatum gefälscht. Im ersten Satz des Buches wird Steiner also von seinem »Biografen« der Lüge bezichtigt.

Auf S. 13 schreibt Zander:

»Halbwahr scheint der Satz, mit dem Rudolf Steiner 1923 in seiner Autobiografie Mein Lebensgang von sich zu erzählen beginnt: ›In Kraljevec bin ich am 27. Februar 1861 geboren.‹ Der Ort stimmt, Steiner hat das Licht der Welt im kroatischen, damals zu Ungarn gehörigen Örtchen Kraljevec erblickt, in einem Zimmer der Bahnstation. Aber noch in einer wohl einige Jahre älteren Lebensskizze hatte Steiner festgehalten: ›Meine Geburt fällt auf den 25. Februar 1861.‹

Einmal, nur dieses eine Mal, wie bei einem Freudschen Versprecher, verlegt Steiner seinen Geburtstag  zwei Tage vor. Die Differenz ist minimal und könnte als Versehen durchgehen, ließe sich dahinter nicht ein Programm lesen. Die Lücke von zwei Tagen ist ein Schlüssel zu Steiners Autobiografie, ja zu seinem ganzen Leben.

Denn der 27. Februar ist Steiners Tauftag. Das wahre Leben, so kann man Steiners Credo lesen, beginnt nicht mit der biologischen Geburt, sondern mit der Taufe, die den Menschen zu einem geistigen Wesen mache. Diese Differenz zwischen, wie er später sagen wir, exoterischer und esoterischer Existenz war die Grundspannung seines Lebens. Er hat dieses Drama, das unter dem Titel ›Materialismus‹ versus ›Idealismus‹ das 19. Jahrhundert in unversöhnliche Weltanschauungslager spalten konnte, in allen Höhen und Tiefen durchlitten. Allerdings war er als Anthroposoph felsenfest davon überzeugt, dass die geistige Welt die Wahrheit sei.«

In diesem ersten Absatz in Zanders Steiner-»Biografie« ist so gut wie nichts wahr.

Der Satz, mit dem Steiner von sich zu erzählen beginnt, lautet nicht, wie von Zander zitiert.

Steiners Autobiografie beginnt mit folgenden Sätzen:

»In die öffentlichen Besprechungen der von mir gepflegten Anthroposophie sind seit einiger Zeit Angaben und Beurteilungen über meinen Lebensgang verflochten worden. Und aus dem, was in dieser Richtung gesagt worden ist, sind Schlüsse gezogen worden über den Ursprung dessen, was man als Wandlungen in meiner geistigen Entwickelung ansieht. Demgegenüber haben Freunde die Ansicht ausgesprochen, dass es gut wäre, wenn ich selbst etwas über meinen Lebensgang schriebe.

Ich muss gestehen, das dies nicht in meinen Neigungen liegt.«

Mit solchen »Schlüssen« hat man es auch in Zanders eröffnendem Absatz zu tun. Genauer gesagt, mit ideologisch bedingten Unterstellungen. Mit für einen Historiker unbegreiflicher Nonchalance interpretiert Zander in die einmalige Erwähnung eines abweichenden Geburtstages eine ganze Lebens- und Ideologiegeschichte hinein, zu der diese Abweichung selbst keinerlei Anlass gibt.

Zander spricht von einem »Freudschen Versprecher«. Aber mit einem solchen hat die Notiz, die er zitiert, nichts zu tun. Vielmehr handelt es sich um eine reale Unsicherheit über den Geburtstag, die tatsächlich bei Steiner bestanden hat. Die Gründe für diese Unsicherheit wurden von Günter Aschoff erforscht und 2009 in der Zeitschrift »Das Goetheanum« dargestellt (09/2009), den Zander sogar eine Seite später (S.14) als Quelle benutzt.

Aschoff schreibt:

»Nun mag auch Rudolf Steiner selbst etwas unsicher geworden sein, weil er von seinen Eltern wusste, dass er eine kirchliche Taufe erhalten hatte – und diese konnte ja nicht am Tag seiner Geburt stattgefunden haben. Deshalb glaubte er wohl eine Zeitlang, seine Geburt müsse am 25. gewesen sein. Klärung gab es wohl spätestens am 3. Oktober 1923, als Steiner zum letzten Mal bei seiner Schwester Leopoldine in Horn war, auch um über seine Geburt zu sprechen und bestimmte Fragen zu klären. In dieser Zeit hatte Rudolf Steiner bereits angefangen, seinen ›Lebensgang‹ aufzuschreiben. Folgender Entwurf für den Anfang seines ›Lebensganges‹, wohl vor Oktober 1923 entstanden, ist auf einem Blatt erhalten geblieben: ›Meine Geburt fällt auf den 25. Februar 1861. Zwei Tage später wurde ich getauft.‹ Daraus kann man entnehmen, dass Rudolf Steiner wusste, dass er zwei Tage nach seiner Geburt getauft worden war. Dieses im Rudolf-Steiner-Archiv aufbewahrte Papier ist die einzige Stellemit dem 25. Februar 1861 aus Steiners Hand. Dieses Papier ist später von Rudolf Steiner nie wieder irgendwo verwertet beziehungsweise veröffentlicht worden, stattdessen erschien am 9. Dezember 1923 im ›Goetheanum‹ Nr. 18 der Anfang seines ›Lebensganges‹ in der ersten Folge. Dort heißt es: ›In Kraljevec bin ich am 27. Februar 1861 geboren» – fast‹ gleichlautend wie im autobiografischen Vortrag vom  4. Februar 1913, wo er sich ... gegen Unwahrheiten zur Wehr setzen musste.

Man kann somit nicht sagen, Rudolf Steiner habe sein wahres Geburtsdatum verschwiegen, zumal ihm in seinem ganzen Leben nichts so wichtig war wie die Wahrhaftigkeit. ... Folglich ist davon auszugehen, dass es der 27. Februar 1861 war, an dem Rudolf Steiner geboren wurde. Auch auf allen übrigen Dokumenten – die der Technischen Hochschule in Wien über die des Weimarer Archivs und die der Berliner Zeit – oder auf den Meldezetteln, die er ausfüllen musste, wenn er seine Eltern in Horn besuchte, steht immer der 27. Februar 1861.«

Über die Geburt selbst schreibt Aschoff:

»Nun nahte die Ankunft des ersten Kindes. Die Geburt zog sich vom 26. bis zum 27. Februar 1861 hin. Man muss annehmen, dass der Vater Johann Baptist seine Frau Franziska damals aufforderte zu ihm in die Bahnstation zu kommen, damit sie bei der Geburt nicht allein zu Hause war. Im Bahnhof Kraljevec gab es ein kleines Schlafzimmer und ein Arbeitszimmer für den Dienst habenden Bahnbeamten sowie einen Wartesaal.

So wurde Rudolf Steiner am 27. Februar, etwa um 23.15 Uhr, auf der Bahnstation Kraljevec geboren. Diese Uhrzeit nannte Rudolf Steiner später, entweder während des Münchner Kongresses 1907 oder während des Budapester Kongresses 1909, dem englischen Astrologen Alan Leo auf dessen Frage.

Alan Leo hatte an beiden Kongressen einen Vortrag über Astrologie gehalten. So ist die Uhrzeit von Rudolf Steiners Geburt bekannt geworden.

Bei der Geburt waren neben der Mutter und dem Vater wohl auch der Stationschef Laurentius Diem und seine Frau Josefa Jakl, die Paten, und eine Hebamme anwesend. Die Hebamme verband das Kind nach der Geburt am Nabel.

Der aus welchen Gründen auch immer schlecht verbundene Nabel führte zu einem großen Blutverlust, sodass die Eltern sich kurzerhand entschlossen, eine Nottaufe durchzuführen.

Die bestand darin, dass ein getaufter Katholik einfach sagte: ›Ich taufe dich im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.‹ Denn es war schon Mitternacht oder kurz nach Mitternacht, und man wollte nicht, dass das Neugeborene vielleicht ungetauft stürbe.

Am nächsten oder übernächsten Tag wurde die kirchliche Taufe in der Kirche von Draskovec nachgeholt. Der amtierende Pfarrer Gabriel Mestritz trug unter dem 27. Februar 1861 die Geburt und die Taufe von ›Adolphus Laurentius Josephus Steiner‹ ins Taufregister ein. Als Wohnort gab er ›Kraljevec 24‹ an.«

Sowohl der Geburtsname als auch der Geburtsort in diesem Taufregister-Eintrag waren falsch, so dass die Eltern etwas später um eine Berichtigung nachsuchten.

Steiner wurde also am 27. Februar geboren und erhielt eine Nottaufe noch in der Nacht seiner Geburt. Zwei Tage später wurde er kirchlich getauft. Da die kirchliche Taufe in der Regel zwei Tage nach der Geburt stattfand, beruhte die Angabe des 25. Februar offenbar auf der Annahme, die Geburt habe zwei Tage vor dem kirchlichen Tauftermin stattgefunden. Diesen Irrtum konnte Steiner bei seinem letzten Besuch bei seiner Schwester Leopoldine, am 3. Oktober 1923 in Horn.

Bei dem, was Zander als Steiners Credo bezeichnet: »Das wahre Leben, so kann man Steiners Credo lesen, beginnt nicht mit der biologischen Geburt, sondern mit der Taufe, die den Menschen zu einem geistigen Wesen mache«, handelt es sich um eine schlichte Projektion des Katholiken Zander. Denn aus Steiners Sicht wird der Mensch nicht etwa erst durch seine Taufe – erst recht nicht seine katholische Taufe – zu einem geistigen Wesen, vielmehr ist er bereits vor seiner Geburt ein geistiges Wesen, dessen Existenz überhaupt erst die biologische Geburt ermöglicht.

Der Forschungsbericht von Aschoff kann hier heruntergeladen werden.

Mit einer bemerkenswerten intellektuellen Pirouette erweckt Zander auf der folgenden Seite den Anschein, dank einem »genauen Blick« in die Quellen so etwas wie die Wahrheit über Steiners Geburtsdatum zutage zu fördern.

Auf S. 14 schreibt er:

»Bei einem genauen Blick auf die Quellen wird die Sache jedoch komplizierter. Vielleicht war er irritiert gewesen, dass die Taufe nicht, wie üblich, zwei Tage nach der Geburt stattgefunden haben sollte. Aber es war eine schwere Geburt gewesen, die sich vom 26. Februar an hingezogen hatte, und die Eltern hatten den kleinen Rudolf am 27. notgetauft ... wie auch immer, man muss Steiners Lebenstableau mit einer Schere im Kopf lesen und die historische von der erinnerten Wahrheit trennen ...

Für weite Teile von Steiners Kindheit und Jugend sind nur seine Aussagen verfügbar. Was wir über diese Zeit nicht durch ihn selbst wissen, wissen wir, von wenigen Splittern abgesehen, überhaupt nicht.«

Wenn man etwas genauer auf Zanders Gedankengang hinblickt, dann zeigt sich, dass er die Wahrheit verschleiert, in dem er sie angeblich enthüllt. Denn die Quelle, die er zitiert (Aschoff), macht deutlich, dass die Geburt tatsächlich am 27., kurz vor Mitternacht stattgefunden hatte. Diese Tatsache stimmt aber auch mit Steiners Aussage in seiner Autobiografie überein. Kein anderes Datum wurde von Steiner veröffentlicht. Das Datum des 25. stammt aus einer unveröffentlichten Notiz, die Zeugnis einer vorübergehenden Unsicherheit ist. Man muss also erst einen Widerspruch postulieren, um daraus eine Halbwahrheit konstruieren zu können, die man Steiner unterstellen und aus der man die weitreichenden Schlüsse ziehen kann, mit denen Zander seine »Biografie« eröffnet.

Entlarvend ist Zanders Bemerkung, man müsse »Steiners Lebenstableau mit einer Schere im Kopf lesen und die historische von der erinnerten Wahrheit trennen«. Liest man sie als Aussage über Zanders Selbstverständnis als »Biograf« und »Historiker«, dann ist sie so zu verstehen, dass Zander offenbar »mit einer Schere im Kopf liest« und aus der »erinnerten« Wahrheit das herauszuschneiden versucht, was ihm als die »historische« Wahrheit erscheint. Bereits der erste Absatz seines Buches macht deutlich, in welche Untiefen des Unhistorischen diese Methode hineinführt. Man darf davon ausgehen, dass sein Buch über Steiners Leben nicht Wahrheit, sondern »Dichtung« enthält – Zandersche Dichtung.

Wie denn will Zander die »historische« Wahrheit über Steiners Kindheit und Jugend herausfinden, wenn er nichts über sie weiß, außer durch Steiner? Steiners Berichte über sie müssen so lange mit der Schere im Kopf bearbeitet werden, bis am Ende das übrig bleibt, was sich in das Weltbild des »Biografen« hineinpressen lässt.

Das Kapitelchen über den »Vater« eröffnet Zander mit einem unsäglich dümmlichen, darum jedoch nicht weniger suggestiven Argument: »Die Statistik ist unbestechlich«. Diesem Satz kann man nur den Churchill zugeschriebenen, wahrscheinlich jedoch von Goebbels erfundenen Satz entgegenhalten: »Ich traue keiner Statistik, die ich nicht selbst gefälscht habe«.

Zander schreibt auf S. 14:

»Die Statistik ist unbestechlich: in den beiden ersten Kapiteln seiner Autobiografie, die Kindheit und Jugend behandeln, kommt Steiner achtmal auf seine Mutter zu sprechen, der Vater dagegen bringt es auf sechsunddreißig Nennungen. Zweifelsohne war Vater Johann die dominierende Gestalt in der familiären Hierarchie ...

Und auf S. 17:

»Fragt man sich, wo die Wurzeln von Rudolf Steiners autoritärem Anspruch auf Wissen und höchste Einsicht liegen ..., kommt man an dem Übervater welcher der Bahnwärter Johann Steiner war, nicht vorbei.«

Aus der Tatsache, dass der Vater in den ersten beiden Kapiteln von Steiners Autobiografie 36 mal, die Mutter jedoch nur 8 mal erwähnt wird, zieht Zander den Schluss, bei diesem Vater habe es sich um einen »autoritären Übervater« gehandelt, der Steiner bis in seine eigenen »autoritären« Geltungsansprüche hinein zutiefst geprägt habe.

Die Häufigkeit der Erwähnung ist tatsächlich das einzige Argument, das Zander für seine weitreichenden Behauptungen anführt. Tatsache ist jedoch auch, dass »der Lehrer« oder »die Lehrer« in diesen ersten beiden Kapiteln 48 mal erwähnt werden, »der Pfarrer« oder »die Pfarrer« immerhin 16 mal. Würde man Zanders Argument folgen, müsste man sagen, dass vor allem die Lehrer das dominierende Element in Steiners Kindheits-Hierarchie waren.

Was den Vater selbst und seine angeblich autoritäre, dominierende Haltung anbetrifft, so sind diese Aussagen Zanders durch rein gar nichts in Steiners Schilderungen abgedeckt. Aus diesen geht vielmehr hervor, dass Steiners Vater über ein natürliches Selbstbewusstsein verfügte, das ihn gegenüber den Autoritäts- und Standespersonen der damaligen Zeit unabhängig handeln ließ. Ja, man kann sogar zu Recht behaupten, Steiners Vater sei antiautoritär eingestellt gewesen.

Das beginnt schon damit, dass er sich aus den Diensten des Grafen Hoyos verabschiedete, weil dieser ihm nicht erlauben wollte, zu heiraten. Statt sich der Autorität des Grafen zu unterwerfen, suchte er sich lieber ein anderes Auskommen, um seiner persönlichen Lebensentscheidung folgen zu können.

Auch sein Verhalten anderen Autoritätspersonen gegenüber zeigt diesen antiautoritären Zug. So kündigte er dem Dorfschullehrer »mit der größten Deutlichkeit die Freundschaft«, nachdem dieser seinen Sohn zu Unrecht eines Lausbubenstreichs bezichtigt hatte, und sagte zu diesem: »Mein Bub darf keinen Schritt mehr in ihre Schule machen« (GA 28, S. 11-12). Für einen Bahnbeamten im Österreich-Ungarn der 1880er Jahre nicht gerade eine autoritätshörige Verhaltensweise. Der Vater unterrichtete den Sohn daraufhin selbst.

Auch was Steiner über diesen Unterricht sagt, rechtfertigt nicht, seinem Vater autoritäre Züge anzudichten. Steiner interessierte sich beim Schreibunterricht, wie er erzählt, weniger für das Schreiben selbst, als für die physikalische Beschaffenheit der Feder und die wundersamen Wirkungen des Streusandes auf die feuchte Tinte. Steiner schreibt: »Meine Schriftproben nahmen dadurch eine Gestalt an, die meinem Vater gar nicht gefiel. Er war aber gutmütig und strafte mich nur damit, dass er mich oft einen unverbesserlichen ›Patzer‹ nannte« [Wahrscheinlich sagte der Vater: »ein Patzerl«, was noch weitaus liebevoller klingt] (GA 28, S. 12).

Auch die Charakterisierungen des Vaters durch Steiner deuten nirgends darauf hin, dass es sich bei diesem um einen »autoritären Übervater« gehandelt haben könnte.

»Mein Vater war ein durch und durch wohlwollender Mann, aber mit einem Temperament, das namentlich, als er jung war, leidenschaftlich aufbrausen konnte« (GA 28, S. 8). Dieses Temperament brauste nicht etwa gegen seinen Sohn auf, sondern – wie bereits bemerkt – gegen Autoritätspersonen, oder wenn es um politische Fragen ging.

Bereits zitiert wurde der Satz: »Er war aber gutmütig ...« (GA 28, S. 12).

Über seinen Ministrantendienst in Neudörfl schreibt Steiner:

»In meinem Elternhause fand ich in dieser meiner Beziehung zur Kirche keine Anregung. Mein Vater nahm daran keinen Anteil. Er was damals ein ›Freigeist‹. Er ging nie in die Kirche, mit der ich so verwachsen war ...« (GA 28, S. 22).

Obwohl der Vater »Freigeist«, also auch der Kirche gegenüber antiautoritär eingestellt war, war er so tolerant, dass er in die Beziehung seines Sohnes zur Kirche nicht eingriff oder etwa versucht hätte, diese zu unterbinden.

Über das »Politisieren« seines Vaters schreibt Steiner:

»Alles das aber spielte sich immer zwar im Zeichen der Heftigkeit, ja Leidenschaftlichkeit ab, aber auch der Gutmütigkeit, die ein Grundzug im Wesen meines Vaters war« (GA 28, S. 23).

Und etwas später, noch einmal über das Politisieren:

»Diese Denkweise wurde außerordentlich leidenschaftlich, aber in der zugleich außerordentlich liebenswürdigen Art meines Vaters gegenüber dem ›Türkenfreund‹ in der Person seines ›Ablösers‹ vertreten« (GA 28, S. 38).

Aus Steiners Schilderungen treten also vor allem zwei Eigenschaften des Vaters hervor: seine »Gutmütigkeit« oder »Liebenswürdigkeit« und seine »freigeistige, antiautoritäre« Einstellung. Es zeugt schon von besonderer Chuzpe, wenn Zander aus diesen Schilderungen einen autoritären Übervater konstruiert.

Das tönerne Gebäude der Zanderschen Lügen fällt in sich zusammen. Denn ebensowenig wie es einen autoritären Übervater Johann Steiner gegeben hat, gibt es auch die »autoritären« Ansprüche auf »höchste Einsicht« beim späteren Rudolf Steiner, die aus der kindlichen Prägung durch jenen abgeleitet werden könnten. Im Gegenteil darf man sagen, dass der spätere Rudolf Steiner den beiden vorherrschenden Charaktereigenschaften seines Vaters: Gutmütigkeit und Freiheitsliebe zeit seines Lebens treu geblieben ist, nicht nur als Verfasser einer »Philosophie der Freiheit«, sondern auch als Christologe, der die Essenz des menschlichen Daseins und der kosmischen Evolution in der Liebe sah, die aus der Freiheit entspringt.

Auch das Kapitelchen »Technik« wartet mit Unterstellungen auf. Zander behauptet, Steiner sei in seiner Kindheit an der Bahnstation der »Faszination« der Technik erlegen.

Auf S. 18 schreibt Zander:

»An ihrer kleinen Station in Pottschach verfiel der junge Steiner der Faszination der Technik ... In einer sehr persönlichen Impression hat der zweiundsechzigjährige Steiner diese Verzauberung seines Lebens durch Technik offengelegt:

›Ich glaube, dass es für mein Leben bedeutsam war, in einer solchen Umgebung die Kindheit verlebt zu haben. Denn meine Interessen wurden stark in das Mechanische dieses Daseins hineingezogen. Und ich weiß, wie diese Interessen den Herzensanteil in der kindlichen Seele immer wieder verdunkeln wollten, der nach der anmutigen und zugleich großzügigen Natur hin ging, in die hinein in der Ferne diese dem Mechanismus unterworfenen Eisenbahnzüge doch jedes Mal verschwanden.‹

Der Kampf zwischen Technik und Natur, von dem Steiner hier berichtet, dürfte in den Kinderjahren zugunsten der ›Mechanik‹ ausgegangen sein.

Diese Behauptungen (»verfiel der junge Steiner«) und Vermutungen (»dürfte ... ausgegangen sein«) sind durch das Zitat und auch sonst nichts abgedeckt.

Außerdem widerspricht Zander sich selbst: erst spricht er von einer feststehenden Tatsache (»verfiel«), kurz darauf von einer bloßen Möglichkeit (»dürfte«).

Im Gegensatz zu Zander spricht Steiner nicht davon, dass er »der Faszination der Technik verfallen« sei, sondern dass seine »Interessen stark in das Mechanische dieses Daseins hineingezogen« worden seien. Diese Interessen hätten den »Herzensanteil in der kindlichen Seele immer wieder verdunkeln« wollen, der sich der anmutigen Natur zuwandte (GA 28, S. 9). Davon, dass es dem Interesse für das Mechanische tatsächlich gelungen sei, den Herzensanteil des Naturinteresses zu verdunkeln, ist nirgends die Rede, von einem Verfallen an die Technik erst recht nicht.

Das Herz des Knaben wurde also vom Mechanismus nicht ergriffen, sein Verstand erlag nicht dessen »Faszination«. Steiner schildert andere Erlebnisse aus seiner »Knabenzeit«, die weitaus stärkere Eindrücke in ihm hinterließen: so seine Begegnung mit der Geometrie (GA 28, S. 17 f., dazu weiter unten mehr), die Begegnung mit Musik und der Zeichenkunst (GA 28, S. 18), der »tiefgehende Eindruck der ungarischen Zigeunermusik« (GA 28, S. 19), das Bild eines Pfarrers, eines »energischen ungarischen Patrioten«, das sich tief in seine Seele einprägte, und das sein ganzes Leben hindurch immer wieder in seiner Erinnerung auftauchte (GA 28, S. 20), der »besonders starke Eindruck«, den ein anderer Pfarrer auf ihn machte, der ihm das kopernikanische Weltsystem erklärte (GA 28, S. 21), besonders aber die »tiefgehenden Erlebnisse« am lateinischen Kultus. Steiner schreibt darüber:

»Das Feierliche der lateinischen Sprache und des Kultus war ein Element, in dem meine Knabenseele gerne lebte. Ich war dadurch, dass ich an diesem Kirchendienste bis zu meinem zehnten Jahre intensiv teilnahm, oft in der Umgebung des von mir so geschätzten Pfarrers ...

Mir steht von meiner Neudörfler Knabenzeit stark dieses vor der Seele, wie die Anschauung des Kultus in Verbindung mit der musikalischen Opferfeierlichkeit vor dem Geiste in stark suggestiver Art die Rätselfragen des Daseins aufsteigen lässt. Der Bibel- und Katechismus-Unterricht, den der Pfarrer erteilte, war weit weniger wirksam innerhalb meiner Seelenwelt als das, was er als Ausübender des Kultus tat in Vermittelung zwischen der sinnlichen und der übersinnlichen Welt. Von Anfang an war mir das alles nicht eine bloße Form, sondern tiefgehendes Erlebnis. Das war um so mehr der Fall, als ich damit im Elternhause ein Fremdling war. Mein Gemüt verließ das Leben, das ich mit dem Kultus aufgenommen hatte, auch nicht bei dem, was ich in meiner häuslichen Umgebung erlebte (GA 28, S. 21-22).

Mit einer Reihe weiterer Entstellungen wartet das Kapitelchen »Schule« auf. Zunächst behauptet Zander hier, Steiner erzähle aus seiner Zeit in der Realschule, die er ab 1872 besuchte, viel von Mathematik und Physik, aber kaum etwas vom Geschichts- und Deutschunterricht.

Auf S. 19 schreibt Zander:

»Rudolf, das kluge Köpfchen, wurde ein sehr guter Schüler. Das Zentrum seiner Lernwelt blieben, schon durch die Ausrichtung der Realschule, die ›exakten‹ Fächer. Steiner erzählt viel von Mathematik und Physik, aber kaum etwas vom Geschichts- und Deutschunterricht. Und insbesondere wenn seine Tonlage emotional wird, spürt man, wo sein Herz schlug: ›Ich weiss, dass ich an der Geometrie das Glück zuerst kennengelernt habe.‹

Allerdings, so erinnerte sich Steiner 1913 – nun schon Anthroposoph –, habe er bereits als Dreizehn- oder Vierzehnjähriger nach Wegen aus dem stahlharten Gehäuse des technischen Wissens gesucht.«

Richtet man sich nach der Statistik, die Zander ja so liebt, dann stellt man fest: Steiner berichtet im 2. Kapitel seiner Autobiografie auf knapp 1 ½ Seiten über Mathematik- und Physikunterricht, auf 4 Seiten aber über den Deutsch- und Geschichtsunterricht.

»Die Statistik ist unbestechlich.« Zander hat diese 5 Seiten zuvor lauthals verkündete Wahrheit schon wieder vergessen.

Wie kann man also behaupten, das Zentrum von Steiners Lernwelt seien die »exakten« Fächer geblieben? Steiner schildert vielmehr, wie die Auseinandersetzung mit den Natur- und Geisteswissenschaften nunmehr ins Zentrum seines Interesses rückte. Die letzteren – also Deutsch und Geschichte (bei der Mathematik handelt es sich in Wahrheit ebenfalls um eine Geisteswissenschaft) – trotz der »Ausrichtung der Realschule« auf die Realien, also Naturwissenschaften und neue Sprachen.

Für einen Historiker hat Zander einen reichlich bequemen Weg gewählt und stützt sich weitgehend auf die Angaben aus Steiners Autobiografie, auch wenn er diese konsequent willkürlich umdeutet, verzerrt und ohne allen Sinn und Verstand zu lesen scheint. Die Konsultation weiterer Quellen hätte gerade bei Steiners Ausführungen über seine Schulzeit durchaus hilfreich sein können, um das Bild abzurunden. So berichtete Steiner in einem Vortrag 1918 über die Lehrer für moderne Sprachen:

»Wir hatten zwei Karmeliter, von denen der eine uns Französisch, der andere Englisch beibringen sollte. Der für Englisch besonders konnte vor allen Dingen kaum ein englisches Wort, nun, jedenfalls nicht einen Satz sprechen« (GA 185, 1.11.1918).

Über den Lehrer für Naturgeschichte:

»In der Naturgeschichte hatten wir einen Mann, der verstand wirklich von Gott und der Welt gar nichts« (GA 185, 1.11.1918).

Dagegen:

»Aber wir hatten ausgezeichnete Lehrer auf dem Gebiete der Mathematik, Physik, Chemie, vor allen Dingen auf dem Gebiete der darstellenden Geometrie« (GA 185, 1.11.1918).

Zur Unterhaltung der Leser folgen hier die von Zander unterschlagenen Passagen aus Steiners Autobiografie zum Deutsch- und Geschichtsunterricht.

»Die Geschichte wurde uns so beigebracht, dass der Lehrer [Franz Kofler] scheinbar vortrug, aber in Wirklichkeit aus einem Buche vorlas. Wir hatten dann von Stunde zu Stunde das in dieser Art an uns Herangebrachte aus unserem Buche zu lernen. Ich dachte mir, das Lesen des im Buche Stehenden muss ich ja doch zu Hause besorgen. Von dem ›Vortrag‹ des Lehrers hatte ich gar nichts. Ich konnte durch das Anhören dessen, was er las, nicht das geringste aufnehmen. Ich trennte nun die einzelnen Bogen des Kantbüchleins auseinander, heftete sie in das Geschichtsbuch ein, das ich in der Unterrichtsstunde vor mir liegen hatte, und las nun Kant, während vom Katheder herunter die Geschichte ›gelehrt‹ wurde. Das war natürlich gegenüber der Schuldisziplin ein großes Unrecht; aber es störte niemand und es beeinträchtigte so wenig, was von mir verlangt wurde, dass ich damals in der Geschichte die Note ›vorzüglich‹ bekam« (GA 28, S 30)

Was Steiner in der Schule nicht erhielt, suchte er sich anderswo:

»Als ich etwa fünfzehn Jahre alt war, durfte ich zu dem schon erwähnten Arzte [Dr. Carl Hickel] in Wiener-Neustadt in ein näheres Verhältnis treten. Ich hatte ihn durch die Art, wie er bei seinen Neudörfler Besuchen mit mir sprach, sehr lieb gewonnen. So schlich ich denn öfter an seiner Wohnung, die in einem Erdgeschoße an der Ecke zweier ganz schmaler Gässchen in Wiener-Neustadt lag, vorbei. Einmal war er am Fenster. Er rief mich in sein Zimmer. Da stand ich vor einer für meine damaligen Begriffe ›großen‹ Bibliothek. Er sprach wieder von Literatur, nahm dann Lessings ›Minna von Barnhelm‹ aus der Büchersammlung und sagte, das solle ich lesen und dann wieder zu ihm kommen. So gab er mir immer wieder Bücher zum Lesen und erlaubte mir, von Zeit zu Zeit zu ihm zu gehen. Ich musste ihm dann jedes Mal, wenn ich ihn besuchen durfte, von meinen Eindrücken aus dem Gelesenen erzählen. Er wurde dadurch eigentlich mein Lehrer in dichterischer Literatur. Denn diese war mir bis dahin sowohl im Elternhause wie in der Schule, außer einigen ›Proben‹, ziemlich ferne geblieben. Ich lernte in der Atmosphäre des liebevollen, für alles Schöne begeisterten Arztes besonders Lessing kennen« (GA 28, S. 32).

Oder durch selbstständige Lektüre:

»In einem Antiquariat in Wiener-Neustadt entdeckte ich eines Tages in jener Zeit die Weltgeschichte von Rotteck. Geschichte war meiner Seele vorher, trotzdem ich in der Schule die besten Noten bekam, etwas Äußerliches geblieben. Jetzt wurde sie mir etwas Innerliches. Die Wärme, mit der Rotteck die geschichtlichen Ereignisse ergriff und schilderte, riss mich hin. Seinen einseitigen Sinn in der Auffassung bemerkte ich noch nicht. Durch ihn wurde ich dann weiter zu zwei andern Geschichtsschreibern gebracht, die durch ihren Stil und durch ihre geschichtliche Lebensauffassung den tiefsten Eindruck auf mich machten: Johannes von Müller und Tacitus. Es wurde unter solchen Eindrücken für mich recht schwer, mich in den Schulunterricht aus Geschichte und Literatur hineinzufinden. Aber ich versuchte, mir diesen Unterricht durch alles das zu beleben, was ich außerhalb desselben mir angeeignet hatte. In einer solchen Art verbrachte ich die Zeit in den drei obern der sieben Realschulklassen« (GA 28, S. 32).

Ab seinem 15. Lebensjahr gab Steiner Nachhilfe-Unterricht. Das hatte auch Folgen für seine schulischen Leistungen:

»Den Mitschülern des gleichen Jahrganges, die ich unterrichtete, musste ich vor allem die deutschen Aufsätze machen. Da ich jeden solchen Aufsatz auch noch für mich selbst zu schreiben hatte, musste ich für jedes Thema, das uns gegeben wurde, verschiedene Formen der Ausarbeitung finden. Ich fühlte mich da oft in einer recht schwierigen Lage. Meinen eigenen Aufsatz machte ich erst, nachdem ich die besten Gedanken für das Thema weggegeben hatte« (GA 28, S. 34).

Zu einem Deutschlehrer entwickelte Steiner eine besondere Beziehung:

»Mit dem Lehrer der deutschen Sprache und Literatur [Dr. Joseph Mayer] in den drei oberen Klassen stand ich in einem ziemlich gespannten Verhältnis. Er galt unter meinen Mitschülern als der ›gescheiteste Professor‹ und als besonders strenge. Meine Aufsätze waren immer besonders lange geworden. Die kürzere Fassung hatte ich ja an meinen Mitschüler diktiert. Der Lehrer brauchte lange, um meine Aufsätze zu lesen. Als er nach der Abgangsprüfung beim Abschiedsfeste zum ersten Mal mit uns Schülern ›gemütlich‹ zusammen war, sagte er mir, wie ärgerlich ich ihm durch die langen Aufsätze geworden war.

Dazu kam noch ein anderes. Ich fühlte, dass durch diesen Lehrer etwas in die Schule hereinragte, mit dem ich fertig werden musste. Wenn er zum Beispiel über das Wesen der poetischen Bilder sprach, da empfand ich, dass etwas im Hintergrunde stand. Nach einiger Zeit kam ich darauf, was es war. Er bekannte sich zur Herbartschen Philosophie. Er selbst sagte davon nichts. Aber ich kam dahinter. Und so kaufte ich mir denn eine ›Einleitung in die Philosophie‹ und eine ›Psychologie‹, die beide vom Herbart’schen philosophischen Gesichtspunkte aus geschrieben waren.

Und jetzt begann eine Art Versteckspiel zwischen diesem Lehrer und mir durch die Aufsätze. Ich fing an, manches bei ihm zu verstehen, was er in der Färbung der Herbart’schen Philosophie vorbrachte; und er fand in meinen Aufsätzen allerlei Ideen, die auch aus dieser Ecke kamen. Es wurde nur weder von ihm, noch von mir der Herbart’sche Ursprung genannt. Das war wie durch ein stilles Übereinkommen. Aber einmal schloss ich einen Aufsatz in einer gegenüber dieser Lage unvorsichtigen Art. Ich hatte über irgendeine Charaktereigenschaft bei den Menschen zu schreiben. Zum Schluss brachte ich den Satz: ›ein solcher Mensch hat psychologische Freiheit.‹ Der Lehrer besprach mit uns Schülern die Aufsätze, nachdem er sie korrigiert hatte. Als er an die Besprechung des genannten Aufsatzes kam, verzog er mit gründlicher Ironie die Mundwinkel und sagte: ›Sie schreiben da etwas von psychologischer Freiheit; die gibt es ja gar nicht.‹ Ich erwiderte: ›Ich meine, das ist ein Irrtum, Herr Professor, die ‚psychologische Freiheit’ gibt es schon; es gibt nur keine ‚transzendentale Freiheit’ im gewöhnlichen Bewusstsein.‹ Die Mundfalten des Lehrers wurden wieder glatt; er sah mich mit einem durchdringenden Blicke an und sagte dann: ›Ich bemerke schon lange an Ihren Aufsätzen, dass Sie eine philosophische Bibliothek haben. Ich möchte Ihnen raten, darin nicht zu lesen; Sie verwirren sich dadurch nur Ihre Gedanken.‹ Ich konnte nun durchaus nicht begreifen, warum ich meine Gedanken durch Lesen derselben Bücher verwirren sollte, aus denen er die seinigen hatte. Und so blieb denn das Verhältnis zwischen ihm und mir weiter ein gespanntes.

Sein Unterricht gab mir viel zu tun. Denn er umfasste in der fünften Klasse die griechische und lateinische Dichtung, von der Proben in deutscher Übersetzung vorgebracht wurden. Erst jetzt begann ich zuweilen schmerzlich zu empfinden, dass mich mein Vater nicht in das Gymnasium, sondern in die Realschule geschickt hatte. Denn ich fühlte, wie wenig ich von der Eigenart der griechischen und lateinischen Kunst durch die Übersetzungen berührt wurde. Und so kaufte ich mir griechische und lateinische Lehrbücher und trieb ganz im stillen neben dem Realschulunterricht einen privaten Gymnasialunterricht. Das beanspruchte viel Zeit; aber es legte auch den Grund dazu, dass ich doch noch später, zwar abnorm, aber ganz regelrecht das Gymnasium absolvierte. Ich musste nämlich, als ich an der Hochschule in Wien war, erst recht viele Nachhilfestunden geben. Ich bekam bald einen Gymnasiasten zum Schüler. Die Umstände, von denen ich noch sprechen werde, bewirkten, dass ich diesen Schüler fast durch das ganze Gymnasium hindurch mit Hilfe von Privatstunden zu führen hatte. Ich unterrichtete ihn auch im Lateinischen und Griechischen, so dass ich an seinem Unterricht alle Einzelheiten des Gymnasialunterrichtes mitzuerleben hatte.

Die Lehrer aus der Geschichte und Geographie, die mir in den unteren Klassen so wenig geben konnten, wurden nun in den oberen Klassen doch noch von Bedeutung für mich. Gerade derjenige, der mich zu einer so sonderbaren Kantlektüre getrieben hatte, schrieb einmal einen Schulprogrammaufsatz über die ›Eiszeit und ihre Ursachen‹. Ich nahm den Inhalt mit großer seelischer Begierde auf und behielt davon ein reges Interesse für das Eiszeitproblem. Aber dieser Lehrer war auch ein guter Schüler des ausgezeichneten Geographen Friedrich Simony. Das brachte ihn dazu, in den oberen Klassen, zeichnend an der Schultafel, die geologisch-geographischen Verhältnisse der Alpen zu entwickeln. Da las ich nun allerdings nicht Kant, sondern war ganz Auge und Ohr. Ich bekam von dieser Seite her viel von dem Lehrer, dessen Geschichtsunterricht mich gar nicht interessierte.

In der letzten Realschulklasse bekam ich erst einen Lehrer, der mich auch durch seinen Geschichtsunterricht fesselte [Albert Löger]. Er unterrichtete Geschichte und Geographie. In dieser wurde die Alpengeographie in der reizvollen Art fortgesetzt, die schon bei dem andern Lehrer vorhanden war. In der Geschichte wirkte der neue Lehrer stark auf uns Schüler. Er war für uns eine Persönlichkeit aus dem Vollen heraus. Er war Parteimann, ganz begeistert für die fortschrittlichen Ideen der damaligen österreichischen liberalen Richtung. Aber in der Schule bemerkte man davon gar nichts. Er trug von seinen Parteiansichten nichts in die Schule hinein. Aber sein Geschichtsunterricht hatte durch seinen Anteil am Leben selbst starkes Leben. Ich hörte mit den Ergebnissen meiner Rotteck-Lektüre in der Seele die temperamentvollen geschichtlichen Auseinandersetzungen dieses Lehrers. Es gab einen schönen Einklang. Ich muss es als wichtig für mich ansehen, dass ich gerade die neuzeitliche Geschichte auf diese Art in mich aufnehmen konnte« (GA 28, S. 34-37).