Massive Fälschungen und Umdeutungen durchziehen auch Zanders Kapitel »Kriegszeit«. Hier steigert sich seine Unterstellung, Steiner sei Nationalist gewesen, sogar noch zur unsinnigen Behauptung, er sei ein Kriegsverherrlicher, ein Bellizist gewesen. Vorab jedoch wirft er ihm vor, er habe den Krieg nicht vorausgesehen.

Auf S. 331 schreibt Zander:

»Warum hatte er, der große Hellseher, diesen nicht vorhergesehen? ... Am 13. September 1914 gestand er offen, dass der Krieg für ihn ›überraschend ... hereingebrochen‹ sei, und erst langsam begann er, das Gegenteil zu behaupten. ›Dass diese Ereignisse kommen mussten, konnte man seit Jahren voraussehen‹ – aber da schrieb man schon den 30. September.«

Wie stets, wenn Zander von irgendwelchen »Geständnissen« Steiners spricht, kann man grundsätzlich davon ausgehen, dass es sich um eine Erfindung Zanders handelt. So auch in diesem Fall. Man vergleiche die beiden Vorträge, auf die Zander sich bezieht, im Original.

In seinem Vortrag vom 13. September 1914 sagte Steiner das Gegenteil von dem, was Zander behauptet: er sagte nicht, dass der Krieg für ihn überraschend hereingebrochen sei, sondern dass er über die Menschheit »scheinbar« überraschend hereingebrochen sei. Von sich selbst dagegen sagte er, er habe ihn lange vorausgesehen.

»Lange voraussehen konnte man dasjenige, was jetzt scheinbar so überraschend hereingebrochen ist über die, man muss ja wohl sagen, Erdenmenschheit. So überraschend ist es hereingebrochen, weil mitgewirkt haben bei diesem Ereignis auch, man darf schon sagen, okkulte Ursachen, die sich eigentlich erst seit dem 28. Juni allmählich nach und nach gezeigt haben.« (GA 174a, Dornach 1982, S. 12.)

Während das erste Zitat durch Auslassung schlicht gefälscht ist, wird auch das zweite nicht richtig wiedergegeben. Außerdem steht es in einem völlig anderen Kontext. Steiner führte am 30 September 1916 aus:

»Auch für den Okkultisten gab es Überraschungen in der letzten Zeit; und ich darf sagen, während meines Kursus in Norrköping konnte oder musste ich ein Wort sprechen, das auf solcher Überraschung beruht hat. Es ist wahr: Dass diese Ereignisse eintreten mussten, konnte man seit Jahren voraussehen, auch dass sie schicksalsgemäß in diesem Jahre kommen mussten. Aber Anfang Juli war nicht mehr zu sagen, als dass wir uns zum Münchner Zyklus versammeln würden, und dann, wenn wir auseinandergehen würden – so konnte man erwarten –, dann würden wir bedeutungsvollen Ereignissen gegenüberstehen. Da kam das Attentat von Sarajewo.

Wenn ich oft betont habe, wie anders die Dinge sind hier auf dem physischen Plane als auf dem geistigen Plane, wie oft das Gegenbild sich zeigt, so war es doch auch zu meiner Überraschung, als ich vergleichen konnte die Individualität, die durch dieses Attentat gegangen ist, vor und nach dem Tode. Etwas Eigenartiges ist da geschehen: Diese Persönlichkeit ist zu einer kosmischen Kraft geworden.

Ich erwähne dies, um darauf aufmerksam zu machen, wie die Dinge auf dem physischen Plan Symbolum für Geistiges sind, und wie, genau genommen, alle Ereignisse des physischen Planes erst erklärt werden, wenn man hindurchsieht nach dem geistigen Plane. Einige von Ihnen wissen von meinem früheren Ausspruch. Ich sagte: Das Schreckliche schwebte in der astralischen Welt, es konnte sich nur nicht niedersenken auf den physischen Plan, weil astralische Kräfte auf dem physischen Plan versammelt waren, Furchtkräfte, die ihm hindernd entgegenwirkten. –

Es war am 20. Juli, als ich wusste, dass die Furchtkräfte nun Kräfte des Mutes, der Kühnheit wurden. Eine unbeschreiblich großartige Tatsache: Die Kräfte der Furcht wurden zu Kräften des Mutes. Da war es nicht mehr unerklärlich, was auf dem physischen Plan als ein so einzigartiges Phänomen sich abspielte: jener Enthusiasmus. Das ist eine Tatsache, die mir einzigartig war, und soviel mir bekannt ist, auch keinem Okkultisten vorher bekannt war.

Nun, Sie alle sind ja Zeugen gewesen, wie dieser Enthusiasmus in einigen Tagen die Menschen ergriffen hat, die vorher wahrhaft friedliebende Menschen waren, wie eine Welle von Mut sich über sie ergoss.

Es kamen bald die Zeiten, wo man mit Betrübnis hörte, welche ungeheuren Opfer dieser Krieg fordert. Und als ich in den ersten Tagen des September in Berlin war, zog tiefer Schmerz in meine Seele, als ich gewahr wurde, welche Blüten deutscher Seelen hingeopfert werden mussten auf dem Feld. Ich musste dem Schmerze nachhängen, und der erzeugt – nicht aus eigenem Verdienst – okkulte Forschung. In Schmerzen wird der Seele okkulte Erkenntnis geschenkt. Die bange Frage stand vor meiner Seele: Wenn insbesondere die Blüte der Führer der einzelnen Korpsmassen dahingerafft wird, was wird dann?

Und da konnte man sehen, wie die Gefallenen es waren, die nach dem Tode auf dem Schlachtfelde denen halfen, die nach ihnen zu kämpfen hatten. Das ergab die hellseherische Forschung. Wenn die Toten den Lebenden helfen, dann ist das inmitten des Schmerzes ein Trost. Meine lieben Freunde, hineingreifen muss das, was Geisteswissenschaft ist, in das Leben in den Momenten, wo jeder Trost unmöglich erscheint, wo die rechte Seelenstimmung nicht gefunden werden kann. Auch da vermag geistige Erkenntnis die rechte Seelenstimmung zu geben, sie kann auch da noch Trost gewähren. Ich weiß, es wird Seelen geben aus unserer Gemeinschaft, die Mut schöpfen werden aus solcher Erkenntnis inmitten der traurigen Ereignisse.« (GA 174b, 30. September 1914)

Steiner hat 1918 verschiedentlich darauf hingewiesen, dass eine Äußerung von ihm in einem Vortrag Anfang 1914 als eine verhüllte Prophetie auf den bevorstehenden Krieg hätte gedeutet werden können. Am 17. Februar 1918 führte er in München aus:

»Und noch im Frühling 1914 im Vortragszyklus zu Wien über das Leben zwischen Tod und neuer Geburt habe ich einen eindringlichen Satz gewagt, den Satz, dass das soziale Leben unserer Zeit in einem wahrhaftigen Sinne verglichen werden kann mit einer besonderen Krankheitsform, mit einem Karzinom, dass eine schleichende Krebskrankheit durch das soziale Leben geht. – Natürlich, diese Dinge können unter unseren gegenwärtigen Verhältnissen nicht anders als so gesagt werden, aber sie müssen verstanden werden.« (GA 174a, München, 17. Februar 1918, Dornach 1982, S. 230)

Etwas ausführlicher am 22. September 1918 in Dornach, in dem er aus jenem Wiener Vortragszyklus wörtlich zitiert:

»Es ist die wichtigste der gegenwärtigen sogenannten Kriegsursachen in diesem Satze enthalten; aber sie ist aus dem geistigen Leben abzuleiten.

›Es entsteht dadurch, dass diese Art von Produktion im sozialen Leben eintritt, im sozialen Zusammenhang der Menschen auf der Erde genau dasselbe, was im Organismus entsteht, wenn so ein Karzinom entsteht. Ganz genau dasselbe, eine Krebsbildung, eine Karzinombildung, Kulturkrebs, Kulturkarzinom! So eine Krebsbildung schaut derjenige, der das soziale Leben geistig durchblickt; er schaut, wie überall furchtbare Anlagen zu sozialen Geschwürbildungen aufsprossen. Das ist die große Kultursorge, die auftritt für den, der das Dasein durchschaut. Das ist das Furchtbare, was so bedrückend wirkt, und was selbst dann, wenn man sonst allen Enthusiasmus für Geisteswissenschaft unterdrücken könnte, wenn man unterdrücken könnte das, was den Mund öffnen kann für die Geisteswissenschaft, einen dahin bringt, das Heilmittel der Welt gleichsam entgegenzuschreien für das, was so stark schon im Anzug ist und was immer stärker und stärker werden wird. Was auf seinem Felde in dem Verbreiten geistiger Wahrheiten in einer Sphäre sein muss, die wie die Natur schafft, das wird zur Krebsbildung, wenn es in der geschilderten Weise in die Kultur eintritt ...‹

Dass in der heutigen Gesellschaftsordnung eine Summe von Krebsgeschwüren waltet, das wurde dazumal ausgesprochen – die Vorträge sind datiert vom 9. bis 14. April 1914 –, aber nur ausgesprochen als zusammenfassend dasjenige, was im Grunde genommen unsere ganze anthroposophische Entwickelung hindurch von mir in den verschiedensten Formen gesagt wurde, um die Menschheit auf den Zeitpunkt vorzubereiten, wo das soziale Krebsgeschwür seine besondere Krisis erreichen würde, 1914!« (GA 184, 22. September 1918, Dornach 1983, S. 186-187.)

»Deutscher Nationalismus« strömt angeblich bereits im September 1914 »durch alle Poren der Anthroposophie«. Um diese haltlose Unterstellung zu belegen, greift Zander erneut zu einer massiven Fälschung.

Auf S. 332 schreibt Zander:

»Doch Steiners auf Frieden und Aussöhnung bedachter Internationalismus und sein Ideal der Brüderlichkeit hielten nicht lange vor. Im September schon drückt sich ein deutscher Nationalismus durch alle Poren der Anthroposophie. Steiner schwenkt auf Pathosformeln um: Der Krieg sei, wie er Mitte September meint, nun doch ein ›ganz außerordentliche Zeit‹ mit ›großen Ereignissen‹.«

Man vergegenwärtige sich die Umstände des in Dornach am 13. September gehaltenen Vortrags!

Angehörige Dutzender inzwischen im Feld einander gegenüberstehender Nationen waren hier versammelt, die am Goetheanumbau zusammenarbeiteten. Viele der Anwesenden hatten Verwandte und Freunde, die ihren Einberufungsbefehlen gefolgt waren und sich nun als Gegner gegenüberstanden, so widersinnig ihnen dies bei ihrem »auf Frieden und Aussöhnung bedachten Internationalismus und ihrem Ideal der Brüderlichkeit« auch erscheinen musste. Aber sie konnten sich ihrem Karma und ihrer staatsbürgerlichen Pflicht nicht entziehen.

Zu Beginn seines Vortrages lenkte Steiner den Blick auf diese Angehörigen, die entgegen ihrem tieferen Wollen, »ihr Blut zum Opfer bringen mussten«, aber auch auf alle anderen, die in diese schrecklichen Ereignisse hineingezogen worden waren und bat für sie alle den Beistand der allumfassenden, versöhnenden und tröstenden Liebe des Christus herab, den Beistand des »alleinenden Erdengeistes«, des Christus, »der die Seelen in unserer Zeit aufrufen muss, um in Disharmonie die Harmonie zu suchen«.

Er forderte die Anwesenden auf, sich aus Achtung vor den von der Tragik der Weltereignisse fortgerissenen Menschen von ihren Sitzen zu erheben. Zu den Zuhörern, zu allen, sprach er die folgenden Worte:

»Vor allem aber wollen wir in diesem Augenblick gedenken derer, die draußen stehen, ihren Mut, ihr Leben, ihr Blut zum Opfer bringen für die Aufgaben, die diese ganz außerordentliche Zeit an den Menschen stellt.

Unsere liebenden, um Hilfe bittenden Gedanken wollen wir richten an diejenigen in erster Linie, die mit uns oftmals zusammengesessen haben in unseren gemeinsamen Betrachtungen und die jetzt draußen stehen und in unmittelbarer Weise teilzunehmen haben an den großen Ereignissen, die jetzt da sind, Völker- und Menschenkarma zur Entwickelung bringend. An diese zunächst, die mit uns verbunden sind, und dann im weiteren Sinn an all die anderen.

Dann wollen wir Ausblick hegen in einer gewissen Weise auf die engeren Bande und die weitesten Bande, die wir auch sonst auf dem Felde unserer geistigen Strömung suchen und die sich knüpfen von jeder Seele zu jeder Seele, die da aufgerufen ist von den großen Ereignissen.

So richten wir unsere liebenden, bittenden Gedanken auch auf die, die draußen im Felde stehen und zum Zeichen, dass wir mit ihnen verbunden sind, wollen wir uns von unseren Sitzen erheben und ihrer in folgenden Worten gedenken:

Geister Eurer Seelen, wirkende Wächter,
Eure Schwingen mögen bringen
Unserer Seelen bittende Liebe
Eurer Hut vertrauten Erdenmenschen,
Dass, mit Eurer Macht geeint,
Unsere Bitte helfend strahle
Den Seelen, die sie liebend sucht!

Und hinaussenden zu euch wollen wir unsere liebenden Gedanken, dass Er mit euch sei, der Helfer, der Christus, den wir suchen, der Christus, der die Seelen in unserer Zeit aufrufen muss, um in Disharmonie die Harmonie zu suchen, dass Er die Seelen, denen Er Schmerz zufügen muss, sicher auch führen wird zu jener Erlösung, die ihnen nötig ist, damit der Sinn erfüllt wird, der da vorgezeichnet ist dem Menschen- und Volkskarma: Mit euch, ihr Seelen, wollen wir geeint sein in dem Zeichen, das uns verbindet mit dem alleinenden Erdengeist, dem Christus.«

Steiner lenkte den Blick auf die Ideale, denen sich die anthroposophische Gesellschaft verschrieben hatte und darauf, wie sehr die bittere Notwendigkeit der Zeit diesen Idealen widersprach:

»Unsere Gesellschaft vereint in einer gemeinsamen geistigen Strömung die Angehörigen der verschiedensten Rassen, Völker, die heute feindlich gegeneinander sind. Da braucht es auch manchen Trost!

Wir blicken zurück auf eine Zeit, die der unsrigen recht unähnlich ist, nicht viel mit ihr gleich hat, auf die Zeit, welche die Bhagavad Gita uns schildert, auf eine Zeit, wo noch die alten, oft geschilderten Menschheitsverhältnisse waren, wo die Menschen noch in kleinen blutsverwandten Kreisen lebten. Der Übergang von dieser Zeit der Blutsverwandtschaft in die Zeit, wo die Blutsverwandten im Kampfe stehen, wird von der Bhagavad Gita geschildert, wo der große Geist hinweist den Arjuna: Drüben stehen wahrhaft die Brüder und hier stehst du, ihr werdet miteinander kämpfen, in deren Adern dasselbe Blut fließt; aber es gibt eine Möglichkeit, im Geist den Ausgleich zu führen. –

Aus dem, was sich nicht bekämpfen sollte, entwickelt sich das heraus, was sich bekämpft: auch eine der eisernen Notwendigkeiten, die für die Menschheitsentwickelung notwendig sind! Der Geist überbrückt, dass der Bruder dem Bruder als Feind gegenübersteht, dass das andere sich entwickelt, was in Disharmonien einander gegenübersteht. Unähnlich der unseren ist diese Zeit.

Wir machen den umgekehrten Weg durch innerhalb unserer geistigen Strömung. Wir suchen das, was zerstreut war in der Welt, wiederum zu sammeln, und die Angehörigen der verschiedensten Nationen umfassen sich wieder brüderlich, werden Brüder innerhalb unserer Reihen.

Jetzt sehen wir, wie der eine herüberkommt aus Frankreich und drüben den anderen gelassen hat, wie er in das deutsche Heer eintritt und erwarten muss, dem anderen, den er als anthroposophischen Freund zurückgelassen hat, kämpfend gegenüberzustehen. Es ist die entgegengesetzte Situation: Die zerstreuten Menschheitsglieder suchen sich im Geist wieder zusammen, und wir finden uns zurecht, wenn wir den Geist der Wahrheit wirklich ernsthaft verstehen und ihn ernsthaft ergreifen. Nur müssen wir die Wege suchen.«

Etwas später im selben Vortrag ruft Steiner erneut die heilenden Kräfte des Christus an und erinnert daran, was aus der Verbindung mit diesem allwaltenden Liebeswesen für den Umgang zwischen den Menschen folgt:

»Ungeheuer ist der Schmerz in den Seelen, der in unseren Zeiten erzeugt wird, ungeheuer groß die Opfer, die gefordert werden, ungeheuer muss die Opferwilligkeit und Empfänglichkeit für einen fremden Schmerz auch sein.

Der Christus ist erstanden erst für viele, wenn wir ihn so verstehen, dass wir wissen: für den anderen kann es keinen Schmerz geben, der nicht auch unser Schmerz ist; denn überall, wo er eingetreten ist, ist es eigener Schmerz. Solange es für uns die Möglichkeit gibt, einen Schmerz bei einem anderen zu sehen, den wir nicht mitfühlen als unseren eigenen Schmerz, so lange ist der Christus noch nicht völlig in die Welt eingezogen.

Der Schmerz im anderen soll nicht uns meiden!

Schwer und groß und weit ist dieses Ideal, schwer und groß und weit ist aber auch das Christus-Ideal. Dann ist es erfüllt, wenn die Wunde, die wir an uns haben, nicht stärker brennt als die, die der andere an sich trägt.

Darum ist es gut, uns geeignet zu machen, helfend einzugreifen durch die folgenden Worte, die wir an eine Gemeinschaft oder an den anderen, der Schmerz leidet, richten:

So lang du den Schmerz erfühlest,
Der mich meidet
Ist Christus unerkannt
Im Weltenwesen wirkend.
Denn schwach nur bleibet der Geist,
Wenn er allein im eignen Leibe
Des Leidesfühlens mächtig ist.«

Zander hat für all dies, für dieses tief empfundene Mitgefühl, für das Erleben einer widersinnigen Tragik, einer Verstrickung in die Logik der Gewalt und des Krieges, der man als Einzelner nicht zu entrinnen vermag, so sehr dies auch dem eigenen Wollen und Wünschen widerstrebte, nichts als Hohn und Spott übrig. Die hämische Brühe von Lügen und Verunglimpfungen, die er über das heiligste menschliche Empfinden angesichts der Tragik erzwungener Opfer gießt, zeugt von tiefer Menschenverachtung und Mitleidlosigkeit.

Für Steiner ist der Krieg das »Karma des Materialismus«. Je mehr die einzelnen Menschen, die Völker und Nationen sich in die Verblendung des Materialismus, in den Wahnsinn verstrickten, die Geschichte werde vom erbarmungslosen Kampf ums Überleben beherrscht, je mehr sich aus dieser Verblendung Gier und Hass nährten, um so sicherer steuerte die Menschheit auf die Katastrophe zu. Und die Katastrophe wurde der grausame »Lehrmeister«, der die Menschen über die Sinnlosigkeit des Materialismus, des Egoismus, der Gier und des Hasses belehrte.

Zur Katastrophe wäre es nicht gekommen, wenn die Menschheit sich rechtzeitig von der Verstrickung in Gier und Hass durch Einsicht befreit hätte. In all diesen Überlegungen sieht Zander nichts als vollmundige Kriegsverherrlichung, Rechtfertigung des Krieges, »Entmachtung der Weltpolitik zugunsten einer deterministischen geistigen Evolution«. Doch dieses Argument vertauscht Ursache und Wirkung. In Wahrheit gibt es diesen Determinismus gerade nicht, denn es lag in der Freiheit der Menschen, die Katastrophe abzuwenden.

Auf S. 334-335 schreibt Zander:

»Wenn der Geist über die Materie regieren soll, müssen auch in der Kriegsdeutung die geistigen Ereignisse die irdischen Kämpfe bestimmen. Das aber bedeutet, die Weltpolitik zugunsten einer deterministischen geistigen Evolution zu entmachten ... Für die Soldaten heißt das folgerichtig: ›Notwendigkeit des Opfers‹ ... In den späteren Kriegsjahren ist Steiner die Verherrlichung des Sterbens nicht mehr so vollmundig über die Lippen gekommen.«

Dass die Kriegskatastrophe eine Folge des Materialismus, der Zunahme des Egoismus war, bringen Steiners Ausführungen am 13. September 1914 deutlich zum Ausdruck.

Die Nationen, die sich immer stärker von der Ideologie des Sozialdarwinismus verblenden ließen, dass die Geschichte ein Kampf ums Überleben sei und dass der Sieg den Tüchtigsten gehöre, beschworen das Weltgericht herauf, das sich als Folge dieser Verstrickung über ihnen entlud.

Statt »eine bestimmte Summe von Opferwilligkeit, von Liebefähigkeit und Selbstlosigkeit, von Bekämpfung des Egoismus« auszubilden, um den Entwicklungslinien, die in den Kampf aller gegen alle führten, entgegenzusteuern, verstrickten sie sich immer stärker in diesen Egoismus.

Und die notwendige Folge dieses grassierenden Egoismus war eben dieser Krieg aller gegen alle. Doch dieser Krieg hätte verhindert werden können, wenn die Menschheit die nötige Selbstlosigkeit entwickelt hätte. Nicht weil irgendein geistiger Determinismus zum Krieg drängte, trat dieser ein, sondern weil sich die Menschheit dem Determinismus der Geistlosigkeit unterwarf.

Nachdem die Katastrophe einmal eingetreten war, konnte man nur hoffen, dass die Menschheit aus ihr die richtigen Lehren zog. Aber auch das war keineswegs »deterministisch« festgelegt. »Ein Lehrmeister der Liebe, der Selbstlosigkeit, das werden die großen Ereignisse sein, die sich jetzt abspielen. Und ein Lehrmeister für die geistigen Welten, hoffen wir, dass sie es werden!« Denn wenn diese Lehren gezogen werden, dann wird, »was schon erreicht wird nach diesem ersten großen Ereignisse, ... der Menschheit ersparen, dass dieses Ereignis etwa wiederholt werden müsste in der Fortsetzung

Gelangt die Menschheit nicht zur Einsicht, dass der Krieg eine Folge des Egoismus ist, dann wird ein weiterer Krieg folgen, denn der Krieg ist das Karma des Egoismus.

Wenn sich die Menschen nicht dazu durchringen, den Schmerz des anderen so zu empfinden wie den eigenen Schmerz, das Wohl des anderen so zu empfinden wie das eigene Wohl, wenn sie sich von der Krankheit der Selbstsucht nicht heilen durch die Selbstlosigkeit, indem sie die heilende Kraft des Christus, die alle Selbstsucht verbrennt, in sich aufnehmen, wenn sie dies nicht tun, dann wird ein weiterer Krieg aus der Entfesselung der Selbstsucht folgen.

Schon im September 1914 hat also Steiner darauf hingewiesen, dass der Erste Weltkrieg nicht der letzte große Krieg des 20. Jahrhunderts sein werde.

»Die Menschheitsfortschritte, das, was die geistigen Hierarchien wollen für die Menschheit, das muss geschehen; aber es kann auf mannigfaltigste Art geschehen. Bis zu einem gewissen Zeitpunkt muss etwas ganz Bestimmtes erreicht sein. Nehmen wir an – nicht, weil dieses gerade stimmt, was ich da sagen will –, bis 1950 müsste ausgegossen sein über die Menschheit eine bestimmte Summe von Opferwilligkeit, von Liebefähigkeit und Selbstlosigkeit, von Bekämpfung des Egoismus. Nehmen wir an, es muss bis 1950 erreicht sein, was geschehen muss, was also die Zeichen der Zeit fordern.

Es geschieht auf der einen Seite dadurch, dass zu den Herzen der Menschen gesprochen wird, dass man vertraut der Kraft des Wortes, dass dasjenige, was die Menschengeschicke in Händen hat, auf geistige Weise herankommen will an die Menschenindividualitäten, und sie so weit zu bringen sucht, dass der Geist auf sie wirken kann.

Aber der andere Lehrmeister muss oft hinzutreten, der zweite Lehrmeister, der durch lebendige Beweise spricht. Und wie haben wir gesehen seine Erfolge! Welche Unsumme von Opfern, von Menschenliebe und Selbstlosigkeit sind erzeugt worden in erstaunlich kurzer Zeit in unserem Zeitalter des Materialismus, als der große Lehrmeister auftrat, der Krieg, der nach der einen Seite hin so Furchtbares hat, auf der anderen Seite das hat, was zu dem hinführt, was man im Okkultismus die eisernen Notwendigkeiten nennt, die eintreten müssen, um etwas Bestimmtes in einem bestimmten Zeitalter der Menschheitsentwickelung zu erreichen.

Ströme von Blut werden vergossen, teure Leben welken dahin, andere werden im Augenblick entrissen dem physischen Leben, wenn die feindliche Kugel sie trifft. Das alles vollzieht sich in so ungeheurem Maße in unserer Zeit.

Was ist das alles? Ein großes Opfer ist es, meine lieben Freunde, ein ungeheures Opfer, das gebracht wird am Altar der gesamten Menschheitsentwickelung. Auf der einen Seite steht das, was eindringen soll in die Menschheitsentwickelung, was der Menschheit übergeben werden muss, damit die Menschheit vorwärtskommt, und auf der anderen Seite steht die Notwendigkeit des Opfers ...

Ein Opfer, sagte ich, ist es, das dargebracht wird auf dem Altar der Menschheit, und heiliges Blut ist es, das fließt auf unsere Erde nieder, ein Blut, das Zeuge wird davon, dass die, die jetzt, in diesem Kampf der Völker, mit ihren Seelen hinaufsteigen aus der physischen Welt in die geistigen Welten, wiederum zurückkommen werden in künftigen Inkarnationen, um wichtige Glieder zu sein für den Geistesfortschritt der Menschheit – ein Opfer, ein großes Opfer! Dasjenige, was jetzt geschieht, es muss so geschehen ...

Ein Lehrmeister der Liebe, der Selbstlosigkeit, das werden die großen Ereignisse sein, die sich jetzt abspielen. Und ein Lehrmeister für die geistigen Welten, hoffen wir, dass sie es werden! Dann werden die großen Opfer, die ungeheuren Opfer, die die Menschen bringen durch ihr Blut, dargebracht sein an dem Altar der geistigen Wesenheiten, und dasjenige, was so schmerzvoll sein kann dem unmittelbaren Anblick, es wird dazu dienen, dass die großen Ziele der Menschheit erreicht werden. Je mehr wir uns mit diesen Gesinnungen durchdringen, desto mehr werden Gedanken da sein, wenn nach dem Kriege ein großer Friede geschlossen ist ...

Und dasjenige, was schon erreicht wird nach diesem ersten großen Ereignisse, es wird der Menschheit ersparen, dass dieses Ereignis etwa wiederholt werden müsste in der Fortsetzung.

Sieg und Sieghaftigkeit des geistigen Lebens ist ein Wort, das sich oftmals in unsere Herzen hineinfand in diesen Zeiten. Versuchet zu verstehen, wie wir Zeuge geworden sind des Ereignisses, das nicht für kurze Zeit entscheidend sein soll für die Entwickelung des ganzen Menschengeistes, sondern für lange, lange Zeiten!

Und versuchen wir, dass aus diesem Ernst heraus wir die Liebe, die Selbstlosigkeit aufbringen, die uns die Wege führen, um nach unseren Kräften, nach unserem Vermögen, uns hinzustellen an den richtigen Ort. Unser Karma wird uns das schon weisen. Und der, welcher jetzt nicht helfend eingreifen kann, sei nicht trostlos. Darauf kommt es an, dass wir auch Kräfte aufsparen für dasjenige, was später noch für viele wird zu geschehen haben, dass wir erkennen im rechten Augenblick, dass unser Karma uns ruft. Dann möchte das eintreten, was man gerade als Bekenner der Geisteswissenschaft in diesem Zeitpunkt sich sagen möchte, dass immer ersichtlicher und ersichtlicher werde durch dasjenige, was in der äußeren Welt geschieht, wie in die Menschengeister, in die Menschenseelen, in die Menschenherzen hinein von allem Weltgeschehen die Wesenheiten, Kräfte, Willensimpulse der geistigen Welt gehen. Der Bund, der sich ergeben möge aus allem, was wir an Gram, auch an Schmerz erleben, der Bund knüpfe sich zwischen der Menschenseele und den göttlichen Geistern, welche die Geschicke der Menschenseele bewirken, regieren und leiten. Und finden werden die Menschenseelen diesen Punkt. Finden möge die Menschenseele das, was gemeint ist, wenn gesagt wird in unserer Formel: Die christbegabte Menschenseele möge strebend finden:

Im Chor der Friedenssphären
Dich, tönend von Lob und Macht
Des Christ-ergebenen Menschensinns!«

(GA 174a, 13. September 1914)

Angesichts des Krieges reaktiviere Steiner – so Zander – in seiner »Völkerpsychologie« seine »Stereotypen von Völkerkollektiven aus dem Geist des Nationalismus«, die schon seit Jahren in seinem »Weltanschauungsreservoir« ruhten, um das »deutsche Volk« »an die Spitze« der Völkerevolution zu stellen.

Auf S. 332-333 schreibt Zander:

»Er entfaltet eine ›Völkerpsychologie‹, die jedem Volk einen bestimmten Nationalcharakter zuweist. Dieses Instrument hatte sich der Nationalismus im 19. Jahrhundert zugelegt ... Auch Steiner aktiviert seine Stereotypen von Völkerkollektiven aus dem Geist des Nationalismus, die schon seit Jahren in seinem Weltanschauungsreservoir ruhten ... Es ist keine Überraschung, wen Steiner an die Spitze dieser Evolution der Völker setzt: Das deutsche Volk ... ›Wir wissen als Anthroposophen: Im deutschen Geiste ruht Europas Ich ...‹«.

Da die Nationen, die Völker nach allgemeinem Verständnis im Krieg miteinander lagen, da eine der Hauptursachen des I. Weltkriegs nach allgemeinem Konsens der Geschichtsforschung der vom Sozialdarwinismus gespeiste, übersteigerte Nationalismus war, setzte sich natürlich auch Steiner mit diesen Kollektiven und ihren Phantasmagorien auseinander.

Aber entscheidend ist, wie er dies tat. Und er tat es bereits weit vor dem Ausbruch des I. Weltkriegs, 1910 in Kristiania.

Die »Selbsterkenntnis der Völker«, so begründete Steiner damals seine Darstellungen, sei notwendig, »weil die nächsten Schicksale der Menschheit in einem viel höheren Grade als das bisher der Fall war, die Menschen zu einer gemeinsamen Menschheitsmission zusammenführen werden.

Zu dieser gemeinsamen Mission werden aber die einzelnen Volksangehörigen nur dann ihren entsprechenden freien, konkreten Beitrag liefern können, wenn sie vor allen Dingen ein Verständnis haben für ihr Volkstum, ein Verständnis für dasjenige, was man nennen könnte ›Selbsterkenntnis des Volkstums‹.

Wenn im alten Griechenland in den apollinischen Mysterien der Satz: ›Erkenne dich selbst‹ eine große Rolle gespielt hat, so wird in einer nicht zu fernen Zukunft der Ausspruch an die Volksseelen gerichtet werden: ›Erkennet euch selbst als Volksseelen.‹ Dieser Spruch wird eine gewisse Bedeutung haben für das Zukunftswirken der Menschheit.« (GA 121, 7. Juni 1910)

Zu einer gemeinsamen Menschheitsmission sollten sich also die einzelnen Angehörigen der National-Kollektive und diese selbst zusammenschließen.

Wozu dies? Damit sie dadurch in die Lage versetzt würden, harmonisch zusammenzuwirken, statt sich in Opposition gegeneinanderzustellen; mit anderen Worten: um den drohenden I. Weltkrieg zu verhindern.

»Haben wir ... das erfasst, was als Geist in diesen Vorträgen waltet, dann können auch die Dinge, die uns da entgegengetreten sind, dazu verhelfen, dass wir den festen Entschluss und das hohe Ideal fassen, dasjenige beizutragen zu dem gemeinsamen Ziele – jeder auf seinem Standpunkte und auf seinem Boden –, was in unserer Mission liegt. Wir können das am besten mit dem, was aus unserem Selbst, aus dem entspringt, wozu wir veranlagt sind.

Wir dienen der gesamten Menschheit am besten, wenn wir das in uns besonders Veranlagte entwickeln, um es der gesamten Menschheit einzuverleiben als ein Opfer, das wir dem fortschreitenden Kulturstrom bringen.

Das müssen wir verstehen lernen. Verstehen müssen wir lernen, dass es schlimm wäre, wenn die Geisteswissenschaft ... beitragen würde zur Überwindung einer Volksgesinnung durch die andere.

Nicht dazu ist die Geisteswissenschaft da, dazu zu verhelfen, dass sich das, was als religiöses Bekenntnis irgendwo auf der Erde herrscht, ein anderes Gebiet erobern kann. Würde jemals der Okzident durch den Orient erobert werden oder umgekehrt, so entspräche das durchaus nicht der geisteswissenschaftlichen Gesinnung. Allein das entspricht ihr, wenn wir unser Bestes, rein Menschliches für die gesamte Menschheit hingeben. Und wenn wir ganz in uns selber leben, aber nicht für uns, sondern für alle Menschen, so ist das wahrhafte geisteswissenschaftliche Toleranz ...

Durch die Geisteswissenschaft – das werden wir immer mehr einsehen – wird alle Menschen-Zersplitterung aufhören.

Deshalb ist gerade jetzt die richtige Zeit, die Volksseelen kennen zu lernen, weil die Geisteswissenschaft da ist, die uns dazu bringt, die Volksseelen nicht einander gegenüber zu stellen in Opposition, sondern sie aufzurufen zu harmonischem Zusammenwirken.

Je besser wir das verstehen, desto bessere Schüler der Geist-Erkenntnis werden wir sein. ... Je mehr wir dieses leben, desto bessere Schüler der Geisterkenntnis sind wir.« (GA 121, 17. Juni 1910)

Und wie brachte Steiner diese Grunderkenntnis des Geistesschülers, diese Mission des Geisteswissenschaft kurz nach dem Ausbruch des I. Weltkriegs zum Ausdruck?

Zitieren wir noch einmal den Vortrag vom 13. September 1914:

»Es ist wirklich in der Gegenwart nicht die rechte Zeit, auf das aufmerksam zu machen, was da an Gefühlen, Empfindungen in den Hintergründen der Seele spricht, aber auf etwas anderes möchte ich Sie aufmerksam machen, darauf, dass wir einen Weg haben können, um in geheimer Zwiesprache, intimer, innerer Zwiesprache mit dem Geist des Volkes, dem wir angehören, den Weg zu finden, den unsere Seelen in der rechten Weise gehen sollen. Raten nur kann ich, wenn Sie einige Minuten finden, gerade in der jetzigen Zeit, die folgende Formel zu gebrauchen, um sich zurechtzufinden in der gegenwärtigen Weltensituation:

Du, meines Erdenraumes Geist!
Enthülle Deines Alters Licht

Warum Alter? ›Alter‹ sagt man bei geistigen Wesenheiten, wo man bei irdischen ›Deines Wesens Licht‹ sagen würde. Alter ist für den Geist, was Wesen für das Irdische ist.

Du, meines Erdenraumes Geist!
Enthülle Deines Alters Licht
Der Christ-begabten Seele,
Dass strebend sie finden kann
Im Chor der Friedenssphären
Dich, tönend von Lob und Macht
Des Christ-ergebenen Menschensinns!

Da finden wir den Weg zum Volksgeist, dem wir zugehören, und den Weg von diesem Volksgeist zur Zwiesprache des Volksgeistes mit dem Christus, der der Lehrer aller Volksgeister ist.

Und wenn sie sich in diesem Christus zusammenfinden, werden sich die Volksgeister in der richtigen Art zusammenfinden, da all diese Volksgeister, die die Völker richtig führen  ... den Christus als den Lehrmeister betrachten.«

Nicht nur den einzelnen Menschen, sondern auch die Volksgeister kann Christus zum harmonischen Zusammenwirken führen. Dies einzusehen, war natürlich im September 1914 noch weit dringlicher, als 1910.

Und wie verhält es sich mit der Aussage, »im deutschen Geist« ruhe »Europas Ich«? Stellte Steiner dadurch »das deutsche Volk« an die »Spitze« der Völkerevolution? Lesen wir nach, was Steiner 1910 in Kristiania über die »Völker Westasiens und die slawischen Völker« ausführte:

»Wenden wir uns jetzt zu der Schilderung im Weitergange des germanisch-nordischen Volksgeistes zu dem, was auf ihn folgt. Was wird das nächste sein, wenn ein Volksgeist sein Volk so leitet, dass das Geistselbst sich besonders entwickeln kann?

Erinnern wir uns daran, dass der Ätherleib in der indischen Kultur, der Empfindungsleib in der persischen Kultur, die Empfindungsseele in der ägyptisch-chaldäischen Kultur, die Verstandes- oder Gemütsseele in der griechisch-lateinischen Kultur, die Bewusstseinsseele in unserer, noch nicht abgeschlossenen Kultur zur Entwickelung kommt.

Nun folgt aber das Ergreifen des Geistselbst durch die Bewusstseinsseele, so dass hineinleuchtet das Geistselbst in die Bewusstseinsseele, was als Aufgabe der sechsten Kulturstufe nach und nach vorbereitet werden muss.

Diese Kultur, die im eminentesten Sinne eine empfängliche Kultur sein muss, denn sie muss hingebungsvoll das Hereindringen des Geistselbst in die Bewusstseinsseele abwarten, wird vorbereitet durch die Völker Westasiens und die vorgeschobenen slawischen Völker Osteuropas. Die letzteren sind aus gutem Grunde mit ihren Volksseelen vorgeschoben, aus dem Grunde, weil alles, was in Zukunft kommen wird, in einer gewissen Weise seine Vorbereitung vorher erfahren muss, sich schon hineinschieben muss, um die Elemente für das Spätere abzugeben ...

Wenn man auf der einen Seite sagen muss, dass Hegel auf philosophischem Gebiete eine reifste Frucht darstellt, etwas, was als reifste philosophische Frucht aus der Bewusstseinsseele herausgeboren ist, so ist auf der anderen Seite diese Philosophie Solowjows der Keim in der Bewusstseinsseele für die Philosophie des Geistselbst, das in der sechsten Kulturperiode eingegliedert wird.« (GA 121, 9. Juni 1910)

Mit anderen Worten: »In den Völkern Westasiens und den vorgeschobenen slawischen Völkern Osteuropas ruht Europas Geistselbst.«

Das Geistselbst ist aber ein Wesensglied, das höher steht, als das Ich. Das Ich muss dieses Geistselbst »hingebungsvoll« in sich aufnehmen und sich von ihm durchleuchten lassen. Der »deutsche Geist« muss dieses in den Völkern Ostasiens und den slawischen Völkern sich vorbereitende Geistselbst hingebungsvoll in sich aufnehmen – und zwar heute schon, wie das Beispiel Solowjews zeigt. Wer steht nun an der Spitze der Völkerevolution?

Und: Ist der »deutsche Geist«, in dem Europas Ich ruht, dasselbe wie das »deutsche Volk« als möglicherweise gar völkisch verstandenes Kollektiv, das heißt als Bluts- und Abstammungszusammenhang? Mitnichten.

Wenn Steiner vom deutschen Geist spricht, spricht er vom deutschen Volksgeist, einem Erzengel.

Nur jene Einzelmenschen haben am geistigen Inhalt dieses Volksgeistes teil, die sich diesen Inhalt durch eigene geistige Aktivität zum Bewusstsein bringen. Nur diese Menschen, die ihrer Bewusstseinsseele, ihrem Ich aktiv einen geistigen Inhalt an religiösen, philosophischen, moralischen Idealen geben, der »in den Weistümern, in den Mythologien, Religionen und in den Wissenschaften« lebt, kommen für den Volksgeist überhaupt in Betracht. Denn diese Menschen sind die »Völkerpersönlichkeiten, die das Volk ausmachen«.

Das Volk machen nicht die dumpf vor sich hinbrütenden Massen aus, die ihre Emotionen durch die Lügenpresse aufstacheln und gegeneinander aufhetzen lassen oder von den Suggestionen und Phrasen verantwortungsloser Schreibtischtäter oder politischer Demagogen in die Irre geführt werden.

»Schauen Sie sich das Leben der Völker von Epoche zu Epoche an, wie es verlaufen ist, wie immer neue Vorstellungen und Weltgeheimnisse darin aufgekommen sind. Wo hätten die Griechen ihre Vorstellungen über Zeus und Athene hernehmen können, wenn sie sich nur auf die äußere Wahrnehmung verlassen hätten!

Das lebte sich von innen hinein, was in den Weistümern, in den Mythologien, Religionen und in den Wissenschaften der Völker enthalten ist. So also müssen wir sehen, dass die Hälfte unseres inneren Wesens, die Hälfte unserer Verstandes- oder Gemütsseele und unserer Bewusstseinsseele von innen heraus angefüllt sind, und zwar gerade so weit, als der Mensch sich mit dem, was eben charakterisiert worden ist, innerlich durchdringt, so weit können die Erzengel in das menschliche Innere vordringen, und so weit geht auch das eigentliche Leben der Erzengel.

Das müssen Sie also vom inneren Leben ausschalten, was von außen durch die Empfindungsseele aufgenommen und durch die Verstandes- oder Gemütsseele verarbeitet wird. Dann haben Sie aber auch noch das, was wir unser Ich nennen. Für uns ist das Ich das höchste Glied unserer Wesenheit. Was wir da hineintragen in das moralische Bewusstsein, das sind Ideale, moralische, ästhetische, ideelle Gedanken ...

So wie nun der Mensch durch seine Sinnesempfindung auf Farben schaut, Töne hört, so schaut der Erzengel herunter auf die Welt, die das Ich als objektive Wahrheit umschließt, nur dass sich um dieses Ich noch etwas herumgruppiert von jenem Teile des Astralischen, das wir Menschen in uns als Verstandes- oder Gemütsseele kennen.

Denken Sie sich diese Wesenheiten in eine Welt schauend, die nicht das Mineralische, Pflanzliche und Tierische erreicht. Denken Sie, dass dafür der Blick, der ein geistiger ist, auf ihr Weltbild hingerichtet ist und dass sie da Mittelpunkte wahrnehmen. Diese Mittelpunkte sind die menschlichen Iche, um die sich wieder etwas gruppiert, das wie eine Art Aura aussieht.

Da haben Sie das Bild, wie das Erzengelwesen auf die Völkerpersönlichkeiten, die zu dem Erzengel gehören, die das Volk ausmachen, heruntersieht. Seine Welt besteht aus einem astralischen Wahrnehmungsfelde, in dem gewisse Zentren darin sind.

Diese Zentren, diese Mittelpunkte sind die einzelnen menschlichen Persönlichkeiten, sind die einzelnen menschlichen Iche.

Also gerade so, wie für uns Farben und Töne, Wärme und Kälte im Wahrnehmungsfelde liegen und für uns die bedeutsame Welt sind, so sind für die Erzengelwesen, für die Volksgeister wir selbst mit einem Teil unseres Innenlebens das Wahrnehmungsfeld, und wie wir in die Außenwelt hineingehen und diese bearbeiten und umgestalten zu Instrumenten, so sind wir diejenigen Objekte – insofern wir zu diesem oder jenem Volksgeist gehören –, welche zu dem Arbeitsfelde der Erzengel oder Volksgeister gehören ...

Für die Erzengel ist das Gegebene, was innen im menschlichen Bewusstseinsfelde auftritt. Das ist für sie eine Summe von Zentren, von Mittelpunkten, um welche die inneren Erlebnisse der Menschen gesponnen sind, insofern als sich diese Erlebnisse in der Verstandes- oder Gemütsseele abspielen; ihre Tätigkeit ist in dem entsprechenden Falle aber eine höhere.

Wie spezialisiert sich nun das Weltbild der Erzengel oder Volksgeister? Für den Menschen spezialisiert sich das Weltbild dadurch, dass, wenn er irgendeinen Gegenstand mit der Hand ergreift, er ihn warm oder kalt empfindet. Der Erzengel erlebt etwas Ähnliches, indem er die menschlichen Individualitäten trifft.

Da trifft er Menschen, welche mehr von der inneren Aktivität beseelt sind, reicheren Seeleninhalt haben, die machen auf ihn einen intensiveren Eindruck.

Andere findet er lässig, lethargisch, mit armem Seeleninhalt, das sind die Wesen, die für ihn so dastehen, wie Wärme und Kälte für das Weltbild der menschlichen Seele.

So spezialisiert sich das Weltbild des Erzengels, und je nachdem kann er die einzelnen Menschen gebrauchen, für sie arbeiten, indem er dasjenige webt, was aus seiner Wesenheit heraus das gesamte Volk zu leiten hat.« (GA 121, 16. Juni 1910)

Wieder einmal erweist sich ein Vorwurf Zander, Steiner habe »massiv gelogen« bei näherer Betrachtung als – massive Lüge.

Auf S. 339 schreibt Zander,

Steiner habe massiv gelogen, weil er behauptete, er habe bei seiner Überarbeitung der 1900 erschienenen »Welt- und Lebensanschauungen im 19. Jahrhundert«, nur unwesentliche Änderungen vorgenommen, Widersprüche zu früheren Positionen seien dadurch nicht entstanden.

Zander findet in der Erstausgabe eine »radikale Kritik am Idealismus«, die zu den »prononciertesten Aussagen seines damaligen Atheismus« zähle, eine Kritik, die Steiner bei seiner Überarbeitung um 180 Grad gewendet habe. Um welche Passage handelt es sich?

Bei Zander lautet sie wie folgt: »Ich erschaffe eine Ideenwelt, die mir als das Wesen der Dinge gilt. Die Ideen erhalten durch mich ihr Wesen ... Im Erkennen der Ideen enthüllt sich nun gar nichts, was in den Dingen einen Bestand hat. Die Ideenwelt ... ist in keiner anderen Form vorhanden als in der von mir erlebten.« Diese Stelle soll sich laut Anmerkung im ersten Band auf Seite II finden.

Man muss in der Erstausgabe schon reichlich herumsuchen, bevor man fündig wird: eine Seite II sucht man jedenfalls vergeblich. Fündig wird man auf S. 188 des zweiten Bandes, im Kapitel »Ausblick«.

Lesen wir nach, was Steiner schreibt:

»Wenn ich mit meinen Gedanken die Dinge durchdringe, so füge ich also ein seinem Wesen nach in mir Erlebtes zu den Dingen hinzu. Das Wesen der Dinge kommt mir nicht aus ihnen, sondern ich füge es zu ihnen hinzu. Ich erschaffe eine Ideenwelt, die mir als das Wesen der Dinge gilt. Die Dinge erhalten durch mich ihr Wesen. Es ist also unmöglich, nach dem Wesen des Seins zu fragen. Im Erkennen der Ideen enthüllt sich mir gar nichts, was in den Dingen einen Bestand hat. Die Ideenwelt ist mein Erlebnis. Sie ist in keiner anderen Form vorhanden, als in der von mir erlebten.«

Unterstrichen wurde eine wirklich gravierende Textänderung (siehe linke Spalte), aber die stammt von Zander, nicht von Steiner. Kursiv gesetzt wurde oben das richtige Zitat.

Nicht die Ideen empfangen bei Steiner ihr Wesen vom denkenden Menschen, sondern die Dinge. Steiner legt 1900 Wert darauf, die Ideen als freie Hervorbringungen des Menschengeistes zu kennzeichnen, die nicht aus den bloß wahrgenommenen Dingen oder einem Ding an sich herausgeholt werden können, sondern vom Menschen jeweils neu hervorgebracht werden müssen.

Das ist auch mit der Formulierung gemeint, im Erkennen der Ideen enthülle sich nichts, »was in den Dingen einen Bestand« habe: das ideelle Wesen der Dinge besteht nicht schon vor dem Erkennen in den Dingen, in der Form, in der es im menschlichen Bewusstsein zur Erscheinung kommt.

Diese Beobachtung findet sich bereits in den »Grundlinien einer Erkenntnistheorie ...« von 1883, die ja nach Zander eine völlig andersgeartete Position vertraten. Der Gedankengehalt der Welt erscheint für Steiner 1883 einerseits durch die »Tätigkeit des menschlichen Bewusstseins« und zugleich als »in sich bestimmter ideeller Inhalt« und er betont schon damals, dass das Feld der Gedanken »einzig das menschliche Bewusstsein« sei, was der »Objektivität« ihres Inhalts keinen Abbruch tue.

Was aber an der Auffassung, die Ideen seien ein freies Erzeugnis des Menschengeistes und dieser füge den Dingen der Wahrnehmungswelt durch seinen Geist ihr Wesen hinzu, radikale »Kritik am Idealismus« und zugleich »Atheismus« sein soll, ist völlig schleierhaft.