Gleich zwei Geschichtsklitterungen finden sich in Äußerungen Zanders über Steiners »geistigen Kriegsdienst«.

Auf S. 343-345 schreibt Zander:

1. »Steiner blieb nicht bei einer esoterischen Metaphysik des Krieges und einem okkult verschleierten deutschen Nationalismus stehen. Der Krieg weckte in ihm vielmehr politische Ambitionen. Eine erste Aktion ereignete sich bereits wenige Wochen nach Kriegsbeginn und wurde nach Kriegsende als Steiners spektakulärstes Unternehmen gehandelt: sein Kontakt zu dem Oberbefehlshaber der deutschen Armee, Helmuth von Moltke ...«

2. »Moltke war ein eher sensibler Mensch, der dem Druck der Verantwortung in der Eröffnungsphase des Krieges nur mit Mühe standhielt und die Demütigungen, die ihm Kaiser Wilhelm II. dabei zugefügt hatte, als er Moltkes Vorgehen für zu wenig entscheiden hielt, nicht leicht verkraften.«

Die Unterstellung, Steiner habe bei seinem Kontakt mit Helmuth von Moltke »politische Ambitionen« verfolgt, wird am besten durch Zander selbst widerlegt.

Denn im unmittelbar auf das erste Zitat folgenden Satz schreibt er:

»Dass dies aber letztlich noch wenig mit Politik zu tun hatte, haben ihm seine Zeitgenossen nicht geglaubt – zu Unrecht.«

Was nun? Verfolgte Steiner politische Ambitionen oder hatte dies wenig (in Wahrheit natürlich gar nichts) mit Politik zu tun?

Und auf der darauffolgenden Seite (S. 345) schreibt Zander:

»Was aber tat Steiner an diesem 26. August 1914 [als er Moltke in Koblenz besuchte]? Nach allem, was wir an dürren Informationen haben, spielten militärische Fragen kaum eine Rolle.«

Worauf stützt er sich, wenn er von »dürren Informationen« spricht? Auf niemand anderen als Steiner:

»Steiner jedenfalls hat, als er 1921 ... die Visite in Koblenz bestätigte, behauptet, man habe über ›rein menschliche Angelegenheiten‹ gesprochen.« (S. 345)

Man kann aber auch mehr wissen. Man könnte zum Beispiel wissen, dass die Initiative für ein Treffen mit Moltke nicht von Steiner ausging, sondern von Moltkes Frau Eliza. Diese hatte aus Sorge um ihren Mann »ein Zusammentreffen mit Rudolf Steiner in Niederlahnstein bei Koblenz arrangiert. Dieses Unterfangen mitten während der Augustoffensive zog einige politische Risiken nach sich, und Steiner bekräftigte, er ›habe sich zu dieser Fahrt erst nach dreimaligem Ersuchen von Frau von Moltke entschlossen‹. So reiste er von Dornach mit verschiedenen Fahrkarten über Stuttgart und Mannheim nach Koblenz, um sein Fahrziel zu verschleiern. Die etwa zwanzigminütige Zusammenkunft fand im Beisein von Moltkes Frau am 26. August 1914 nachmittags im rechtsrheinischen Niederlahnstein bei der Anthroposophin Johanna Peelen statt. In einem Interview mit Jules Sauerwein betonte Rudolf Steiner, dass sich ihre Unterhaltung ›um rein menschliche Angelegenheiten‹ drehte und militärische Gesichtspunkte in keiner Weise zur Sprache kamen. Steiner übergab Moltke einen stärkenden Meditationsspruch über die Sieghaftigkeit des Geistes: ›Siegen wird die Kraft, | die vom Zeitgeschick | vorbestimmt dem Volk, | das in Geistes Hut | zu der Menschheit Heil | in Europas Herz | Licht dem Kampf entringt.‹« (Markus Osterrieder, Welt im Umbruch, S.1009-1010, Anmerkungen und Quellen weggelassen)

Zander behauptet auch, Moltke habe »die Demütigungen, die ihm Kaiser Wilhelm II. dabei zugefügt hatte, als er Moltkes Vorgehen für zu wenig entscheiden hielt, nicht leicht verkraftet«.

Die Wahrheit sieht anders aus. Wilhelm II. war es, der zu wenig entschieden war. Er stürzte durch seine sprunghaften Handlungen die Aufmarschpläne durcheinander und die Generalmobilmachung nahezu ins Chaos. Dazu die präzise Rekonstruktion Markus Osterrieders (Anmerkungen und Quellen weggelassen):

»Am 1. August war die Mobilmachung kurz zuvor um 17 Uhr verkündet, und der Aufmarsch im Westen wurde in die Wege geleitet, was aufgrund der bestehenden Bahnverbindungen die Besetzung Luxemburgs schon am ersten Mobilmachungstag voraussetzte. Da traf – Helmuth von Moltke war bereits in den Generalstab gefahren – aus London das Telegramm des deutschen Botschafters, Karl Max von Lichnowsky, ein, in dem es hieß, der englische Außenminister Sir Edward Grey habe (in mehrdeutigen Formulierungen ...) versichert, dass England neutral bleiben werde, sollte der Angriff gegen Frankreich gestoppt werden. Kaiser Willy glaubte nach dem Eintreffen dieser ›Bombe‹ (so Freiherr von Lyncker) nicht nur, England würde in letzter Minute neutral bleiben, sondern es würde sogar Frankreich, das am selben Tag ebenfalls den Mobilisierungsbefehl gegeben hatte, dazu bewegen, das Zarenreich im Stich zu lassen. Ein Grund, Sekt servieren zu lassen und ›die gebotene Hand [zu] ergreifen‹, selbst wenn ›das Anerbieten nur ein Bluff sei‹.

Als Moltke in das Schloss zurückkehrte, so hielt er in seinen Aufzeichnungen im November 1914 die Ereignisse vom 1. August fest, ›herrschte, wie gesagt, eine freudige Stimmung. Nun brauchen wir nur den Krieg gegen Rußland zu führen! Der Kaiser sagte mir: ‚Also marschieren wir einfach mit der ganzen Armee im Osten auf!’ – Ich erwiderte Sr. Majestät, dass das unmöglich sei. Der Aufmarsch eines Millionenheeres lasse sich nicht improvisieren [...].‹ Moltke, der Greys Aussagen als reinen Bluff zu durchschauen glaubte, wusste auch, dass militärisch gesehen ein solch dilettantisches Unterfangen ›die unheilvollste Verwirrung‹ auslösen würde, die er nicht verantworten konnte und wollte. ›Wo jeder Zug auf die Minute geregelt ist, muss jede Änderung in verhängnisvoller Weise wirken.‹ Moltke diskutierte, wie Moritz von Lyncker notierte, ›sehr erregt, mit bebenden Lippen‹. Unter den Augen der führenden Generalstabsoffiziere und Bethmann Hollwegs demütigte der Kaiser Moltke mit dem Hinweis ›Ihr Onkel würde mir eine andere Antwort gegeben haben!‹ und stoppte eigenmächtig den Einmarsch in Luxemburg. Moltke war – in den Worten Admiral Georg von Müllers – ›außer sich‹ und erwiderte, ›wenn der Vormarsch gegen Frankreich nicht stattfände, er keine Verantwortung für den Krieg übernehmen könne‹. Moltke war, wie er selbst eingestand, ›im Laufe dieser Szene in eine fast verzweifelte Stimmung gekommen‹, da er ›das größte Unheil für den uns bevorstehenden Krieg erwachsen‹ sah. Wieder zu Hause angekommen, war Moltke mit purpurrotem Gesicht ›wie gebrochen und vergoss Tränen der Verzweiflung‹. Moltkes Frau Eliza befürchtete, er habe einen leichten Schlaganfall erlitten. Erst als spät abends der König von England dem Kaiser mitteilen ließ, der Gesandte Lichnowsky müsse sich irren oder Grey falsch verstanden haben, sagte der innerlich erregte Kaiser zu dem erneut ins Schloss zitierten Moltke: ›Nun können Sie machen, was Sie wollen.‹ Moltke meinte rückblickend:

›Das war mein erstes Erlebnis in diesem Kriege. – Ich habe die Überzeugung, dass der Kaiser die Mobilmachungsorder überhaupt nicht unterzeichnet haben würde, wenn die Depesche des Fürsten Lichnowsky eine halbe Stunde früher angekommen wäre. – Ich habe die Eindrücke dieses Erlebnisses nicht überwinden können, es war etwas in mir zerstört, das nicht wieder aufzubauen war, Zuversicht und Vertrauen waren erschüttert.‹ (Markus Osterrieder, Welt im Umbruch, S. 763-765)

Eine Schilderung dieser Ereignisse aus Steiners Sicht findet sich in einem Interview, das der französische Journalist Jules Sauerwein mit ihm für die Zeitung »Matin« führte:

»Als Moltke am Freitag, dem 31. Juli, ins Schloss kam, fand er völlig verwirrte Leute. Er hatte, wie er sagte, den Eindruck, dass er sich in die Lage versetzt sah, ganz allein einen Entschluss fassen zu müssen. Der Kaiser unterzeichnete an diesem Tage noch nicht den Mobilmachungsbefehl, einen Befehl, der in Deutschland durchaus der Kriegserklärung gleichkommt, denn sobald dieser Befehl erteilt ist, rollt alles einschließlich der ersten Operation zu bestimmten Stunden mit einem unerbittlichen Automatismus ab. Wilhelm II. begnügte sich für jenen Tag, den Zustand der drohenden Kriegsgefahr zu proklamieren. Am folgenden Tag, am Samstag, dem 1. August um vier Uhr nachmittags, ließ er Moltke wieder zu sich rufen, und in den nunmehr folgenden sechs Stunden spielte sich das folgende Drama ab.

Moltke trifft den Kaiser in Gegenwart von Bethmann Hollweg, welchem buchstäblich die Knie zitterten, des Kriegsministers Falkenhayn, des Generals von Plessen, Lyncker und einigen anderen. Der Kaiser erhebt lebhaften Widerspruch gegen die Absichten des Generalstabschefs. Er habe, sagt er, die besten Nachrichten aus England erhalten. England werde nicht nur neutral bleiben – wie Georg V. ihm mitteile –, es werde sogar Frankreich verhindern, am Kriege teilzunehmen. Unter diesen Bedingungen sei es logisch, die ganze Armee gegen Rußland zu werfen. Nein, antwortete Moltke, der Plan muss im Osten wie im Westen so ausgeführt werden, wie er festgesetzt ist, wenn wir nicht das größte Unglück herbeiführen wollen.

Die technischen Gründe

Die Einwände berühren Moltke nicht, er weigert sich, irgend etwas zu ändern. Er macht geltend, dass im Sinne des Mobilmachungsbefehles ohne jeden Aufschub verfahren werden müsse. Er glaubt nicht an die englischen Telegramme, und mit dem Mobilmachungsbefehl in der Hand, den Wilhelm II. soeben unterzeichnet hat, wird er entlassen, die anderen in einem Zustande völliger Verwirrung zurücklassend. So kam es, dass aus rein militärischen Rücksichten die Entscheidung über den Kriegsausbruch fallen musste. Auf dem Wege vom Schloss zum Generalstab wird sein Wagen von einem kaiserlichen Automobil eingeholt. Moltke wird im Auftrag des Kaisers zurückgerufen. Der Kaiser ist aufgeregter denn je. Er zeigt seinem Generalstabschef ein Telegramm aus England. Er glaubt aus diesem Telegramm mit absoluter Gewissheit zu ersehen, dass der Konflikt auf den Osten beschränkt und dass England und Frankreich neutral bleiben werden. ›Es muß‹, so schließt er, ›sofort ein Befehl an die Armee gelangen, im Westen nicht vorzugehen.‹ Moltkes Antwort lautet, dass man eine Armee nicht der Alternative von Befehl und Gegenbefehl aussetzen könne. Da wandte sich der Kaiser, während Moltke dabei stand, an den Flügeladjutanten vom Dienst und befahl ihm, sofort dem Kommando der 16. Division nach Trier den Befehl zu übermitteln, sie solle nicht in Luxemburg einmarschieren. Moltke begibt sich nach Haus. Erschüttert, weil er das größte Unheil aus solchen Maßnahmen erwartet, setzt er sich an seinen Tisch. Er erklärt, er könne in dem Sinne des telephonischen Befehles des Kaisers keine Maßnahmen für die Armee treffen. Dieser Befehl wird ihm von einem Adjutanten zur Unterschrift überbracht. Er verweigert die Unterschrift und schiebt den Befehl zurück. Bis um 11 Uhr abends bleibt er in einem Zustand dumpfer Erschöpfung, trotzdem er ganz gesund von Karlsbad zurückgekommen war. Um 11 Uhr wird er angeläutet. Der Kaiser fragt wieder nach ihm. Er begibt sich sofort auf das Schloss. Wilhelm II., der sich schon zur Ruhe begeben hatte, wirft einen Schlafrock über und sagt: Alles hat sich geändert. Das Unheil ist im Anzug. Der König von England hat soeben in einem neuen Telegramm erklärt, dass er missverstanden worden sei und dass er weder in seinem Namen noch in demjenigen Frankreichs irgendeine Verpflichtung übernehme. Er schließt mit den Worten: Jetzt können Sie machen, was Sie wollen. Und nun beginnt der Krieg.« (GA 24, S. 345 f.)

Auch in Steiners Buch »Gedanken während der Zeit des Krieges« projiziert Zander entstellende Absichten hinein. Es hätte der »geistigen Landesverteidigung« gedient und stelle eine »massive Rechtfertigung der deutschen Kriegspolitik« dar.

Auf S. 345 schreibt Zander:

»Dieses Büchlein gehört in ein Genre, das man in diesen Jahren ›geistige Landesverteidigung‹ nannte. Es ist eine massive Rechtfertigung der deutschen Kriegspolitik.«

Es überrascht nicht, dass man bei der Lektüre dieses »Büchleins« weder etwas findet, was sich mit der deutschen Kriegspropaganda zu dieser Zeit vergleichen lässt, noch etwas, was auch nur annähernd einer »Rechtfertigung der deutschen Kriegspolitik« gleichkäme.

Der Untertitel dieser 1915 erschienenen Publikation lautet: »Für Deutsche und solche, die nicht glauben, sie hassen zu müssen«. Sie stellt den Versuch dar, Deutsche und solche, die nicht glaubten, sie hassen zu müssen, inmitten einer von Feinbildern und gegenseitigen Schuldzuweisungen gekennzeichneten öffentlichen Debatte an das zu erinnern, was sie eigentlich sind oder hätten sein können und als was sie auch von jenen gesehen wurden, die sie aufgrund der Umstände glaubten hassen zu müssen.

Was sagt Steiner selbst über das Ziel dieser Schrift?

»Mit dem Verständnis, das auch der Menschen Verirrungen zu begreifen sucht, möchte man auf die Flammen des Hasses blicken, die sich entzünden. Zu stark ist eben für manchen der Eindruck, den er empfängt, wenn er das gegenwärtig Erlebte vergleicht mit dem, was ihm durch die Entwickelung der Menschheit für die Gegenwart bereits errungen schien.« (GA 24, S. 243)

Daher ruft er die Genien an, die das bessere Deutschland zu dem gemacht hatten, was es hätte sein können, Denker wie Fichte, Goethe, Schiller. Aber er ruft auch Angehörige anderer – nunmehr verfeindeter – Nationen an, die dafür zeugen, dass der deutsche Geist nicht mit dem Zerrbild verwechselt werden müsse, das die feindliche Propaganda von ihm entwerfe. Und er erinnert daran, dass Deutschland nicht allein die Schuld am Ausbruch des ersten Weltkrieges trage, sondern dass es auf allen Seiten »kriegstreibende Mächte« gegeben habe. Und als solche benennt er den französischen Revanchismus, den von Rußland geförderten Panslawismus und den britischen Imperialismus. Eine Erinnerung, die Jahrzehnte lang einen Sturm der Entrüstung auslöste, heute aber der historischen Forschung als Selbstverständlichkeit gilt. Außer offenbar für Zander. Lord Lothian, der den Kriegsschuldartikel 231 des Versailler Vertrages entscheidend formuliert hatte, schrieb 1937: »Der Versailler Vertrag gründete sich auf die Theorie von Deutschlands Alleinschuld am Weltkrieg. Ich glaube, niemand, der die Vorgeschichte des Krieges ernsthaft studiert hat, kann diese Ansicht heute aufrechterhalten ... Am Ende des Krieges jedoch hatten wir uns eingeredet, dass Deutschland allein an dem Unglück schuld sei. Diese Überzeugung war das Ergebnis von Meinungen, die wir uns aufgrund eines sehr unzureichenden Materials, ergänzt durch die Propaganda der Kriegszeit, gebildet hatten. Das Wesen der Kriegspropaganda aber bestand darin, die Einigkeit und Moral der eigenen Landsleute aufrechtzuerhalten durch den Nachweis, dass wir völlig recht, der Feind aber völlig unrecht habe. Auf diesem Grundsatz war der Versailler Vertrag aufgebaut.« (Zitiert nach Osterrieder, Welt im Umbruch, S. 1600)

»Der Kriegsausbruch von 1914«, schreibt Christopher Clark in seinem Buch »Die Schlafwandler«, »ist kein Agatha-Christi-Thriller, an dessen Ende wir den Schuldigen im Konservatorium über einen Leichnam gebeugt auf frischer Tat ertappen. In dieser Geschichte gibt es keine Tatwaffe als unwiderlegbaren Beweis, oder genauer: Es gibt sie in der Hand jedes einzelnen wichtigen Akteurs. So gesehen war der Kriegsausbruch eine Tragödie, kein Verbrechen ... die Deutschen waren nicht die einzigen Imperialisten, geschweige denn die einzigen, die unter einer Art Paranoia litten. Die Krise, die im Jahr 1914 zum Krieg führte, war die Frucht einer gemeinsamen politischen Kultur. Aber sie war darüber hinaus multipolar und wahrhaft interaktiv – genau das macht sie zu dem komplexesten Ereignis der Moderne ...« (2013, S. 716-717)

Auch über die politische Gestaltungsidee der sozialen Dreigliederung, die Steiner seit dem Sommer 1917 auf verschiedenen Plattformen darstellte, vermag Zander nur Verwirrendes und Entstellendes zu verbreiten.

Auf S. 306 behauptet er:

»Zuerst hatte er [Steiner] 1917 eine Aufteilung in ein ökonomisches, ein unbewusstes und ein moralisches Gebiet vorgesehen, wobei in Letzteren das Rechtsleben eingeschlossen sein sollte.«

Zander verweist auf die Fundstelle GA 73, 14.11.1917

Der Vortrag vom 14.11.1917 ist keineswegs die erste Darstellung der Dreigliederungsidee.

Diese erste Darstellung findet sich in seinem ersten Memorandum vom Juli 1917. Die Memoranden verfasste Steiner für Graf Otto Lerchenfeld und Graf Ludwig Polzer-Hoditz, die ihre Beziehungen zu deutschen und österreichischen Regierungskreisen einsetzen wollten, um diese Ideen an einflussreiche Persönlichkeiten heranzutragen. Graf Lerchenfeld wandte sich u. a. an den deutschen Staatssekretär Kühlmann, Graf Polzer an seinen Bruder Arthur Polzer Hoditz, Kabinettschef Kaiser Karls von Österreich.

In seinem ersten Memorandum unterschied Steiner die politisch-staatliche (demokratisch zu organisierende), die ökonomische (opportunistisch zu organisierende) und die geistig-kulturelle (freiheitlich durch Selbstbestimmung zu organisierende) Sphäre:

»1. Dass man einsehe: Gegenstand einer demokratischen Volksvertretung können nur die rein politischen, die militärischen und die polizeilichen Angelegenheiten sein. Diese sind nur möglich auf Grund des historisch gebildeten Untergrundes. Werden sie vertreten für sich in einer Volksvertretung und verwaltet von einer dieser Volksvertretung verantwortlichen Beamtenschaft, so entwickeln sie sich notwendig konservativ. Ein äußerer Beweis dafür ist, dass seit dem Kriegsausbruche selbst die Sozialdemokratie in diesen Dingen konservativ geworden ist. Und sie wird es noch mehr werden, je mehr sie gezwungen wird, sinn- und sachgemäß dadurch zu denken, dass in den Volksvertretungen wirklich nur politische, militärische und polizeiliche Angelegenheiten der Gegenstand sein können. Innerhalb einer solchen Einrichtung kann sich auch der deutsche Individualismus entfalten mit seinem bundesstaatlichen System, das nicht eine zufällige Sache ist, sondern das im deutschen Volkscharakter enthalten ist.

2. Alle wirtschaftlichen Angelegenheiten werden geordnet in einem besonderen Wirtschaftsparlamente. Wenn dieses entlastet ist von allem Politischen und Militärischen, so wird es seine Angelegenheiten rein so entfalten, wie es diesen einzig und allein angemessen ist, nämlich opportunistisch. Die Verwaltungsbeamtenschaft dieser wirtschaftlichen Angelegenheiten, innerhalb deren Gebiet auch die gesamte Zollgesetzgebung liegt, ist unmittelbar nur dem Wirtschaftsparlamente verantwortlich.

3. Alle juristischen, pädagogischen und geistigen Angelegenheiten werden in die Freiheit der Personen gegeben. Auf diesem Gebiete hat der Staat nur das Polizeirecht, nicht die Initiative. Es ist, was hier gemeint ist, nur scheinbar radikal. In Wirklichkeit kann sich nur derjenige an dem hier gemeinten stoßen, der den Tatsachen nicht unbefangen ins Auge sehen will. Der Staat überlässt es den sach-, berufs- und völkermäßigen Korporationen, ihre Gerichte, ihre Schulen, ihre Kirchen und so weiter zu errichten, und er überlässt es dem einzelnen, sich seine Schule, seine Kirche, seinen Richter zu bestimmen. Natürlich nicht etwa von Fall zu Fall, sondern auf eine gewisse Zeit. Im Anfange wird dies wohl durch die territorialen Grenzen beschränkt werden müssen, doch trägt es die Möglichkeit in sich, auf friedlichem Wege die nationalen Gegensätze - auch andere - auszugleichen. Es trägt sogar die Möglichkeit in sich, etwas Wirkliches zu schaffen an Stelle des schattenhaften Staaten-Schiedsgerichts. Nationalen oder anderweitigen Agitatoren werden dadurch ihre Kräfte ganz genommen. Kein Italiener in Triest fände Anhänger in dieser Stadt, wenn jedermann seine nationalen Kräfte in ihr entfalten könnte, trotzdem aus selbstverständlichen opportunistischen Gründen seine wirtschaftlichen Interessen in Wien geordnet werden, und trotzdem sein Gendarm von Wien aus bezahlt wird.«

Auch in seinem von Zander herangezogenen Vortrag vom 14. November 1917 sprach er von diesen drei Sphären:

»Drei soziale Lebensgebiete treten einem entgegen. Das erste soziale Lebensgebiet, das dem Menschen entgegentritt und auf das das Anwendung findet, was ich eben charakterisiert habe, das ist das ökonomische Gebiet ...

Ein zweites Gebiet des sozialen Lebens ist das moralische, die moralische Struktur, der moralische Impuls, der sich in einer Gesamtheit auslebt. Wieder taucht man hinunter in alle möglichen unbewussten Gebiete, wenn man jene Impulse erforschen will, die in den menschlichen moralischen – im weitesten Sinne moralischen – Aspirationen zutage treten ...

Und weiter: ein drittes Gebiet, das uns im sozialen Leben entgegentritt, ist dasjenige, das wir das Rechtsleben benennen. Aus ökonomischem, moralischem und Rechtsleben besteht im wesentlichen die soziale Struktur einer Gesamtheit ...« (GA 73, 14.11.1917)

Das ökonomische und das rechtliche Gebiet bieten keinerlei Anlass für Missverständnisse, das moralische schließt hier alle individuellen geistigen Impulse des Menschen ein, die sich in einer Gesamtheit ausleben. Zu diesen moralischen Impulsen gehören die religiösen, wissenschaftlichen, pädagogischen Motive und Triebfedern, kurz, die Gesamtheit des geistigen Lebens einer Gesamtheit von Menschen.

Die Zusammenfassung, die Zander bietet kann man nur als krud und verworren bezeichnen. Nirgends unterscheidet Steiner ein »ökonomisches, ein unbewusstes und ein moralisches Gebiet, das wiederum das Rechtsleben« einschlösse. Stattdessen spricht er von einem ökonomischen Gebiet, einem moralischen – in dem auch unbewusste Gebiete erforscht werden müssen, die in moralischen Aspirationen zu tage treten – und einem davon unabhängigen Rechtsleben.

Gebetsmühlenhaft kaut Zander auch gegenüber der Dreigliederungsidee seine zwei bis drei Grundgedanken der Steinerkritik wieder, die er auf alles anwendet, was irgendwie auf Steiner Bezug hat. So ist es nicht verwunderlich, dass er auch die soziale Dreigliederung mit dem Autoritarismusverdacht überzieht.

Auf S. 353-354 schreibt Zander:

» ... in den ›Kernpunkten‹ positionierte er ... die Vorstellung der Gesellschaft als eines ›sozialen Organismus‹, der ›soll er gesund sein, ebenso dreigliedrig sein muss wie der natürliche Organismus‹. Sein muss? Wie so oft, ist das Hilfsverb ›müssen‹ bei Steiner verräterisch, denn es unterstellt eine Einsicht, über die man nicht mehr verhandeln kann ...

Mit analytischen Begründungen für seine Politiktheorie tat sich Steiner schwer ... Die Struktur der Gesellschaft war für Steiner kein Gegenstand einer Aushandlung, sondern eine Sache des Wissens um richtig und falsch, um gesund und krank. Aber organische Konzepte tendieren ohnehin zu autoritären Festlegungen der Herrschaftsausübung: Ich kann ja gerade nicht darüber entscheiden, ob die Hand denkt oder der Kopf. Soziale Organismen sind üblicherweise hierarchische Körper.«

Zander möchte also darüber verhandeln bzw. selbst entscheiden, ob die Hand denkt oder der Kopf. Offenbar denkt bei ihm weder das eine noch das andere. Offensichtlich schreibt bei ihm die Hand, ohne dass der Kopf denkt. Offen gesagt, begeben wir uns lieber in die Hand Rudolf Steiners, der weiß, wovon er redet und Hand und Kopf zu unterscheiden vermag, auch wenn Zander meint, dieser schränke seine Freiheit ein, weil er ihm nicht das Recht einräume, darüber zu entscheiden, ob er lieber seine Hand oder seinen Kopf denken lassen will. Unseretwegen kann Zander auch mit seinem A ... denken – Hauptsache er fängt überhaupt irgendwann einmal an zu denken!

Was kann man von einer Gestaltungsidee, einer regulativen Idee anderes erwarten, als dass sie ein Sollen oder Müssen formuliert? Es geht ja gerade darum, die soziale Wirklichkeit zu gestalten, nicht um die Frage, wie sie möglicherweise beschaffen ist. Und wie soll eine Gesellschaft autoritäre Herrschaft ermöglichen, die gerade diese autoritäre Herrschaft durch ihre Gliederung ein für allemal unmöglich macht, indem sie das geistig-kulturelle Leben in die Freiheit stellt, es der Herrschaft des Staates oder der Wirtschaft entzieht und andererseits ebenso die Wirtschaft wie das Rechtsleben in die Selbstständigkeit entlässt? Wenn sich das freiheitlich organisierte geistige Leben einer Gesellschaft selbst verwaltet, wenn sich deren Wirtschaftsleben brüderlich selbst verwaltet und wenn sich das Rechts- und Staatsleben demokratisch organisiert, ohne in die Kultur oder die Wirtschaft hineinzuregieren? Wenn darüberhinaus jeder Angehörige dieser Gesellschaf an allen drei Bereichen dieser Gesellschaft nach Maßgabe seiner individuellen Fähigkeiten und allgemeinen Rechte teilhat oder teilhaben kann? Nachdem einmal die regulativen Ideen dieser Gesellschaftsbereiche erkannt sind, kann es nur noch darum handeln dass die Menschen, die in ihnen wirken, deren konkrete Ausgestaltung miteinander auszuhandeln, nach den Verfahren, die sich aus deren regulativen Ideen ergeben.

Nicht um autoritäre Herrschaft geht es in der Idee der Dreigliederung, sondern um den Abbau dieser autoritären Herrschaft!

Einen weiteren Topos aus dem polemischen Diskurs gegen die Esoterik reproduziert Zander, wenn er Steiner eine geheime Verschwörung zur Errichtung einer Diktatur der Eingeweihten (!) unterstellt. Bedenkt man Zanders akademischen Bildungshintergrund, liegt der Gedanke nahe, in diesem Vorwurf eine Projektion zu sehen.

Auf S. 434 schreibt Zander:

»Denn Steiner hielt das Geistesleben für den ›Kopf‹ und deshalb etwa das ›Eingreifen des Geisteslebens‹ in die Wirtschaft für selbstverständlich ...

Wie radikal er hier letztendlich dachte, hat er in den für die Öffentlichkeit bestimmten ›Kernpunkten‹ nicht preisgegeben. Doch seine Anhänger kannten aus internen Mitgliedsvorträgen längst des Pudels Kern. Schon am 24. November 1918 hatte Steiner Klartext geredet: Es liege ›die Notwendigkeit vor, dass von jenseits der Schwelle gerade die wichtigsten Ideen für das soziale Werden geholt werden‹, dass ›soziale Ideen‹ ›von jenseits der Schwelle herrühren‹ – natürlich – ›müssen‹. Es sollten Menschen mit übersinnlicher Erkenntnis die gesellschafts-politisch relevanten Entscheidungen fällen. Doch misslicherweise werde man ›den Initiierten aus dem Mangel an Vertrauen, das heute der Mensch dem Menschen entgegenbringt, ebene einfach nicht glauben‹.

Wo bleibt aber in dieser Aristokratie der Eingeweihten die Demokratie?«

Endlich, denkt der arglose Leser, hat er ihn am Schlawittchen, diesen Tausendsassa, der auf dem Umweg über die Dreigliederungsidee nicht die Diktatur des Proletariats errichten wollte, sondern die Diktatur der Eingeweihten, also seine eigene Diktatur, weil er sowieso der einzige Eingeweihte war!

Doch bevor wir diesem großartigen Enthüllungsscoop auf den Grund gehen, sehen wir uns die Behauptung an, Steiner habe das Geistesleben für den Kopf der Gesellschaft und deswegen dessen Eingreifen in das Wirtschafsleben für selbstverständlich gehalten.

Steiner sagt wörtlich das Gegenteil: Das Wirtschaftsleben ist der Kopf des sozialen Organismus!

»Wenn man so äußerlich Analogien bilden würde, dann würde man sagen: Wir haben die Dreigliederung des sozialen Organismus und die Dreigliederung des menschlichen Organismus. Der Kopf ist das geistige Organ, also muss man es vergleichen mit dem geistigen Leben des dreigliedrigen Organismus; das rhythmische System, das bringt Einklang zwischen den verschiedenen Funktionen als Herztätigkeit, als Atmungstätigkeit – also Rechtsteil des sozialen Organismus; den Stoffwechsel, das Gröbste, Materiellste, dasjenige, worauf der Mystiker mit einer gewissen Verachtung herabsieht, trotzdem auch er erklärt, dass er essen und trinken muss, den vergleicht man mit dem wirtschaftlichen Leben. Das ist aber nicht so!

Ich habe öfter darauf aufmerksam gemacht bei andern Gelegenheiten, dass die Dinge eben in Wirklichkeit anders liegen, als man nach bloßen Analogien glaubt, dass man zum Beispiel nicht sagen kann, die Sommerzeit lasse sich mit dem Wachzustand der Erde vergleichen und die Winterzeit mit dem Schlafzustand. Die Wahrheit ist eine andere. Im Sommer schläft die Erde, im Winter wacht sie.

Das habe ich ja in seinen Einzelheiten ausgeführt.

Aber so ist es auch, wenn man auf die Wirklichkeit und nicht auf Analogien geht, bei dem Vergleichen des sozialen Organismus mit dem menschlichen Organismus. Da muss man vergleichen just das Wirtschaftsleben im sozialen Organismus mit der menschlichen Kopftätigkeit; dasjenige, was Rechtsleben ist, das muss man allerdings – weil es das Mittlere ist, so haben sich die Leute auch nicht geirrt bei der Analogie – mit der rhythmischen Tätigkeit vergleichen. Aber das Geistesleben, das muss man vergleichen mit dem Stoffwechsel. Also das Wirtschaftsleben ist zu vergleichen mit den geistigen Organen, das geistige Leben im sozialen Organismus mit den Stoffwechselorganen. Da hilft nichts.

Das Wirtschaftsleben ist der Kopf des sozialen Organismus, und das geistige Leben ist Magen, Leber und Milz für den sozialen Organismus, nicht für den einzelnen individuellen Menschen. Das ist natürlich wieder viel zu unbequem, wenn man in spanischen Stiefeln steckt, dass man zu unterscheiden hat das soziale Leben und das Leben des einzelnen, des individuellen Menschen.

Hier kommt es abermals darauf an, durch Geisteswissenschaft vorbereitet auf die Wirklichkeit hinzusehen und nicht Analogien und vertrackte Symbolistik zu treiben. Dann kommt man schon auf mancherlei wichtige Dinge. Man kommt zum Beispiel darauf, dass man sich sagen kann: Ja, dann aber muss ja das Wirtschaftsleben, wenn es eigentlich der Kopf ist im sozialen Organismus, so wie der menschliche Kopf von dem übrigen Organismus zehren. Dann kann man nicht sagen, Sittlichkeit, Erkenntnis, religiöses Leben sei eine Ideologie, die aufsteigt aus dem Wirtschaftsleben. Nein, ganz im Gegenteil!

Das Wirtschaftsleben ist etwas, was abhängt von dem geistigen Leben, vom Stoffwechsel des sozialen Organismus, wie der menschliche Kopf abhängt vom Atmen, von Magen und Leber und Milz. Dann kommt man darauf, einzusehen, dass das Wirtschaftsleben dasjenige ist, was aufsteigt aus dem geistigen und religiösen Leben. Wenn der Mensch keinen Magen hätte, könnte er keinen Kopf haben. Gewiss könnte er auch keinen Magen haben, wenn er keinen Kopf hätte, aber schließlich wird der Kopf vom Magen genährt, und ebenso wird unterhalten das Wirtschaftsleben vom geistigen Leben und nicht umgekehrt.

Daher ist das ein Irrwahn, ein furchtbarer Aberglaube, der heute sich als sozialistische Theorie über die ganze zivilisierte Welt zu verbreiten droht, weil niemand darauf bedacht war in den letzten Jahrhunderten, die Wahrheit zu erforschen, sondern jeder nur aus den Emotionen heraus dasjenige als Wahrheit verkündigte, was ihm nach seiner Klasse und nach seinem Standpunkt angemessen war.

Jetzt erst sieht man ein, welcher Irrwahn es ist, die Produktionsverhältnisse als die Grundlage für das geschichtliche Geschehen anzusehen. Denn man kommt jetzt darauf, wirklich die Tatsachen zu vergleichen, nicht Analogien zu verbreiten. Man schaut jetzt in der richtigen Weise hin und sieht ein, dass, wenn der Stoffwechsel untergraben wird im menschlichen Organismus, der Kopf leidet, dass also jedes Mal, wenn das Ethische, das Religiöse, das Erkenntnisleben untergraben wird, im sozialen Organismus nicht ein gesunder Stoffwechsel wirkt und das Wirtschaftsleben dann zugrunde gehen muss. Vom Wirtschaftsleben hängt gar nichts ab, sondern primär hängt alles ab von Anschauungen, von Ideen, von dem geistigen Leben der Menschen.

Und so wie unser Kopf eigentlich fortwährend stirbt – ich habe das in andern Vorträgen ausgeführt –, so wie wir unseren Kopforganismus nur dadurch unterhalten, dass er in fortwährendem Absterben ist, gegen das sich der übrige Organismus auflehnt, so ist es mit dem Wirtschaftsleben. Das Wirtschaftsleben ist dasjenige, welches den geschichtlichen Fortgang der Menschheit fortwährend zum Absterben bringt, das nicht etwa das übrige aus sich hervortreibt, sondern nur den Tod von allem hervorbringt.

Und dieser Tod muss fortwährend wieder ausgeglichen werden durch dasjenige, was im geistigen Organismus hervorgebracht wird. Also gerade das Umgekehrte ist wahr. Wer im materialistischen Sinne behauptet, das Wirtschaftsleben sei die Grundlage von dem, was fortschreitet, sagt nicht das Wahre. Die Wahrheit ist, daß das Wirtschaftsleben die Grundlage dessen ist, was immer wiederum in Etappen abstirbt und dessen Absterben vom Geiste aus ausgeglichen werden muss. So vorzugehen, wie jetzt in Rußland vorgegangen wird, bedeutet, der Welt zum Absterben zu verhelfen. Es gibt keine andere Möglichkeit, wenn man in dieser Weise fortarbeitet, als der Welt zum Absterben zu verhelfen, aus dem einfachen Grunde, weil in dem, was man da verrichtet,  die Gesetzmäßigkeit des Absterbens drinnen  liegt.« (GA 197, Stuttgart, 24. Juni 1920, S. 83 f.)

Damit erledigt sich auch der zweite Teil des Zanderschen Irrwahns (»und deshalb das ›Eingreifen des Geisteslebens‹ in die Wirtschaft für selbstverständlich.«)

Doch wie verhält es sich mit der Verschwörung, eine Diktatur der Eingeweihten mit Hilfe des trojanischen Pferdes der Dreigliederung zu errichten?

Dazu müssen die Ausführungen Steiners, auf die Zander sich beruft, näher betrachtet werden. In der Tat ist Steiner der Auffassung, dass die Dinge und Wesenheiten, die jenseits der Schwelle des Alltagsbewusstseins liegen, nur von jemandem erforscht werden können, der diese Schwelle überschreitet. Wer die Biodiversität des Amazonasgebietes erforschen will, muss sich in dieses Amazonasgebiet begeben. Wenn er aber von seinen Forschungen berichtet und diese in eine verständliche Sprache kleidet, dann kann jeder sie verstehen. Er kann sogar aus seinen Beobachtungen Gesetze ableiten, die jeder verstehen kann, der diese Gesetze denkend nachzuvollziehen vermag.

Ebenso verhält es sich mit den Geheimnissen von jenseits der Schwelle. Diejenigen, die sie erforschen, werden sie in eine verständliche Sprache übersetzen und sofern dies geschieht, können sie auch verstanden werden. Und wer sich seines Verstandes bedient, kann diese Ideen nicht nur verstehen, er kann sie auch überprüfen.

»Diejenigen«, so Steiner, »die aus der Initiation etwas wissen über soziale Ideen«, haben die Verpflichtung, »diese sozialen Ideen der Menschheit mitzuteilen, und die Menschheit wird sich entschließen müssen dazu, über die Sache nachzudenken. Und durch Nachdenken, bloß durch Nachdenken mit Hilfe des gesunden Menschenverstandes, wird schon das Richtige herauskommen.« Nicht mehr also ist nötig, als über die sozialen Ideen – beispielsweise die Idee der sozialen Dreigliederung – nachzudenken. Entscheiden müssen die Menschen, die diese Ideen mit ihrem gesunden Menschenverstand prüfen, was sie damit anfangen wollen.

Bereits 1905 hat Steiner in seinem Aufsatz »Theosophie und soziale Frage« eine solche vollkommen nachvollziehbare Idee veröffentlicht, das sogenannte soziale Hauptgesetz:

»›Das Heil einer Gesamtheit von zusammenarbeitenden Menschen ist um so größer, je weniger der einzelne die Erträgnisse seiner Leistungen für sich beansprucht, das heißt, je mehr er von diesen Erträgnissen an seine Mitarbeiter abgibt, und je mehr seine eigenen Bedürfnisse nicht aus seinen Leistungen, sondern aus den Leistungen der anderen befriedigt werden.‹« Alle Einrichtungen innerhalb einer Gesamtheit von Menschen, welche diesem Gesetz widersprechen, müssen bei längerer Dauer irgendwo Elend und Not erzeugen. –

Dieses Hauptgesetz gilt für das soziale Leben mit einer solchen Ausschließlichkeit und Notwendigkeit, wie nur irgendein Naturgesetz in bezug auf irgendein gewisses Gebiet von Naturwirkungen gilt.« (GA 34, hier unter dem Titel Geisteswissenschaft und soziale Frage)

Was hat all dies mit der Errichtung einer Diktatur der Eingeweihten zu tun?

Die Ausführungen Steiners im Zusammenhang:

»Ich möchte sagen, in ihrer Urgestalt können die Dinge und Wesenheiten, die jenseits der Schwelle liegen, eben nur von demjenigen beobachtet werden, der diese Schwelle überschritten hat. Aber dieses Überschreiten der Schwelle ist ja ein wichtigstes Ereignis des persönlichen Lebens. Es ist auch ein Ereignis des persönlichen Lebens, das in ein besonderes Licht rückt, wenn man es, wie ich jetzt eben getan habe, in so nahe Beziehung zu bringen hat zu der sozialen Frage. Die soziale Frage, das deutet schon ihr Name an, ist eine Sache von Menschengruppen, Menschenzusammenhängen; das Geheimnis der Schwelle ist eine Sache der Individualität. Man kann sagen: Niemand ist eigentlich unmittelbar in der Lage, wenn er das Geheimnis der Schwelle kennt, es einem andern unmittelbar mitzuteilen. ...

So ist in gewisser Beziehung das Geheimnis der Schwelle individuelle Sache eines jeden einzelnen Menschen, und dennoch liegt die Notwendigkeit vor, dass von jenseits der Schwelle gerade die wichtigsten Ideen für das soziale Werden geholt werden. Heute ist es ja überhaupt mit dem Geheimnis der Schwelle so eine eigene Sache, denn heute ist wenig Vertrauen von Mensch zu Mensch. Das ist ja etwas, was furchtbar geschwunden ist unter den Menschen, das Vertrauen von Mensch zu Mensch, und es stünde um unser soziales Leben ganz anders, wenn nur ein wenig größeres Vertrauen von Mensch zu Mensch vorhanden wäre ...

Es wäre, wie Sie daraus ersehen können, diese Sache eine ziemlich hoffnungslose, wenn nicht etwas anderes der Fall wäre. Denn man könnte sagen: Also kann zum Beispiel die soziale Frage überhaupt nur von Initiierten gelöst werden. – Man wird aber den Initiierten aus dem Mangel an Vertrauen, das heute der Mensch dem Menschen entgegenbringt, eben einfach nicht glauben ...

Und wäre nicht etwas anderes der Fall, so wäre wirklich jene Hoffnungslosigkeit berechtigt, von der ich Ihnen gesprochen habe ...

Es ist ja heute so, dass dasjenige, was sozial fruchtbar ist an Ideen, eigentlich nur gefunden werden kann von den wenigen Menschen, welche sich gewisser spiritueller Fähigkeiten bedienen können, die die weitaus überwiegende Mehrzahl der Menschen heute nicht gebrauchen will, trotzdem sie in jeder Seele liegen ...

Aber diese wenigen, die werden sich die Aufgabe setzen müssen, dasjenige, was sie herausholen aus der geistigen Welt gerade mit Bezug auf soziale Ideen, mitzuteilen. Sie werden es übersetzen in die Sprache, in die eben die geistigen Wahrheiten, die in einer anderen Gestalt jenseits der Schwelle geschaut werden, übersetzt werden müssen, wenn sie populär werden sollen. Sie können populär werden, müssen aber zuerst in eine populäre Sprache übersetzt werden ...

Derjenige, der sich wirklich seines gesunden Verstandes, nicht des wissenschaftlich verdorbenen, aber des gesunden Menschenverstandes bedienen will, der kann jederzeit, wenn er auch nicht finden kann dasjenige, was nur der Initiierte finden kann, er kann es prüfen, er kann es am Leben erproben, und er wird es einsehen können, nachdem es gefunden ist. Und diesen Weg werden für die nächste Zeit die sozial fruchtbaren Ideen zu nehmen haben. Anders wird man nicht vorwärtskommen. Diesen Weg werden die sozial fruchtbaren Ideen zu nehmen haben. Sie werden da und dort auftreten. Man wird zunächst selbstverständlich, solange man nicht geprüft hat, solange man nicht seinen gesunden Menschenverstand darauf angewendet hat, jeden beliebigen marxistischen Gedanken mit einem Gedanken der Initiation verwechseln können. Aber wenn man vergleichen wird, nachdenken wird, wirklich den gesunden Menschenverstand auf die Dinge anwenden wird, dann wird man schon zu der Unterscheidung kommen, dann wird man schon einsehen, dass es etwas anderes ist an Wirklichkeitsgehalt, was aus den Geheimnissen der Schwelle von jenseits der Schwelle hergeholt wird, als dasjenige, was ganz aus der Sinnenwelt herausgeholt ist wie zum Beispiel der Marxismus ...

Diejenigen, die aus der Initiation etwas wissen über soziale Ideen, werden die Verpflichtung haben, diese sozialen Ideen der Menschheit mitzuteilen, und die Menschheit wird sich entschließen müssen dazu, über die Sache nachzudenken. Und durch Nachdenken, bloß durch Nachdenken mit Hilfe des gesunden Menschenverstandes, wird schon das Richtige herauskommen. Das ist so außerordentlich wichtig, dass das, was ich eben jetzt gesagt habe, wirklich angesehen werde als eine fundamentale Lebenswahrheit für die nächsten Zeiten, unmittelbar von der Gegenwart schon angefangen! ...

Man kann so etwas sagen; wenn die Menschen es nicht prüfen wollen, so werden sie es einfach nicht glauben. Aber an dem Unglauben an solche Dinge hängt das furchtbare Geschick der Gegenwart. Das ist ein solcher Richtsatz, den aufzunehmen außerordentlich wichtig ist für die Gegenwart und die nächste Zukunft.

Einen anderen Richtsatz finden Sie in der angefangenen Abhandlung über ›Theosophie und soziale Frage‹, die ich vor Jahren in ›Lucifer-Gnosis‹ veröffentlicht habe, einen Richtsatz, von dem ich mich überzeugt habe, dass er von den wenigsten Menschen mit dem vollen Gewicht genommen wird.

Ich habe da auf etwas aufmerksam zu machen versucht, was als ein soziales Axiom wirken soll. Darauf habe ich aufmerksam gemacht, dass schon einmal in jeglicher sozialer Struktur nichts Gedeihliches herauskommen kann, wenn das Verhältnis eintritt, dass der Mensch für seine unmittelbare Arbeit entlohnt wird. Soll eine gedeihliche soziale Struktur herauskommen, so darf das nicht sein  ... dass der Mensch bezahlt wird für seine Arbeit. Die Arbeit gehört der Menschheit, und die Existenzmittel müssen den Menschen auf anderem Wege geschaffen werden als durch Bezahlung seiner Arbeit. ...

Das ist es, was das notwendigste soziale Prinzip ist, dass das Erträgnis der Arbeit von der Beschaffung der Existenzmittel völlig getrennt wird, wenigstens auf einem gewissen Gebiete des sozialen Zusammenhangs. Solange nicht diese Dinge klar durchschaut werden, solange kommen wir zu nichts Sozialem ...

Denn gerade der Arbeitsertrag muss von der Beschaffung der Existenzmittel in einer gesunden sozialen Ordnung völlig getrennt werden. ... Und kein Ideal des sozialen Zusammenhanges, sondern der Widerpart des sozialen Zusammenhanges ist es, wenn dieser soziale Zusammenhang so ist, dass der Mensch nicht arbeitet für die Gesellschaft, sondern für sich. Das ist die Übertragung des unegoistischen Prinzips auf die soziale Ordnung.« (GA 185a, Dornach, 24.11.1918)