Zander unterstellt Steiner ein vollständiges Unverständnis von Demokratie. Trotz gewisser Einsprengsel demokratischer Verfahren in die Dreigliederung, sei es ihm um die Herrschaft der Eingeweihten gegangen. Ja, er rückt ihn sogar in die Nähe eines anderen Führers.

Auf S. 355 schreibt er:

»Letztlich hat er [Steiner] nie Erfahrungen mit funktionierenden demokratischen Verfahren gemacht. Und so nimmt es nicht wunder, dass er als autoritärer Führer die und später die Anthroposophische Gesellschaft regierte, und vor diesem Hintergrund ist auch klar, warum er hoch über der Dreigliederung mit den Einsprengseln demokratischer Verfahren die Eingeweihten thronen ließ.«

Nimmt man die Dreigliederungsidee wirklich Ernst, versteht man sie auch nur halbwegs, dann ist klar, dass es keine Sphäre »hoch über der Dreigliederung« geben kann.

Die Idee der Dreigliederung ist eine Organisationsidee, die das geistige Leben der Gesellschaft befreit. Alles, was an religiösem, wissenschaftlichem, pädagogischem, künstlerischem Leben sich in diesem Gebiet einer Gesellschaft abspielt, ist der regulativen Idee der Freiheit unterstellt. Auch die Tätigkeit möglicher »Eingeweihter« wäre in dieses Gebiet des geistigen Lebens einzuordnen – zum Beispiel die von Steiner gegründete Freie Hochschule für Geisteswissenschaft – das den anderen Gebieten – der Wirtschaft und dem Recht – nicht übergeordnet, sondern nebengeordnet ist.

In diesem geistig-kulturellen Leben gilt das Prinzip der Konkurrenz der Ideen, die sich in den Wettbewerb der Anerkennung stellen müssen. Das geistige Leben einer Gesellschaft stellt sich mithin als vielstimmiger, pluralistischer Diskurs dar, in dem die mögliche Stimme eines Eingeweihten nur eine unter vielen Stimmen ist.

»Das, was geistiges Leben ist, muss mit einer relativen Selbständigkeit dastehen, muss nicht nur auf die innere Freiheit des Menschen gestellt sein, sondern es muss so innerhalb des sozialen Organismus dieses geistige Leben stehen, dass es auch in völlig freie Konkurrenz gestellt ist, dass es auf keinem Staatsmonopol beruht, dass dasjenige, was das geistige Leben als Geltung sich verschafft bei den Menschen – was es für den einzelnen individuellen Menschen für eine Geltung hat, das ist eine andere Sache, wir reden von der Gestaltung des sozialen Organismus – dass das auf völlig freier Konkurrenz, auf völlig freiem Entgegenkommen den Bedürfnissen der Allgemeinheit einzig und allein sich offenbaren kann.

Mag irgend jemand in seiner Freizeit dichten, so viel er will, mag er auch Freunde finden für diese Dichtung, so viel er will – das, was berechtigt ist im geistigen Leben, ist allein das, was die anderen Menschen miterleben wollen mit der einzelnen menschlichen Individualität. Das aber wird auf eine gesunde Basis nur gestellt, wenn man alles geistige Leben, alles Schul- und Universitätsleben, alles Erziehungsleben und alles Kunstleben des staatlichen Monopolisierungscharakters entkleidet und auf sich selbst stellt – wie gesagt, nicht von heute auf morgen. Die Richtung ist damit angegeben, wenn man den Menschen auf sich selbst stellt. Damit wird die Brücke geschlagen zu etwas anderem.

Ich habe mich bereits im Anfange der neunziger Jahre bemüht, in meiner ›Philosophie der Freiheit‹, die jetzt ihre Neuauflage erlebt hat, vielleicht gerade zur rechten Zeit, zu zeigen, wie das, was das wirkliche Freiheitserlebnis im Menschen ist, niemals beruhen kann auf etwas anderem als auf dem wirklichen, in die Seele des Menschen hereinspielenden Geistesleben. Ich nannte das dazumal das Hereinspielen der Intuition in die Menschenseele, das Hereinspielen des wirklichen Geistigen. Dieses wirkliche Geistige muss in der Menschenseele in dem Lichte der Freiheit und der freien Konkurrenz geboren werden, dann lebt es sich in der richtigen Weise in den sozialen Organismus hinein. Dann darf es aber auch nicht, und das ist wichtig, unter irgendeinem Aufsichtsrecht irgendeines anderen Gliedes des sozialen Organismus stehen, dann muss es in völliger Freiheit, nur herausgefordert durch die allgemeinen Bedürfnisse, sich offenbaren können.« (GA 328, Zürich, 10. Februar 1919).

Wie hielt es Steiner mit der Demokratie, lehnte er sie ab, bejahte er sie? Da die Demokratie ein konstitutives Prinzip der Dreigliederung ist, ohne das sie nicht gedacht werden kann, stellt die Behauptung, sie sei lediglich »ein Einsprengsel«, eine glatte Lüge dar. Sehen wir uns ein Beispiel an.

»Eine historische Forderung ist der Sozialismus, er muss nur im richtigen Sinne verstanden werden. Eine historische Forderung ist die Demokratie, eine historische Forderung ist aber auch der Liberalismus, die Freiheit, der Individualismus, wenn auch diese letztere Forderung von der modernen Menschheit wenig bemerkt wird. Und die Menschheit wird nicht weiter mitreden können, ohne dass sie ihren sozialen Organismus im Sinne der Dreigliederung: des Sozialismus für das Wirtschaftsleben, der Demokratie für das Rechts- oder Staatsleben, der Freiheit oder des Individualismus für das Geistesleben einrichtet.

Das wird angesehen werden müssen als das einzige Heil, als die wirkliche Rettung der Menschheit

In der Demokratie liegt das Heil, die Rettung der Menschheit! Allerdings nicht in demokratischen Verfahren, in die alles wie in einen Einheitsbrei getunkt ist, sondern im demokratischen Prinzip, insofern es auf dem richtigen Lebensgebiet zur Entfaltung kommt.

»Die erwachsenen Menschen werden in einem sozialen Organismus leben müssen, der wirtschaftlich sozial, staatlich demokratisch, geistig liberal aufgerichtet wird sein müssen.« (GA 296, 9. August 1919)

Ein zweites Beispiel, das nicht nur die Geltung des demokratischen Prinzips verdeutlicht, sondern auch die Behauptung ad absurdum führt, Steiner hätte eine »Herrschaft der Eingeweihten« über den Staat angestrebt. »Eingeweihte«, Priester, Pädagogen, die ihre kulturell schöpferische Tätigkeit im Gebiet des freien Geistesleben entfalten, verwalten ihre Aktivitäten gemäß dem Prinzip der Freiheit. Aber »unmöglich« ist es aus Steiners Sicht, in das demokratisch-politische Gebiet dieses »Geistesleben als solches hineinzutragen«.

»Man konnte gar nicht anders innerhalb der Menschheit, als den Ruf ertönen lassen nach Demokratie. Was man auch für Ideale hingestellt hat, im äußeren sozialen Leben, das Ideal der Demokratie, das ist dasjenige, das am allermeisten die Menschheit der Gegenwart ergriffen hat, und auch ergreifen muss. Es muss dasjenige, was Staat ist, demokratisch werden, demokratisch werden im weitesten Umfange. Gerade in der Schweiz sollte man so etwas empfinden, wo man ja die alte Demokratie hat, aber wo man auch wahrnehmen wird nach und nach die Notwendigkeit, diese Demokratie von gewissen Gebieten zu entlasten.

Was heißt denn Demokratie? Demokratie heißt: die Möglichkeit, dass die Menschen in bezug auf dasjenige, was für alle gleiche Angelegenheiten sind, was für jeden mündig gewordenen Menschen Angelegenheit des Lebens ist, dass darüber die Menschen, sei es durch Referendum, sei es durch Vertretung, selber entscheiden. Das ist zuletzt das Ideal der Demokratie, das gleiche unter den Menschen in bezug auf die Entscheidungen jetzt alles desjenigen, was von mündig gewordenen Menschen gleich ist – nach diesem strebte der Staat.

Aber was strebte der Staat, der sich eben im Laufe der Geschichte entwickelt hat, der aus ganz anderen Verhältnissen hervorgegangen ist, bloß an?

Zwei Gebiete können niemals im Menschenleben demokratisch entschieden werden: das eine Gebiet ist dasjenige des Geisteslebens und das andere Gebiet ist dasjenige des Wirtschaftslebens.

Gerade, wer es ehrlich meint mit der Demokratie, der muss sich klar darüber sein: Wenn volle Demokratie werden soll, dann muss aus dem Gebiete des bloß demokratischen Staates ausgesondert werden auf der einen Seite das Geistesleben, auf der anderen Seite das Wirtschaftsleben.

Wer beobachten kann auf diesem Gebiete, der kann an naheliegenden Beispielen einsehen, wie unmöglich es ist, in das demokratisch politische Gebiet das Geistesleben als solches hineinzutragen. Ich will nicht von den hiesigen Verhältnissen sprechen, das kommt mir nicht zu; aber es geht ja gar nicht, diese Verhältnisse nur von einem kleinen Gesichtspunkte heute ins Auge zu fassen, sondern man muss die ganze Welt überblicken, die ganze zivilisierte Welt wenigstens.

Sehen Sie sich aber den ehemaligen, bis zum Jahre 1914 und darüber hinaus scheinbar bestandenen deutschen Reichstag an, so haben Sie so recht das Beispiel, wie sich der Staat – ob er nun mehr oder weniger demokratisch ist, darauf kommt es nicht an in diesem Falle – überladen hat mit rein geistigen Angelegenheiten. Sie haben unter den Parteien des deutschen Reichstags eine sehr große Partei gehabt, das sogenannte Zentrum. Es spielt gegenwärtig wiederum in jener Metamorphose des alten Reichstags, die man Nationalversammlung nennt, eine Rolle, das Zentrum. Dieses Zentrum hat keine anderen Interessen gehabt, als lediglich religiöse, das heißt geistige Angelegenheiten. Kam irgendeine wirtschaftliche, kam eine politische Frage in Betracht, so wurde sie entschieden durch irgendeinen Kompromiss, den man von dem Zentrum aus mit anderen Parteien schloss. Aber es ist ganz selbstverständlich, dass dieses Zentrum immer nur das Interesse hatte, seine eigenen geistigen Interessen zu fördern. Kurz, führt man den Gedankengang zu Ende, so zeigt es sich, dass dasjenige, was nur geistige Angelegenheit ist, nicht hineingehört in das politische Parlament.

Nehmen Sie das Wirtschaftsleben ...

Da dachte man auch in Österreich ein Parlament zu machen. Aber wie machte man dieses Parlament? Man machte vier Kurien: die Kurie der Städte, die Kurie der Länder, der Gemeinden, die Kurie der Großgrundbesitzer – lauter Wirtschaftskurien, Wirtschaftsassoziationen wurden gemacht, und in das politische Parlament hineingewählt. Die entschieden dann von ihrem wirtschaftlichen Gesichtspunkte aus über dasjenige, was öffentliches Recht sein sollte. Da haben Sie das andere Beispiel!

An dem deutschen Reichstag haben Sie das Beispiel, wie sich eine rein Geistiges erstrebende Partei als ein Störenfried entpuppt im rein wirtschaftlichen Parlament. In Österreich haben Sie ein Parlament aufgebaut auf reinen wirtschaftlichen Kurien, und wer beobachten konnte die Verhältnisse, der weiß, dass dieses Parlament niemals imstande war, dasjenige zu bewältigen, was zum Beispiel gerade in Österreich notwendig gewesen wäre: die geistigen Verhältnisse, insoferne sie sich kundgegeben haben in den weltlichen Verhältnissen der Nationalitäten, zu regeln ...

Immer ehrlicher und ehrlicher müssen die Menschen im Streben nach Demokratie werden. Dann aber muss das demokratische Prinzip sich beschränken auf das bloße  Staatsprinzip, in dem jeder Mensch über alles, was alle mündig gewordenen Menschen angeht, in gleicher Weise zu entscheiden hat. Wie gesagt, entweder durch Referendum oder durch Vertretung.

Dann  aber muss ausgesondert werden von diesem Staatsgebilde, von dem, was streng parlamentarisch zu verwalten ist, muss ausgegliedert werden auf der einen Seite das gesamte geistige Leben. Dieses gesamte geistige Leben, es ist ja immer mehr und mehr in den letzten Jahrhunderten in die Macht des Staates gekommen, und noch heute betrachten die meisten Menschen das als einen großen Vorzug der modernen Staatsidee, das Geistesleben, namentlich das Schulwesen, aufzusaugen. Da kämpft man noch sehr gegen die furchtbarsten Vorurteile. Aber man sieht eben in der Welt die Zusammenhänge nicht.« (GA 334, 18. April 1920)

Es kommt darauf an, die drei Organisationsprinzipien der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ihren jeweiligen Lebensbereichen zuzuordnen und sie dort zur Wirksamkeit zu bringen, damit das differenziert gegliederte soziale Leben, an dem jeder Mensch teilhat, sich als Ganzes entfalten kann. Man muss trennen, um das Zusammenwirken zu ermöglichen.

»Das Geistesleben, das seine eigene Verwaltung haben soll – steht nicht jeder Mensch zu diesem Geistesleben, wenn es so, wie ich es geschildert habe, völlig frei sich entwickelt, in einer Beziehung? Er wird in diesem freien Geistesleben erzogen, er lässt wiederum seine Kinder erziehen, er hat seine unmittelbaren geistigen Interessen bei diesem Geistesleben, er ist mit diesem Geistesleben verbunden.

Und dieselben Menschen, die auf diese Weise mit diesem Geistesleben verbunden sind, die ihre Kraft aus diesem Geistesleben ziehen, stehen im Rechts- oder Staatsleben und bestimmen in diesem, was als Rechtsordnung zwischen ihnen wirkt. Sie bestimmen aus dem Geiste heraus, den sie aus diesem Geistesleben aufnehmen, diese Rechtsordnung. Diese Rechtsordnung ist unmittelbar bewirkt durch das, was durch die Beziehung zum Geistesleben erworben wird.

Und wiederum, was von Mensch zu Mensch demokratisch auf dem Boden der Rechtsordnung entwickelt wird, das, was so der Mensch aufnimmt als den Impuls seiner Beziehung zu anderen Menschen, das trägt er, weil es ja wiederum dieselben Menschen sind, die zum Geistesleben Beziehungen haben, im Rechtsleben drinnenstehen und wirtschaften, hinein in das Wirtschaftsleben.

Die Einrichtungen, die er trifft, die Art und Weise, wie er sich mit anderen Menschen assoziiert, die Art und Weise, wie er überhaupt wirtschaftet, das alles ist durchdrungen von dem, was er im Geistesleben ausbildet, was er als Rechtsordnung regelt im Wirtschaftsleben, denn dieselben Menschen sind es, die in dem dreigegliederten sozialen Organismus drinnenstehen, und nicht durch irgendeine abstrakte Ordnung, sondern durch den lebendigen Menschen selber wird die Einheit bewirkt. Nur dass jedes der Glieder seine eigene Natur und Wesenheit durch seine Selbständigkeit sich ausbilden und so gerade in der kraftvollsten Weise zur Einheit wirken kann. Jedes der Glieder kann so wirken, während wir eben sehen können, wie durch die Suggestion des Einheitsstaates gerade das, was im Leben zusammengehört, selbst was so innerlich zusammen- gehört wie Recht und Moral, auseinanderfällt. Also nicht um Zusammengehöriges zu trennen, sondern um Zusammenwirkendes oder dasjenige, was zum Zusammenwirken bestimmt ist, wirklich zum Zusammenwirken zu bringen, macht sich der Impuls für die Dreigliederung des sozialen Organismus geltend.« (GA 332a, 29. Oktober 1919)

Schließlich ein letztes Beispiel:

»Unter den bedeutsamen Fragen, die in der Gegenwart, aus der Weltkriegskatastrophe heraus, die Umwandlung in ganz neue Formen durchmachen, ist die der Demokratie.

Dass Demokratie restlos das Völkerleben durchdringen muss, sollte eine selbstverständliche Erkenntnis für alle sein, die einen offenen Sinn für das geschichtlich Gewordene haben. Die Weltkriegskatastrophe hat die Unmöglichkeit einer Weiterentwickelung alles dessen erwiesen, was der Demokratie widerstrebt. Alles Anti-Demokratische hat sich selbst in die Vernichtung hineingeführt. ...

Für das, was seit drei bis vier Jahrhunderten zum modernen Staate geworden ist, fordert die Menschheit die Demokratie. Soll diese Demokratie wahrhaftige Tatsache werden, dann muss sie auf diejenigen Kräfte der Menschennatur aufgebaut sein, die sich wirklich demokratisch ausleben können. Sollen aus Staaten Demokratien werden, dann müssen diese Einrichtungen sein, in denen die Menschen zur Geltung bringen können, was das Verhältnis eines jeden erwachsenen, mündig gewordenen Menschen zu jedem anderen regelt. Und jeder erwachsene, mündig gewordene Mensch muss gleichen Anteil haben an dieser Regelung. Verwaltung und Volksvertretung müssen so gehalten sein, dass sich in ihnen auslebt, was aus dem Bewusstsein eines Menschen sich ergibt einfach dadurch, dass er ein seelisch gesunder, mündiger Mensch ist.

Die sozialen Verhältnisse, über die jeder mündig gewordene Mensch urteilsfähig ist, sind die Rechtsbeziehungen von Mensch zu Mensch. Es sind dies zugleich diejenigen Lebensverhältnisse, die ihren sozialen Charakter nur dadurch erhalten können, dass sie in demokratischen Einrichtungen sich als ein Gesamtwille aus dem wirklichen Zusammenwirken der gleichen menschlichen Einzelwillen ergeben ...

In der Dreigliederung des sozialen Organismus in ein selbständiges Geistesglied, ein ebensolches Rechtsglied und Wirtschaftsglied liegt die Gesundung dieses Organismus. Die Gliederung wird ja nicht so sein, dass sie die Menschen in drei Stände trennt, sondern so, dass ein Mensch mit seinen gesamtmenschlichen Interessen an allen drei Gliedern teil hat. Es wird die Trennung nur eben so vollzogen sein, dass zum Beispiel im Rechtsorganismus oder im Geistesorganismus nichts zu beschließen sein wird, was aus den Interessen des Wirtschaftskreises entspringt. Im Einheitsstaate, in dem die drei Glieder des Lebens ineinander verfließen, wird eine wirtschaftliche Gruppe ihre Interessen zum Gesetz, zum öffentlichen Recht machen können. In dem dreigliedrigen Organismus wird dies nicht geschehen können, weil wirtschaftliche Interessen nur im Wirtschaftskreislauf sich ausleben können und keine Möglichkeit besteht, sie in das Recht hinüberfließen zu lassen.« (GA 24, »Die Dreigliederung des sozialen Organismus, die Demokratie und der Sozialismus«, Zeitschrift »Soziale Zukunft«, 1. Heft, Juli 1919)

Von besonderer Perfidie durchtränkt ist das Kapitel »Ita Wegman, Liebe bis in den Tod«. Wie Zander hier die Arbeitsbeziehungen – oder auch karmischen Beziehungen – Steiners zu Ita Wegman und Edith Maryon in erotische, ja sogar sexuelle Verhältnisse umdeutet, zeugt von nichts, als seiner verirrten Phantasie. Dabei wechseln sich Unterstellungen und Dementi in wildem Durcheinander ab.

Auf S. 408-414 schreibt Zander:

»Steiners Beschäftigung mit der Medizin endete ... existenziell: in einer Traumgeschichte, die für die einen um Sehnsucht und Liebe kreiste, für die anderen jedoch eine beklagenswerte Affäre der Untreue war. Denn in den letzten Lebensjahren trat erneut eine Frau hautnah in Steiners Leben: Ita Wegman ...

Im Arlesheimer Sanatorium verknüpften sich Medizin und Liebe ...

Es dürfte zwischen den beiden hörbar geknistert haben ...

Steiners Reaktion ist, wie immer in seinen theosophischen Frauenbeziehungen, die eines Übervaters. Vermutlich gibt er Wegman in den ersten Septembertagen, noch in England, Meditationen ... und dabei dürfte es im Verhältnis zu seiner neuen Liebe bis zum Tod geblieben sein ...«

Nichtsdestotrotz heißt es kurz darauf:

»Schon bald ist es ein offenes Ondit, dass die Ärztin und der Doktor ein Verhältnis haben ... Ob Marie von Sivers dahinterstand?«

[Marie von Sivers war seit 1914 mit Rudolf Steiner verheiratet und hieß seitdem Marie Steiner].

»Steiner versucht angestrengt, sein Dreiecksverhältnis zur Normalität zu machen. Er soll Ita Wegman häufig sonntags zum Essen in die Villa Hansi eingeladen haben, in der Hoffnung, dass die Geliebte [sic!] und die Ehefrau sich befrieden würden.«

Damit nicht genug. Zander dichtet Steiner noch eine weitere erotische Liebesaffäre an, und zwar parallel zu jener, die er bereits zu Ita Wegman unterhalten haben soll.

»Am 1. Mai 1924 stirbt Edith Maryon, Steiners künstlerische Muse ... zu der er ebenfalls ein Verhältnis gepflegt haben soll, das zumindest innig und vielleicht auch erotisch eingefärbt war ...

1924, in Steiners letztem Sommer, nimmt die Liebe schwärmerische Züge an. Außenstehende dürften die Hitze des erotischen Feuers nicht gespürt haben, aber die erhaltenen Liebesbriefe ... lassen nur diesen Schluss zu.

...Natürlich stellt sich die Frage, ob aus Erotik körperliche Sexualität geworden ist, – wir wissen es nicht. Es gibt jedenfalls keine Indizien oder Gerüchte, dass Ita Wegman mit Rudolf Steiner auch das Bett geteilt hätte ...

Diese Affäre war im Dornacher Treibhaus nicht mehr geheim zu halten ...

Dieser Ehebruch benötigte eine höhere Legitimation, und die hieß Karma. Denn wenn das Karma schon in einem vergangenen Leben die Beziehungen bestimmt hatte, wenn diese Vergangenheit in der Gegenwart nur noch vollstreckt wurde, dann, ja dann, wurde Steiners Ehebruch zur Notwendigkeit ...

Dass diese karma-erotische Beziehung anthroposophischer Ernst war, musste auch seine Gattin zur Kenntnis nehmen. Am 27. Februar 1925 ... erhielt Marie Steiner in einem Brief schwarz auf weiß ihre Rolle in der Dreiecksbeziehung zugewiesen: ... ›Dass Karma auch andere Personen in meine Nähe bringt, ist eben Karma ... Aber du hast Dich zum Verständnis durchgerungen; das ist ein Segen für mich. Im Urteil zusammenfühlen und -denken kann ich ja doch nur mit Dir.‹«

Sieht man sich die Aussagen an, die Zander hier aneinanderreiht, muss man sich ernsthaft fragen, in welchem Bewusstseinszustand er sich befand, als er diesen Text niederschrieb.

Das Ganze beginnt mit einer »Affäre der Untreue«, geht weiter zu »Meditationen«, bei denen es »im Verhältnis bis zum Tod geblieben« sein dürfte, von da kehrt Zander wieder zum »offenen Ondit« eines »Verhältnisses« zurück, dann besteht ein »Dreiecksverhältnis« und Wegman ist plötzlich Steiners »Geliebte«, daneben unterhält er noch eine weitere erotische Affäre zu Edith Maryon, darauf ist von der »Hitze des erotischen Feuers« die Rede, danach stellt sich die Frage, »ob aus Erotik körperliche Sexualität« geworden ist, nachdem bereits von Untreue, einem Dreiecksverhältnis und einer Geliebten die Rede war, aber es gibt keinerlei »Indizien« oder »Gerüchte« [!!], auf die man die Lüge stützen könnte, Wegman habe mit Steiner das Bett geteilt, was Zander nicht daran hindert, genau dies zu unterstellen, dann ist wieder von einer »Affäre« die Rede (was heißt eigentlich Affäre, wenn nicht ein sexuelles Abenteuer?), dann erneut von Ehebruch (für gewöhnlich versteht man unter »Ehebruch« doch ein außereheliches sexuelles Abenteuer – oder etwa nicht?), schließlich noch einmal von einer Dreiecksbeziehung.

Diese ganz schlüpfrige Geschichte, für die es kein einziges Indiz gibt, erinnert an die sülzigen Ergüsse von Klatschmagazinen, wobei in solchen Ergüssen wenigstens eine konsistente Logik der Kopulationsvermutungen vorwaltet, die nicht von ständigen Dementi konterkariert werden, es sei denn, diese Magazine werden durch die Anwälte der Betroffenen zu solchen Dementis gezwungen.

Was aber soll dieser Klatsch in der Biografie eines Menschen, der nun wirklich alles andere als ein Hallodri war, der selbst noch kurz vor seinem Tod, selbst noch auf seinem Krankenlager, nichts besseres zu tun gehabt haben soll, als »möglicherweise« das Bett mit einer angedichteten Geliebten zu teilen? Und diese stinkende Brühe kompensatorischer Projektionen wird über einen Menschen ausgegossen, von dem Zander an anderen Stellen seines Buches sagt, er habe schon in seiner Jugend lediglich »platonische Beziehungen« zum anderen Geschlecht unterhalten (S. 36) Aber Zander behauptet ja andererseits auch, Steiner habe gelegentlich seine sexuellen Bedürfnisse bei Prostituierten befriedigt.

Die Frage bleibt: Warum? Warum schreibt Zander solches Zeug?

Da Zander selbst sich alle denkbaren Lizenzen erteilt, sei es erlaubt, hier auch einige Vermutungen anzustellen, für die einige Indizien sprechen.

Möglicherweise ist Zander ein sexuell verklemmter Katholik. Vermutlich strebte er ursprünglich eine Priesterlaufbahn an. Diese Laufbahn könnte jedoch an seinem unstillbaren Sexualtrieb gescheitert sein, da Priestern noch immer das Zölibat auferlegt ist. Aber es gibt andere Möglichkeiten »ad maiorem Dei gloriam« zu arbeiten. Man kann Laienbruder werden oder Mitglied im Opus Dei oder für den Jesuitenorden wirken, auch ohne Mitglied dieses Ordens zu sein.

Bereits sein erstes Buch über Anthroposophie, »Reinkarnation und Christentum« könnte Zander im Auftrag des Verbandes Deutscher Diözesen verfasst haben, für deren großzügige finanzielle Hilfe er sich jedenfalls bedankt. Es stellte seinen Befähigungsnachweis für seinen apologetischen Einsatz im Kampf gegen die bedeutendste und wirkungsmächtigste esoterische Strömung des 20. Jahrhunderts dar.

Da die apologetische Absicht dieses Werkes jedoch selbst für seine Auftraggeber zu offenkundig gewesen sein dürfte, und man sich von der Arbeit eines konfessionell ungebundenen Wissenschaftlers eine größere Wirkung erhofft haben wird, könnte man in den Beratungen des Verschwörerkreises im Dunstkreis »deutscher Diözesen« die Entscheidung getroffen haben, Zander inskünftig nicht mehr als katholischen Dogmatiker auftreten zu lassen, sondern als skeptischen, atheistischen »Hardcore-Historiker«. In dieser Rolle hätte er dann er seine »Anthroposophie in Deutschland« und seine Steiner-»Biografie« verfasst. Möglicherweise wurde er, nachdem er mit diesen Publikationen die in ihn gesetzten Erwartungen bei weitem übertroffen haben dürfte, für sie mit einem Lehrstuhl an der katholischen Universität Fribourg belohnt.

Über gewisse persönliche Eigenheiten dieses »glänzenden Apologeten« konnte man dabei großzügig hinwegsehen. Denn obwohl sein Sexualtrieb offenbar in die geregelten Bahnen einer kirchlichen Ehe geleitet wurde, könnte er durch sie keine wirkliche Befriedigung erlangt haben, worauf vermutlich seine überreichlich quellenden Phantasien hindeuten, die er fortwährend auf Steiner projiziert.

Da die Kirche keine außerehelichen Affären duldet, blieb ihm wahrscheinlich nichts anderes übrig, als seine Bedürfnisse auf dem Wege der Phantasieproduktion auszuleben. Ob er heimlich seine sexuellen Bedürfnisse auch bei Prostituierten befriedigte, sei dahingestellt, eine ausschweifende autoerotische Praxis ist immerhin denkbar. Diese könnte zu einem abnorm gesteigerten schlechten Gewissen und zu gewissen Zwangsvorstellungen geführt haben, die ihn in jede Beziehung zwischen Mann und Frau seine schmutzigen Phantasien hineindeuten lassen.

Dass Zander unter einer sexuellen Zwangsneurose und gewissen religiösen Wahnvorstellungen leiden könnte, die mit der rigorosen Sexualmoral der katholischen Kirche ursächlich zusammenhängen dürften, scheint möglcih. Auch wenn all diese Vermutungen nicht durch entsprechende Gerüchte über seine Ehe gestützt werden, liegen sie doch nahe. Man könnte sogar die monomane Beschäftigung mit Steiner und der Anthroposophie, von der sein zweibändiges Werk »Anthroposophie in Deutschland« zeugt, als Kompensationshandlung verstehen.

Möglicherweise spielt in diese hypothetische Konstellation auch noch ein Drogenproblem hinein, das den halluzinanten, assoziativen, sich fortwährend in Selbstwidersprüche verstrickenden Schreibstil Zanders erklären würde. Dass es sich bei den missbrauchten Substanzen um Kokain oder verwandte Stoffe handelt, darauf deutet sowohl die inflationäre Vorstellungsproduktion als auch der gänzliche Verlust der Unterscheidungsfähigkeit zwischen Realität und Fiktion, der sein Denken kennzeichnet. Dass er sich in der Metaphernwelt der Drogenkonsumenten auskennt, darauf weist die Sicherheit, mit der er ohne weiteres durchschaute, dass es sich bei Steiners euphemistischen Briefäußerungen über Schnupftabak in Wahrheit um Kokain handelte.

Einen eindeutigen Beweis für Zanders Realitätsverlust stellt jedenfalls das Kapitel »Steiner entdeckt das Christentum. Ein Totengespräch« seiner »Biografie« dar, in dem er behauptet, ein Gespräch zwischen Rudolf Steiner und Graf Polzer-Hoditz in der Akasha-Chronik erforscht zu haben, dessen Wortlaut er auf vier Seiten wiedergibt.

Für Zander ist die Christengemeinschaft eine anthroposophische Kirche, die von Steiner begründet wurde, auch wenn er dies nur widerwillig tat.

Auf S. 436 schreibt Zander:

»In gewisser Weise war sie eine ungewollte Schwangerschaft, die Christengemeinschaft. Ein christlicher Kult, eine von ihm begründete ›anthroposophische Kirche‹ war Steiner nun wirklich nicht in den Sinn gekommen ...

Dass Steiner sich dennoch darauf eingelassen hat, zeugt von seiner ... Überzeugung, dass die Anthroposophie eine Weltanschauung sei, deren Mantel auch eine Kultkirche aus anthroposophischem Geist decken könne.«

Nicht Rudolf Steiner hat die Christengemeinschaft gegründet und die Christengemeinschaft ist auch keine »anthroposophische« Kirche oder eine »Kirche für Anthroposophen«.

Die Anthroposophie ist nach Steiners Selbstverständnis keine Religion, sondern eine Wissenschaft. Um sich mit der Substanz des Christentums als Religion zu verbinden, bedarf, wer sich mit Anthroposophie beschäftigt, keiner Religion oder keines Kultus, denn die Anthroposophie selbst ist als Weisheitsinhalt von der lebendigen Substanz des Christus durchdrungen.

Die Sprache, durch die der lebendige Christus heute zur Menschheit spricht, ist die Sprache der Anthroposophie. Wer sich mit ihm in Verbindung setzen will, muss diese Anthroposophie studieren und zu begreifen suchen. Er bedarf daneben keiner anderen Institution oder keines anderen Weges, um diese Verbindung herzustellen. Durch die Anthroposophie eröffnet sich ein neuer Weg zum Christentum, der Weg zum Geistigen, den sie weist, ist zugleich der Weg zum Christus, ja das Schicksal der Anthroposophie möchte zugleich das Schicksal des Christentums sein.

»Der Christus hat einmal gesagt: ›Ich bin bei euch bis ans Ende der Erdentage.‹ Und er ist nicht bloß als ein Toter, er ist als ein Lebender unter uns und er offenbart sich immer. Und nur diejenigen, die so kurzsichtig sind, dass sie sich vor diesen Offenbarungen fürchten, sagen, man solle bei dem bleiben, was immer gegolten hat. Diejenigen aber, die nicht feige sind, wissen, dass der Christus sich immer offenbart. Deshalb dürfen wir dasjenige, was er als Anthroposophie offenbart, als eine wirkliche Christus-Offenbarung aufnehmen. –

Oft, meine lieben Freunde, werde ich gefragt von unseren Mitgliedern: Wie setze ich mich in Verbindung mit dem Christus? – Es ist eine naive Frage! Denn alles, was wir anstreben können, jede Zeile, die wir lesen aus unserer anthroposophischen Wissenschaft, ist ein Sich-in-Beziehung-Setzen zu dem Christus. Wir tun gewissermaßen gar nichts anderes. Und derjenige, der nebenbei noch ein besonderes Sich-in-Beziehung-Setzen sucht, der drückt nur naiv aus, dass er eigentlich vermeiden möchte den etwas unbequemen Weg, etwas zu studieren oder etwas zu lesen. (GA 169, Berlin, 13. Juni 1916)

»Wir haben es nun, dieses Ich-Bewusstsein, aber es muss innerlich durchglüht und durchgeistigt werden, indem wir diese Worte richtig aussprechen lernen: ›Nicht ich, sondern der Christus in mir.‹ Wir müssen in dieses unser innerstes Wesen, das wir uns aneignen müssen durch geistige Erkenntnis, den Christus aufnehmen können. Das ist etwas, das wir als Menschen heute nur erreichen können, wenn wir uns durchdringen können mit dem eigentlichen Willen des anthroposophischen Lebens. Und im Grunde genommen wird Anthroposophie nicht eine neue Religion sein wollen. Die christliche Religion ist ja schon da. Indem der Mensch zum Christus geführt wird, gründet er nicht eine neue Religion, aber er braucht einen neuen Weg zum Christentum. Und ein neuer Weg zum Christentum eröffnet sich durch Anthroposophie. Sie ist es, die den neuen, heute so notwendigen Weg zum Verständnis des Mysteriums von Golgatha eröffnet.« (GA 224 Prag, 29. April 1923)

»Heute ... stehen wir vor einer Zeit, wo die Menschen, nachdem sie so viel über die Geheimnisse der Natur gelernt haben, ganz den Evangelienworten entfremdet werden würden, wenn nicht ein neuer Weg zu dem Christus gebahnt würde. Diesen Weg möchte die Anthroposophie dadurch bahnen, dass sie den Menschen wiederum zu der Erkenntnis der geistigen Welt hinführt. Denn das Christus-Ereignis ist nur zu verstehen als Geistiges, als geistige Tatsache. Wer das Christus-Ereignis nicht als geistige Tatsache verstehen kann, kann es überhaupt nicht verstehen.« (GA 226, Kristiania, 17. Mai 1923)

»Der Erdensinn war vor dem Mysterium von Golgatha auf der Sonne. Seit dem Mysterium von Golgatha ist der Erdensinn mit der Erde selbst vereinigt. Das möchte wie ein immerwährendes Pfingstgeheimnis die Anthroposophie an die Menschheit heranbringen. Und wenn die Menschen dazu bereit sind, mit der Anthroposophie die geistige Welt wiederum aufzusuchen, dann werden sie in einer solchen Weise, wie es für den Menschen der heutigen Zeit notwendig ist, auch den Christus als einen immer Gegenwärtigen wiederum richtig finden.

Wenn die Menschen in dieser Zeit sich nicht zur geistigen Erkenntnis wenden, dann geht der Christus verloren. Bisher war das Christentum nicht auf die Erkenntnis angewiesen. Der Christus ist für alle Menschen gestorben. Er hat die Menschen nicht verleugnet. Weisen ihn heute die Menschen in der Erkenntnis zurück, so verleugnen die Menschen den Christus.

...

Man redet oftmals von der Anthroposophie, als ob sie eine Feindin des Christentums sei. Wenn Sie den Geist der Anthroposophie wirklich aufnehmen, so werden Sie finden, dass die Anthroposophie gerade das Menschenohr und das Menschenherz und die ganze Menschenseele wiederum für das Geheimnis Christi öffnen wird.

Meine lieben Freunde, das Schicksal der Anthroposophie möchte dasjenige des Christentums zugleich sein. Dazu ist aber notwendig, dass die Menschen heute nicht bloß zu dem toten Worte hinblicken, das ihnen von dem Christus spricht, sondern dass die Menschen sich einer Erkenntnis zuwenden, die sie zu jenem Lichte selbst hinführt, in dem der lebendige Christus, nicht der historische, der vor Jahrhunderten auf Erden gelebt hat, enthalten ist, der jetzt und in jedem Augenblicke der Zukunft auf der Erde unter den Menschen lebt, weil er aus ihrem Gotte ihr göttlicher Bruder geworden ist.

So wollen wir denn unter unsere Pfingstgedanken dieses aufnehmen, dass wir suchen wollen durch Anthroposophie den Weg zu dem lebendigen Christus, und fühlen, dass dadurch in jedem Anthroposophen erneuert werden kann das erste Pfingstgeheimnis, dass ihm die Erkenntnis Christi selber in seinem Herzen aufgehe und er sich fühlt erwärmt und erleuchtet durch die feurige Zunge der christlichen Welterkenntnis.

Lassen Sie unsern Weg zum Geistigen durch Anthroposophie zugleich sein den Weg zu Christus durch den Geist! Und wenn eine kleinere Anzahl von Menschen im Ernste sich zu diesem bekennt, dann wird dieses Pfingstgeheimnis auch immer mehr und mehr Wurzel fassen bei vielen Menschen der Gegenwart und namentlich der Zukunft. Und dann wird dasjenige kommen, was die Menschheit so sehr zu einer Gesundung, zu einer Heilung braucht. Dann wird zu einem neuen Menschenverständnis der heilende Geist sprechen, der die Krankheit der Seelen der Menschen heilende Geist, den Christus gesandt hat. Dann wird das kommen, was die Menschheit braucht: Welten-Pfingsten!« (GA 226, Kristiania, 17. Mai 1923)

Was die Christengemeinschaft als angeblich anthroposophische Kirche anbetrifft, so ist diese ebensowenig eine »Kirche der Anthroposophen«, wie die Waldorfschulen »Anthroposophenschulen« sind. Sie ist, wie der Name schon sagt, eine Gemeinschaft von Christen, die von Priestern und angehenden Priestern aus der Anthroposophie heraus gegründet wurde.

Bereits im ersten Theologenkurs machte Steiner deutlich:

»Sie müssen die religiöse Gemeindebildung für sich vornehmen und dann den Zusammenschluss mit der anthroposophischen Bewegung suchen. Die anthroposophische Bewegung – das kann ich ja durchaus sagen – wird niemals ermangeln, diesen Zusammenschluss zu fördern, selbstverständlich; aber es würde nicht gut sein, gewissermaßen aus den anthroposophischen ›Gemeinden‹ heraus kirchliche Gemeinden zu bilden.« (GA 342, 13. Juni 1921, Dornach 1993, S. 62)

»Die anthroposophische Bewegung als solche kann keine Begründerin von neuen religiösen Gemeinschaften und so weiter sein, sondern man muss irgendwie die religiöse Gemeinschaft aus sich heraus bilden, oder – soweit man kann – sie mit dem Menschenmaterial bilden, das heute rein aus Vorurteilen noch innerhalb der alten Kirche steht.« (GA 342, 13. Juni 1921, Dornach 1993, S. 66)

Diese Ablehnung einer »anthroposophischen Kirchengründung« brachte Steiner auch zu Beginn des zweiten Theologenkurses im September 1921 zum Ausdruck:

»Anthroposophie, meine lieben Freunde, muss ja durchaus ehrlich auf dem Boden stehenbleiben, von dem ich oftmals gesprochen habe, indem ich sagte: Anthroposophie als solche kann nicht religionsbildend auftreten; Anthroposophie als solche muss sich die begrenzte Aufgabe stellen, als Geisteswissenschaft die gegenwärtige Kultur und Zivilisation zu befruchten, und es kann nicht in ihren Absichten liegen, selber religionsbildend aufzutreten. Eigentlich liegt es ihr ganz fern, in irgendeiner Weise in den Entwicklungsprozess des religiösen Lebens als solchen unmittelbar einzugreifen.« (GA 343, 26. September 1921, Dornach 1993, S. 13).

In einem Vortrag am 30. Dezember 1922 sprach Steiner im Hinblick auf die Christengemeinschaft von Menschen mit einem »starken christlich-religiösen Trieb«, der in den etablierten Kirchen keine Befriedigung finde, davon, dass diese Menschen, da sie in »gewissen Kulturzusammenhängen« stünden, den Weg in die anthroposophische Bewegung nicht fänden, und von einer »historisch gegebenen Notwendigkeit« für die Entstehung der Christengemeinschaft.

Da die Anthroposophie das Ziel habe, »eine Erkenntnis zu gewinnen«, die sich zur Kunst erhebe und zum unmittelbaren religiösen Erleben führe, bedürften diejenigen, die den Weg in die Anthroposophische Gesellschaft gefunden hätten, keiner religiösen Erneuerung. »Denn was wäre die Anthroposophische Gesellschaft, wenn sie erst religiöse Erneuerung brauchte!« (GA 219, 30. Dezember 1922)

Am Ende seines Vortrags machte er seine Sicht des Beziehung zwischen Christengemeinschaft und Anthroposophischer Gesellschaft deutlich:

»Ich hoffe, dass jetzt nicht irgend jemand geht zu irgendjemandem, der aktiv tätig ist in der religiösen Erneuerung, und sagt: In Dornach ist gegen sie dies oder jenes gesagt worden! – Es ist nichts gegen sie gesagt worden; sie ist in Liebe und in Hingebung an die geistige Welt und in berechtigter Weise aus der geistigen Welt heraus mit Ratschlägen versorgt worden, dass sie sich selbst begründen konnte ... Es gibt ganz gewiss keinen Wunsch, der so groß sein kann, wie der von mir, dass die Bewegung für religiöse Erneuerung unermesslich gedeihe, aber unter Einhaltung der ursprünglichen Bedingungen. Es dürfen nicht etwa die anthroposophischen Zweige in Gemeinden für religiöse Erneuerung umgestaltet werden, weder in materieller noch in geistiger Beziehung.« (ebd. S. 175)

Dass die anthroposophische Gesellschaft keiner religiösen Erneuerung bedarf, bedeutete für Steiner aber keineswegs, dass sie nicht auch eines Kultus bedürfte oder dass anthroposophische Erkenntnisse nicht in kultusartigen Handlungen ihren Ausdruck finden könnten. Diese Tatsache wirft ein anderes Licht auf das Verhältnis von Anthroposophie und religiöser Erneuerung. Deutlich geht dies aus Ausführungen hervor, die Steiner während des ersten Theologenkurses 1921 machte. Im Zusammenhang mit Erläuterungen zu Ritualen (Beerdigungsritual, Messopfer, Taufritual) sagte Steiner unter anderem:

»Es ist ja natürlich bisher in der anthroposophischen Bewegung keine Veranlassung gewesen, diese Dinge wirklich konkret auszubilden aus dem einfachen Grunde, weil wir das ja vermeiden wollten. Die Fälle sind nicht wenige, wo man solche Dinge einführen wollte. Ich habe es immer abgelehnt aus dem Grund, weil natürlich dadurch die anthroposophische Bewegung von Anfang an totgemacht worden wäre. Man musste eben bei dem bleiben, was einem halbwegs gestattet war.

Vor 20 Jahren war es noch mehr, heute ist es weniger der Fall, dass die katholische Kirche das Rituelle als ihr Monopol betrachtet hat. Wir würden gleich totgemacht worden sein, und deshalb war auch wenig Veranlassung, das Ritual nach dieser Richtung auszubilden. Das andere, wo allerdings die Form des Rituals ausgebildet war, das ist durch den Krieg unterbrochen worden [Steiner meint die Esoterische Schule], wo man nicht weitermachen konnte; denn sobald diese Dinge weitergeführt worden wären, wäre man als geheime Gesellschaft behandelt worden.

Das sind die Dinge, warum die rituelle Seite innerhalb der anthroposophischen Bewegung nicht ausgebildet worden ist. Aber in ihrer Bewegung [für religiöse Erneuerung] wird sie ausgebildet werden können, denn es wird als etwas ganz Natürliches betrachtet werden können, dass das Rituelle in einer religiösen Bewegung ausgebildet wird.« (GA 342, 14. Juni 1921, abends).

Als Gründe, warum die anthroposophische Bewegung das Rituelle nicht ausgebildet bzw. das bereits ausgebildete Rituelle nicht weitergeführt hat, führt also Steiner einerseits die Feindschaft der katholischen Kirche, andererseits politische Gründe (mögliche Verdächtigungen während des I. Weltkriegs, eine Geheimgesellschaft zu sein) an. Diese Gründe haben mit dem Wesen der anthroposophischen Bewegung nichts zu tun, dafür um so mehr mit den historischen Umständen, in denen sie sich bewegte.

Einen dritten Grund führt Steiner am 15. Juni 1921 an: die Notwendigkeit, auf die »modernen Bildungsformen« Rücksicht zu nehmen:

»Heute ist es eben nicht anders möglich, um zwischen Skylla und Charybdis durchzukommen, als den anthroposophischen Weg zu gehen, selbst Anthroposophie auch als ein tragendes Element des religiösen Lebens aufzunehmen, um zu den übersinnlichen Wahrheiten hinzugehen. Dann kommt man auch dazu ... , die populäre einfache Form zu finden für dasjenige, was wir innerhalb der Anthroposophie noch nicht tun können, weil zunächst einmal etwas anderes da sein muss. Wir müssen uns noch zu stark in den modernen Bildungsformen ausdrücken, weil wir zu denen sprechen, die der modernen Bildung angehören.« (GA 342, 15. Juni 1921)

Die Bewegung für religiöse Erneuerung kann also etwas tun, was innerhalb der Anthroposophie noch nicht getan werden kann, weil zunächst – aus Rücksicht auf die modernen Bildungsformen – etwas anderes da sein muss.

Steiner hat sich auch keineswegs widerwillig der Bitte der protestantischen Pastoren gefügt, etwas zur religiösen Erneuerung beizutragen. In einem Aufsatz über den dritten Theologenkurs, der unmittelbar vor der Gründung der Christengemeinschaft gehalten wurde (16.09.1922), schrieb er am 18.3.1924 im Goetheanum:

»Ich selbst muss, was ich mit diesen Theologen in dem kleinen Saale des Südflügels ... im September 1922 erlebt habe, zu den Festen meines Lebens rechnen.«

Laut Zander pflanzte Steiner seiner Kirchengründung die Theosophie ins Herz.

Auf S. 445-447 f schreibt Zander:

»Steiner pflanzte seiner Kirchengründung die theosophische Tradition ins Herz. Natürlich hat er keinen Katechismus geschrieben ... Gleichwohl hat er der Christengemeinschaft Identität verbürgende Lehren in die Gründungsvorträge eingeschrieben.«

Im Folgenden führt Zander 10 solche »Lehren« auf.

1. Das Übersinnliche. ... Also nicht primär Gott, sondern das Übersinnliche, nicht Glauben, sondern Wissen. Höhere Erkenntnis und nicht Tradition oder Bibel sollten ... das Herzgewächs der christengemeinschaftlichen Theologie bilden. Dass sie gleichwohl von Gott sprechen dürfe und er es auch selbst tat, was auch ein Zugeständnis Steiners, des Eingeweihten, an seine Kirchenchristen.

2. Der Christus. In der Christengemeinschaft sollte der göttliche Christus präsent sein, der menschliche Jesus war dem alten Steiner zu wenig ...

3. Der Kultus. Die Feier der Christengemeinschaft war vor allem ›Kultus‹ ... Er war für Steiner eine objektive Größe aus dem Jenseits der Geschichte.

4. Das Erleben. Kult war für Steiner nicht Denken, sondern ›das Erleben der unmittelbaren Gegenwart der geistigen Welt, der Anwesenheit der Götter‹ ...

5. Sakramente. ›Der Christus‹ sei in den Sakramenten wirkmächtig.

6. Objektivität. Die Sakramente deutete Steiner nicht als Zeichen, wie es markant in der reformierten Theologie geschieht, sondern als Wirkungen, die, über katholische Vorstellungen hinausgehend, unabhängig vom Individuum und seiner Zustimmung wirken sollten.

7. Hierarchie und Egalität. Eine Kirche, der eingeweihte Priester vorstehen, verträgt keine demokratischen Verfahren.

8. Dogmenfreiheit. Die Priester sollten, wie alle Anthroposophen ... und auch Laienmitglieder der Christengemeinschaft, Dogmenfreiheit genießen ...

9. Selbsterlösung. ›Erlösung oder Selbsterlösung, das ist das aut – aut‹ ... dekretierte Steiner.

10. Apokalypse. ... Es sei »eine objektive Erkenntnis der Tatsachen: Dass die Kirchen dem Untergang geweiht sind. Außer die katholische Kirche natürlich, die eben weiter bekämpft werden muss.‹«

Die Christengemeinschaft war, wie bereits bemerkt, nicht Steiners Kirchengründung. Es ist nicht zu eruieren, inwiefern die von Zander aufgezählten 10 Punkte  spezifische Lehren der Theosophie enthalten sollen. Als »Lehren« oder »Dogmen« der Christengemeinschaft lässt sich dieses völlig unsystematische Sammelsurium jedenfalls nicht erkennen, ganz abgesehen davon, dass die Rede von Lehren oder Dogmen auch Punkt 8, der von Zander zugestandenen Dogmenfreiheit, widerspräche.

Zu Punkt 1.

Steiner hielt es mit dem Wort »Gott« gemäß dem zweiten Gebot Mose:

»Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht eitel im Munde führen; denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen eitel im Munde führt.«

Er hat sich sogar explizit auf dieses Gebot berufen:

»Wer immerfort auf der Zunge den Ruf führt ›Herr, Herr‹ oder ›Christus, Christus‹, der braucht noch nicht ein richtiger Christ zu sein. – Der Anthroposophie wirft man oftmals vor, dass sie weniger als die äußeren Religionsbekenntnisse von Christus spricht. Ich sage dann oftmals zu denjenigen, die der Anthroposophie vorwerfen, dass sie weniger von dem Christus spricht: Aber es gibt ein altes Gebot, das auch von den Christen anerkannt wird, aber beim ewigen Reden von dem Christus nicht berücksichtigt wird: ›Du sollst den Namen deines Gottes nicht eitel aussprechen.‹ Das ist eines der Zehn Gebote.

Wer immerfort von dem Christus nur spricht, ihn immerfort im Munde führt, sündigt wider die Heiligkeit des Christus-Namens.

Anthroposophie möchte in alledem, was sie tut und ist, christlich sein. Daher kann man ihr den Vorwurf nicht machen, dass sie zu wenig von dem Christus spricht, denn das Bewusstsein, dass der Christus lebt, ist in allem, was sie bringt. Und sie will nicht immer ›Herr, Herr‹ auf den Lippen führen, sie will um so mehr christlich sein, je weniger sie fortwährend von Christus reden will.« (GA 226, Kristiania, 21. Mai 1923)

Zu Punkt 2.

»Der menschliche Jesus war dem alten Steiner zu wenig«. Ein blasphemische Aussage nicht gegenüber Steiner, sondern gegenüber Christus, auch aus dem Munde eines Katholiken. Kann sich denn der Katholik mit dem menschlichen Jesus begnügen? Ruht nicht die Kirche auf dem Fels des Gottessohnes der Mensch geworden ist, der den Tod auf sich genommen hat und am dritten Tage von den Toten auferstanden ist, um aufzufahren in den Himmel und seinen Sitz einzunehmen auf dem Thron zur Rechten des Vaters? Dass man eine Jesuitengemeinschaft auf Jesus begründen kann ist klar, aber kann man eine »Christengemeinschaft« auf dem menschlichen Jesus begründen?

Zu Punkt 3.

Der Kultus war für Steiner eine »objektive Größe aus dem Jenseits der Geschichte«. Ist das als Vorwurf gemeint? Wäre das Gegenteil, ein Kultus aus dem Diesseits, als rein menschliche Erfindung, etwa vorzuziehen? Versteht denn die katholische Kirche ihren Kultus als menschliche Erfindung? Wurde er nicht durch Christus selbst mit den Worten eingesetzt: »Nehmt, das ist mein Leib. Das ist mein Blut des neuen Bundes, das für viele vergossen wird.« Vollzieht sich im katholischen Kultus etwa nicht die Wandlung von Brot und Wein in Fleisch und Blut Christi? Nimmt der Gläubige nicht durch die konsekrierte Hostie den Leib Christi in sich auf und vereinigt sich mit diesem?

Zu Punkt 4.

»Kult als Anwesenheit der Götter«. Die Quelle dieser Äußerung ist schleierhaft. Wie verstand Steiner den Kultus?

»Dasjenige, was sich in den Kultformen, seien sie nun gegeben in der Zeremonie, seien sie gegeben im Worte, ausspricht, das ist ein Abbild von wirklichen Erlebnissen; allerdings nicht von wirklichen Erlebnissen, die hier auf der Erde durchgemacht worden sind, sondern von wirklichen Erlebnissen in jener Welt, die der Mensch in seinem vorirdischen Dasein durchmacht, wenn er auf dem zweiten Teile des Weges zwischen dem Tode und einer neuen Geburt ist, aus jener Welt, die der Mensch durchschreitet von jenem Zeitpunkte, der da liegt in der Mitternachtsstunde des menschlichen Daseins zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, bis zum Herabsteigen zum Erdenleben.

In dem Gebiete, das da der Mensch durchmacht, liegt die Welt, liegen die Ereignisse, liegen die Wesenhaftigkeiten, die ein wirkliches Abbild finden in den echten, wahren Kultformen.

Was empfindet daher derjenige, der den Kultus miterlebt, mit dem andern, mit dem er von irgendeinem Karma zusammengeführt wird – und das Karma ist so verwickelt, dass man durchaus überall Karma voraussetzen darf, wo wir mit Menschen zusammengeführt werden?

Gemeinsame Erinnerungen an das vorirdische Dasein erlebt er mit ihm zusammen. Das taucht in den unterbewussten Tiefen der Seele auf. Wir haben, bevor wir zur Erde heruntergestiegen sind, zusammen eine Welt durchlebt, die hier im Kultus vor unserer Seele auf Erden steht.

Das ist eine mächtige Bindung, das ist ein wirkliches Hereinholen nicht nur der Bilder, sondern der Kräfte der übersinnlichen Welt in die sinnliche. Das ist aber ein Hereinholen derjenigen Kräfte aus der übersinnlichen Welt in die sinnliche, die den Menschen intim angehen, die verbunden sind mit den intimsten Hintergründen der menschlichen Seele.

Deshalb bindet Kultus, weil im Kultus heruntergetragen ist aus den geistigen Welten dasjenige, was Kräfte dieser geistigen Welten sind, weil der Mensch das in seinem Erdenleben vor sich hat, was überirdisch ist. Nicht hat er es vor sich in dem rationalistischen Worte, das das Vergessen an die geistige Welt bewirkt, auch in den unterbewussten Seelengründen, sondern er hat es vor sich in dem lebendigen Bild, das kraftdurchsetzt ist, das nicht bloß Sinnbild, das nicht totes Bild, das Kraftträger ist, weil er dasjenige vor sich hat, was zu seiner geistigen Umgebung gehört, wenn er nicht im irdischen Leibe ist.

Eine umfassende, ins Geistige hinüberzielende gemeinsame Erinnerung, das ist es, was die gemeinschaftsbildende Kraft des Kultus ist.« (GA 257, 27.02.1923)

Zu Punkt 5.

›Der Christus‹ sei in den Sakramenten wirkmächtig.

Wer wirkt denn in den Sakramenten gemäß den Vorstellungen der katholischen Kirche? Wenn im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes getauft wird, wer wirkt in diesem Sakrament?

Zu Punkt 6.

Die Sakramente seien nicht bloß Zeichen, wie in der reformierten Theologie, sondern als Wirkungen, die, über katholische Vorstellungen hinaus, unabhängig vom Individuum und seiner Zustimmung wirken sollen.

Was nun? Hat Zander diese Frage autoritativ so entschieden, dass beide Interpretationen, über die sich die beiden Großkirchen entzweiten, gleich wahr sind? Und lehrt die katholische Kirche nicht, dass die Sakramente »ex opere operato« wirksam sind, das heißt, unabhängig von der persönlichen Verfassung oder Seelenhaltung des Priesters?

Zu Punkt 7.

Die Priester der Christengemeinschaft sind nicht »eingeweiht«, sondern »geweiht«. Und werden die Priester der katholischen Kirche etwa gewählt?

Zu Punkt 8.

Soll die Dogmenfreiheit etwa ein Vorwurf sein?

Zu Punkt 9.

Wenn man der Frage nach Erbsünde, Gnade und Erlösung nachgeht, wie sie von Steiner im zweiten Theologenkurs behandelt wird, offenbart sich, wie grauenhaft verlogen Zander auch mit den heiligsten Fragen des christlichen Lebens umgeht.

Sehen wir uns seine Behauptungen im einzelnen an.

Erlösung oder Selbsterlösung: das ist das entweder – oder.

In Wirklichkeit sagt Steiner das Gegenteil:

»Erlösung oder Selbsterlösung, das ist das aut-aut, das eben auftritt. Man glaubt, man könne die Anthroposophie einfach als unchristlich bezeichnen, weil man meint, sie müsse von einer Selbsterlösung des Menschen sprechen. Nun, die Sache liegt nicht so. Dieses aut-aut ist eigentlich für die Anthroposophie gar nicht so, wie man es annimmt, vorhanden.« (GA 343, 4. Oktober 1921, Dornach 1993, S. 334)

»Um dieser Erbsünde entgegenzuwirken, meine lieben Freunde, da gibt es keine Selbsterlösung, da gibt es eben nur die Erlösung durch den Christus, die Erlösung durch den Anblick des durch das Mysterium von Golgatha gehenden Christus ...

So, meine lieben Freunde, kann es keine andere Erlösung von der Erbsünde geben als diejenige durch den Christus Jesus; die anderen Sünden sind Folgesünden. Die individuellen Sünden werden von dem Menschen begangen, weil er eben durch die Erbsünde schwach sein kann, zur Sünde hinneigen kann. Diese individuellen Sünden finden ihren Ausgleich in dem, was durch Selbsterlösung erreicht werden muss; sie müssen durch Selbsterlösung im Verlaufe des irdischen oder überirdischen Lebens ausgeglichen werden. Dasjenige aber, was die Ursünde ist, die Mutter aller übrigen Sünden, das konnte nur durch die Erlösungstat des Christus aus dem Menschengeschlechte herausgenommen werden.« (GA 343, 5. Oktober 1921, Dornach 1993, S. 400-402)

Auch wenn es so scheint, als würde Steiner hier die »Selbsterlösung affirmieren«, scheint es nur so, denn er fährt fort:

»Erlösung von der Erbsünde bedeutet, ein solches Verhältnis zu dem historischen Christus zu haben, der durch das Mysterium von Golgatha gegangen ist, dass dieses Verhältnis auf geistig-seelische Art ebenso wahr durch unsere Adern pulst, wie auf physische Art das Blut durch unsere Adern pulst.

Das ist die Kraft, das ist die Stärke, die man die Glaubenskraft und die Glaubensstärke nennen kann. Nicht einen abstrakten Begriff soll man suchen für den Glauben, sondern diese Stärke, diese Kraft soll man suchen für den Glauben. Glauben heißt, in seiner Seele zu dem Christus hin eine solche Stärke und eine solche Kraft zu finden, dass diese seelische Kraft, diese seelische Stärke so groß ist wie dasjenige, was die Blutsbande in uns bewirken können. Dann finden wir den Weg zu dem einheitlichen Christus der ganzen Menschheit, zu jenem einheitlichen Christus, der durch das Ereignis von Golgatha auch die wirkliche objektive Ursache für jeden subjektiven Erlösungsvorgang ist.

Dann aber suchen wir nicht mehr in äußeren Zeichen den Erlösungsvorgang, dann suchen wir im Gegenteil auch durch die Sakramente dasjenige, was die reale Beziehung der Menschenseele zu dem Christus ist ...

Dann suchen wir auch nicht auf eine abstrakte oder mystische Art ein Verhältnis zu einem Christus, der uns entschwindet, dann gründen wir im Menschengeist und im Menschenherzen und im Ganzmenschlichen ein wahlverwandtschaftliches Verhältnis zu dem Christus, wie wir ein blutsverwandtschaftliches Verhältnis haben zu dem Leben des Vatergottes, insofern sich dieses Leben eben in dem Blute der Menschheit, das heißt in dem Lebensschöpferischen der Menschheit auf dem physischen Gebiete ausdrückt.

Damit habe ich versucht, die subjektive Seite des Erlösungsgedankens vor Sie hinzustellen. Ich glaube nicht, dass man in der heutigen Zeit aus anderen Voraussetzungen, aus anderen Antezedenzien heraus zu einem objektiven Verstehen des subjektiven Erlösungsgedankens kommen kann. (GA 343, 5. Oktober 1921, Dornach 1993, S. 404-405)

Auch wenn also der Mensch das seinige dazu beitragen muss, sich von den Sünden zu entsühnen, die er begangen hat, so ist die Voraussetzung dieser Möglichkeit seines subjektiven Beitrags, also der sogenannten Selbsterlösung, die objektive Tatsache der Erlösung der Menschheit durch Christus.

Zu Punkt 10.

»Die Kirchen sind dem Untergang geweiht, außer die katholische, die deshalb bekämpft werden muss.«

Zander verweist hier auf den obskuren Raubdruck des ersten Priesterzyklus aus den 1980er Jahren und erwähnt im Vorbeigehen, der Text in GA 342 weiche davon »leicht ab«. Die »leichte Abweichung« besteht darin, dass Steiner in GA 342 nirgends davon spricht, die katholische Kirche müsse bekämpft werden!

Der Text stammt aus einer Diskussion, in der Steiner die Frage eines Teilnehmers beantwortet. Der Kontext ist der folgende:

Steiner führt zu einer früheren Frage aus:

»Und so glaube ich allerdings, dass diejenigen, die dadurch, dass sie theologische Studien durchgemacht haben und die Möglichkeit haben, als Priester zu wirken, das auch tun sollten. Es ist schon notwendig, dass gerade derjenige, der Theologie studiert hat, als Priester wirken sollte, weil wir das so notwendig brauchen.«

Ein Teilnehmer wirft ein: » ... dann aber auch innerhalb der Kirche?«

Steiner antwortet: »Innerhalb der Kirche? Ich möchte doch bei diesem bleiben, was ich gesagt habe. Man kann innerhalb der Kirche bleiben, wenn man die Mitglieder von jetzigen kirchlichen Gemeinschaften allmählich herausführen kann; man kann also sich der Begründung von freien Gemeinden zuwenden. Ich glaube ja nicht, dass die Kirche als solche in irgendeiner Form reformiert, regeneriert werden kann, das ist nicht der Fall. Die Kirchengemeinschaft ist so korrumpiert, dass wir nur darauf rechnen können, dass man die ... [lückenhafte und unverständliche Wiedergabe des Textes in der Nachschrift] herausführt und mit ihnen etwas Neues gründet... [weitere Lücke]. Dagegen an eine Reform der Kirche selbst zu denken, da darf ich schon sagen – das ist nicht bloß meine Meinung, sondern das ergibt eine objektive Erkenntnis der Tatsachen –, dass diese Kirchengemeinschaften dem Untergang geweiht sind. Außer der katholischen Kirche natürlich, die eben weiter so begriffen werden muss, dass sie durchaus nicht dem Untergang geweiht ist, weil sie mit ausgebreiteten Mitteln arbeitet und daher als etwas ganz anderes angesehen werden muss.« (GA 342, Besprechung Stuttgart, 13. Juni 1923)

Den Gipfel der Selbstparodie oder der Irreführung erklimmt Zander im letzten Kapitel seines Buches, in dem er sich über die Absicht seiner »Biografie« auslässt. Zander will, so behauptet er, Steiners Leistungen anerkennen, ohne de Blick vor »Versteinerungen« zu verschließen.

Auf S. 477 schreibt Zander:

»Die vorliegende Biografie versucht, den bis dato erarbeiteten Wissensstand über Rudolf Steiner zusammenzutragen und in eine Deutung überzuführen, die den Anspruch Steiners, Hellseher zu sein, nicht aus der Perspektive ewiger Wahrheiten erklärt, sondern aus der Lebenswelt des 19. Jahrhunderts. Sie versucht, Steiners Leistungen anzuerkennen, ohne den Blick vor ›Versteinerungen‹ zu verschließen. Viele Anthroposophen fürchten, die historisch-kritische und kontextualisierende Biografik sei das Ende einer spirituellen Steiner-Deutung: Aber das scheint mir nur ein Ausdruck intellektueller Angst.«

»Den bis dato erarbeiteten Wissensstand«:

Wenn man die Fülle des Wissens bedenkt, das er hätte gewinnen können, aber als kontaminiert und deswegen unbrauchbar ignoriert oder beiseite geschoben hat, all das Wissen, das aus Steiners Werk selbst, oder auch aus den Werken der authentischen, zur Empathie befähigten und nicht in Hass verblendeten Zeitzeugen, über ihn hätte geschöpft werden können, dann muss man sich unweigerlich fragen, wovon redet Zander hier überhaupt? Große Teile seiner angeblichen Biografie bestehen nicht aus Wissen, sondern aus Gerüchten, aus Unterstellungen, aus Erfindungen, aus Projektionen, aus allen möglichen kruden Missverständnissen oder absichtlichen Verdrehungen. Diese sogenannte Biografie fasst nicht den »erarbeiteten Wissensstand« zusammen, sondern einen systematisch erarbeiteten Stand des Unwissens, weil sie konsequent das, was gewusst werden könnte, ausblendet und an dessen Stelle subjektive Vermutungen stellt, die sich als wissenschaftliche Gewissheiten ausgeben – oder auch als Ungewissheiten, denen dennoch Wahrscheinlichkeit unterstellt wird.

»In eine Deutung überführen«?

Deutet Zander Steiner? Nein, er deutet ihn nicht. Er bekommt ihn gar nicht zu Gesicht. Er setzt sich einzig und allein mit einem selbstgeschaffenen Zerrbild, einem Phantom auseinander, das aus seinen Vorurteilen und Idiosynkrasien zusammengesponnen ist, und knüpft an dieses Zerrbild willkürliche Assoziationen an, die in ermüdender Wiederholung seine Lieblingsvorstellungen, seine fixen Ideen wiederkäuen, um dem Leser durch diese Litanei den unbefangenen Zugang zum »Meister des Abendlandes« zu verbauen. In Wahrheit deutet Zander nur sich selbst aus. In seiner Biografie begegnen wir nicht Steiner, sondern Zander, wie er leibt und lebt, Zander mit seinen Vorurteilen, Zander mit seinen Zweifeln, Zander mit seinen Ängsten, Zander mit seinen Komplexen und Zwangsvorstellungen. Zander, Zander, Zander – bis das Emetikum wirkt. Die intellektuelle Angst, die er »den Anthroposophen« unterstellt, ist in Wahrheit seine eigene Angst. Die Angst vor dem Geist, die Angst, den begrenzten Horizont seines Bewusstseins zu verlassen, sich in den Ozean des Geistes zu begeben und das Abenteuer der Entdeckung unbekannter Kontinente auf sich zu nehmen. Zander ist durch und durch Konformität, er ist die Quintessenz der Mainstream-Akademizität, die sich in panischer Abwehrreaktion gegen den horizonterweiternden Einbruch des weltbildumstürzenden Geistes zur Wehr setzt. Er ist die leibhaftige Verkörperung des Stereotyps des belesenen Intellektuellen, des vielwissenden Gelehrten, der trotz all seiner Belesenheit nichts verstanden hat und von einer instinktiven Furcht vor dem Erleben, vor dem realen Leben des Geistes, getrieben wird. Man kann förmlich vor sich sehen, wie er sich mit Händen und Füßen gegen den Anruf wehrt, der von jenem rätselhaften, für ihn zutiefst unverständlichen und furchterregenden Phänomen ausgeht, das Rudolf Steiner für ihn darstellt. »Rudolf Steiner – das mysterium tremendum« müsste sein Buch heißen.

Den Gipfel des Hohns stellt aber die anmaßende Behauptung dar, dieses Buch wolle Steiners Leistungen »anerkennen«.

Wie bitte? Anerkennen, indem man Steiner über Hunderte von Seiten hinweg als Lügner, Hochstapler, Betrüger, unfähigen Dilettanten, Pseudopropheten, sexbesessenen Schürzenjäger, machtgierigen, eitlen, intriganten und selbstbetrügerischen Popanz beschimpft? Will Zander vielleicht sagen, seine Anerkennung habe genau darin bestanden, ihn als das anzuerkennen, was er alles nicht war? Nein! Zander ist überhaupt nicht imstande, Steiner anzuerkennen, da er ihn nicht einmal im Ansatz erkennt. Und Steiner ist auf Zanders Anerkennung auch nicht angewiesen, »die Anthroposophen« werden sich für diese vergiftete Anerkennung bedanken, die in einem blechernen, verbeulten Pokal die ätzende Säure weiterreicht, von der das Bewusstsein des angeblichen Biografen zerfressen wurde.

»Historisch-kritische und kontextualisierende Biografik«:

Was, bitte, ist an diesem namenlosen Machwerk historisch-kritisch, was kontextualisierend? Das Produkt das Zander vorgelegt hat, trägt das Siegel der Ahistorizität (der Fiktion), der Kritiklosigkeit (gegenüber den eigenen Urteilsvoraussetzungen) und der sinnzerstörenden Dekontextualisierung als Imprimatur. Diese Selbstdefinition ist nur ein weiterer Etikettenschwindel eines akademischen Taschenspielers, dessen langfristige Strategie zur Eroberung der Deutungshoheit über das Bild der Anthroposophie in der Öffentlichkeit und der akademischen Welt wenigstens für einige Monate medialer Beachtung aufgegangen ist.

»Das Ende der spirituellen Steinerdeutung«:

Das klingt wie ein Todesstoß. In »Anthroposophie in Deutschland« hat Zander auch das Bild vom »Schwert des Scharfrichters« verwendet (S. 1719), um seine Rolle gegenüber der spirituellen Steinerdeutung zu charakterisieren, auch wenn er auch diese dort verneinte. (»Ich wünsche mir, dass Anthroposophen und Anthroposophinnen diese Arbeit nicht als Schwert des Scharfrichters, sondern als wissenschaftliche Analyse lesen.«)

Nun, wir haben sie als wissenschaftliche Analyse gelesen. Ebenso »die Biografie«, die ja vielleicht, möglicherweise, unter Umständen, doch nur als »Fabel«, als »Erzählung« und nicht als Tatsachenbericht gemeint war. Und unser Fazit ist vernichtend. Das Schwert des Scharfrichters hat sich gegen ihn selbst gerichtet. Denn »wer zum Schwert greift, wird durch das Schwert umkommen«.