Im Herbst 1879 begann Steiner mit 18 Jahren sein Studium an der Technischen Hochschule Wien. Er studierte nicht nur Naturwissenschaften, sondern besuchte auch Vorlesungen über geisteswissenschaftliche Fächer und vertiefte sich intensiv in die Philosophie des 18. und 19. Jahrhunderts. Zander zweifelt jedoch daran, dass Steiner sich mehr als das »frei flottierende Bildungswissen« seiner Zeit angeeignet habe.

Auf S. 30-31 schreibt Zander:

»Er las sich, soweit wir seiner Autobiografie glauben dürfen, quer durch die neuere Philosophie: die drei Könige des deutschen Idealismus, Fichte, Schelling und Hegel, die Dichter Jean Paul und Goethe, den materialistischen Philosophen Ludwig Büchner und den Theoretiker des Unbewussten, Eduard von Hartmann ... Aber was kann Steiner eigentlich in welcher Frist mit welcher Intensität gelesen haben? Nehmen wir Fichte, Schelling und Hegel: Andere Menschen vertiefen sich über Monate und Jahre in einen dieser Philosophen, während Steiner in ›Mein Lebensgang‹ so nebenbei bemerkt, auch Hegel gelesen zu haben. Misstrauisch macht, dass Spuren einer dichten Hegel-Exegese in seinem Werk fehlen, die über das hinausgehen, was an frei flottierendem Bildungswissen in der Luft lag.«

Aus Steiners Autobiografie wissen wir, was auch Zander zugesteht, dass er sich bereits gegen Ende seines 15. Lebensjahres mit Kant beschäftigte. Wie intensiv diese Beschäftigung war, geht aus Steiners Bemerkung hervor, »in den Ferienzeiten wurde die Kantlektüre eifrig fortgesetzt. Ich las wohl manche Seite mehr als zwanzigmal hintereinander« (GA 28, S. 30.) Zander selbst erzählt (S. 22-23), dass Steiner sich – vermutlich in seinem 16. Lebensjahr – mit dem Philosophen und Pädagogen Johann Friedrich Herbart auseinandersetzte und mit seinem Lehrer für deutsche Sprache und Literatur Josef Mayer über diesen eine heimliche Debatte führte. Steiner erwarb damals eine Einleitung in die Philosophie und eine Psychologie, die der Herbartianer Gustav Adolf Lindner verfasst hatte.

Im dritten Kapitel seiner Autobiografie berichtet Steiner, er habe seinen ersten Besuch in Wien im August 1879 dazu genutzt, »eine größere Zahl von philosophischen Büchern zu kaufen«. Es lohnt sich, die betreffenden Ausführungen etwas näher in Augenschein zu nehmen.

»Dasjenige, dem nun meine besondere Liebe sich zuwandte, war der erste Entwurf von Fichtes ›Wissenschaftslehre‹. Ich hatte es mit meiner Kantlektüre so weit gebracht, dass ich mir eine, wenn auch unreife Vorstellung von dem Schritte machen konnte, den Fichte über Kant hinaus tun wollte. Aber das interessierte mich nicht allzu stark. Mir kam es damals darauf an, das lebendige Weben der menschlichen Seele in der Form eines strengen Gedankenbildes auszudrücken. Meine Bemühungen um naturwissenschaftliche Begriffe hatten mich schließlich dazu gebracht, in der Tätigkeit des menschlichen ›Ich‹ den einzig möglichen Ausgangspunkt für eine wahre Erkenntnis zu sehen. Wenn das Ich tätig ist und diese Tätigkeit selbst anschaut, so hat man ein Geistiges in aller Unmittelbarkeit im Bewusstsein, so sagte ich mir. Ich meinte, man müsse nun nur, was man so anschaut, in klaren, überschaubaren Begriffen ausdrücken. Um dazu den Weg zu finden, hielt ich mich an Fichtes ›Wissenschaftslehre‹. Aber ich hatte doch meine eigenen Ansichten. Und so nahm ich denn die ›Wissenschaftslehre‹ Seite für Seite vor und schrieb sie um. Es entstand ein langes Manuskript.

Vorher hatte ich mich damit geplagt, für die Naturerscheinungen Begriffe zu finden, von denen aus man einen solchen für das ›Ich‹ finden könne. Jetzt wollte ich umgekehrt von dem Ich aus in das Werden der Natur einbrechen. Geist und Natur standen damals in ihrem vollen Gegensatz vor meiner Seele. Eine Welt der geistigen Wesen gab es für mich. Dass das ›Ich‹, das selbst Geist ist, in einer Welt von Geistern lebt, war für mich unmittelbare Anschauung. Die Natur wollte aber in die erlebte Geisteswelt nicht herein.

Von der ›Wissenschaftslehre‹ ausgehend bekam ich ein besonderes Interesse für die Fichte’schen Abhandlungen ›Über die Bestimmung des Gelehrten‹ und ›Über das Wesen des Gelehrten‹. In diesen Schriften fand ich eine Art Ideal, dem ich selbst nachstreben wollte. Daneben las ich auch die ›Reden an die deutsche Nation‹. Sie fesselten mich damals viel weniger als die andern Fichte’schen Werke.

Ich wollte aber nun doch auch zu einem besseren Verständnis Kants kommen, als ich es bisher hatte gewinnen können. In der ›Kritik der reinen Vernunft‹ wollte sich mir aber dieses Verständnis nicht erschließen. So nahm ich es denn mit den ›Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik‹ auf. An diesem Buche glaubte ich zu erkennen, dass ein gründliches Eingehen auf alle die Fragen, die Kant in den Denkern angeregt hatte, für mich notwendig sei. Ich arbeitete nunmehr immer bewusster daran, die unmittelbare Anschauung, die ich von der geistigen Welt hatte, in die Form von Gedanken zu gießen. Und während diese innere Arbeit mich erfüllte, suchte ich mich an den Wegen zu orientieren, welche die Denker der Kantzeit und diejenigen in der folgenden Epoche genommen hatten. Ich studierte den trockenen, nüchternen ›transzendentalen Synthetismus‹ Traugott Krugs ebenso eifrig wie ich mich in die Erkenntnistragik einlebte, bei der Fichte angekommen war, als er seine ›Bestimmung des Menschen‹ schrieb. Die ›Geschichte der Philosophie‹ des Herbartianers Thilo erweiterte meinen Blick von der Kantzeit aus über die Entwickelung des philosophischen Denkens. Ich rang mich zu Schelling, zu Hegel durch. Der Gegensatz des Denkens bei Fichte und Herbart trat mit aller Intensität vor meine Seele.

Die Sommermonate im Jahre 1879, vom Ende meiner Realschulzeit bis zum Eintritte in die technische Hochschule, brachte ich ganz mit solchen philosophischen Studien zu« (GA 28, S. 39-40).

Im August 1879, so Steiner »nahm ich denn die ›Wissenschaftslehre‹ Seite für Seite vor und schrieb sie um. Es entstand ein langes Manuskript«. Dieses Manuskript hat sich erhalten und wurde in den Beiträgen zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe 1970 (Heft 30) veröffentlicht (Text hier). Liest man dieses Fragment, kann man sich einen guten Eindruck von der Intensität der Auseinandersetzung Steiners mit Fichte verschaffen.

Weitere Zeugnisse für seine philosophische Studien stellen die ältesten erhaltenen Briefe Steiners an seine Jugendfreunde Josef Köck und Rudolf Ronsperger aus dem Jahr 1881 dar (z.B. 13. Januar 1881, 27. Juli 1881, 16. August 1881 oder 26. August 1881).

Dass Steiner durch seine philosophischen Studien weder zu einem Fichte- noch zu einem Hegelexegeten wurde, zeugt eher für als gegen ihn. Schließlich sollte er eine völlig eigenständige Philosophie entwickeln, deren erste Darstellungen sich im ersten Band der Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften von 1883 und den Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung von 1886 finden.

Steiners philosophische Studien, die in seinem 15. Lebensjahr begannen, setzten sich weiter fort, im Grunde bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts, mindestens 25 Jahre. Sie hörten aber auch nach der Jahrhundertwende nicht auf. Alle Zeugnisse für diese Forschungsarbeit aufzuzählen, ist müßig. Jeder, der die vor der Jahrhundertwende erschienenen Werke Steiners liest, wird erkennen können, dass deren Verfasser ein genuiner philosophischer Denker war.

Misstrauisch sollten also nicht Steiners Bemerkungen im dritten Kapitel seiner Autobiografie stimmen, sondern die unendlich oberflächlichen Urteile Zanders.

An den entlegensten Orten sucht Zander nach Bestätigungen seines Generalverdachts gegen Steiner, dieser habe nachträglich seine Biografie umgedeutet, um sie auf seine spätere Rolle als spiritueller Lehrer zuzuschneiden. So auch in der Würdigung eines Philosophen, dessen Vorlesungen Steiner in Wien hörte, des Herbartianers Robert Zimmermann.

Auf S. 31 schreibt Zander:

»Hinsichtlich anderer Autoren lässt sich sogar belegen, dass Steiner deren Bedeutung erst nachträglich schuf. Ein prominenter Fall ist Robert Zimmermann, in dessen Vorlesungen über ›Praktische Philosophie‹ er eine ›starke Anregung‹ erhalten habe, so Steiner 1924. Zieht man allerdings seine Briefe aus dem Jahr 1881 zu Rate, stößt man auf eine gegenläufige Bewertung: Die Freiheitsphilosophie, die er, Steiner, gerade schreibe, werde keinesfalls zimmermannisch aussehen Da fragt man sich, warum Steiner eine derart flotte 180-Grad-Pirouette drehte. Die Lösung findet sich leicht. Zimmermann hatte 1882 ein Buch mit dem Titel Anthroposophie publiziert und erhielt deshalb als semantischer Vorläufer von Steiners Anthroposophie 1924 die Ehre einer wohlwollenden Erwähnung.«

Eine 180-Grad-Pirouette? Die Ehre der Erwähnung wegen eines Buches mit dem Titel »Anthroposophie«? Nichts davon findet sich in Steiners Autobiografie, nichts davon, wenn man seine Ausführungen von 1924 mit dem Brief an Rudolf Ronsperger vom 27. Juli 1881 vergleicht.

Außerdem, wer sagt denn, dass eine »starke Anregung« positiver Natur sein muss, dass sie die Aneignung oder Übernahme eines fremden Standpunktes zur Folge haben muss? Von einer »starken Anregung« spricht Steiner übrigens im selben Kapitel auch im Hinblick auf Schillers »Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen« (S. 52) – und hier kann man zweifelsohne von einer positiven Wirkung sprechen, die sich bis in Steiners Spätzeit verfolgen lässt (man denke nur an die Polarität von Form- und Stofftrieb, deren Vermittlung durch den Spieltrieb und die Bedeutung die dem Prinzip der Dreigliederung in Steiners Anthroposophie zukommt, das ebenfalls auf der Polarität und ihrer Vermittlung durch ein drittes Prinzip beruht). Aber diese deutlichen Hinweise greift Zander merkwürdigerweise nirgends auf.

1881 spricht Steiner davon, seine »Freiheitsphilosophie« – bemerkenswert übrigens, dass er bereits damals plante, eine solche zu verfassen – werde sich von ihrer Form her deutlich von der Darstellungsart Zimmermanns unterscheiden – ein Versprechen, das Steiner mit seiner 1893 erschienenen »Philosophie der Freiheit« dann auch tatsächlich eingehalten hat. Anlehnen wollte er sich an Schillers Briefe über »Naive und sentimentalische Dichtung«, auf alle gelehrten »Schnörkeleien« verzichten und ein philosophisches Werk schreiben, das sich wie ein »unterhaltender und lehrreicher Roman« lese:

»Die Philosophie ist bei mir ein inneres Bedürfnis, ohne die mir das Leben ein leeres Nichts ist; dies Bedürfnis zu befriedigen hat eben mein von Ihnen sogenanntes System. Dies Bedürfnis könnte doch wohl nur mit dem Tode verschwinden. Von einem Fallenlassen kann also doch – wie Sie es ja ohnedies nur tun – nur im Scherze gesprochen werden. Der August wird mir hoffentlich die nötige Ruhe gewähren, einen großen Teil meiner lieben Freiheitsphilosophie zu Papier zu bringen. Ich werde nicht ermangeln, Ihnen von den Fortschritten Mitteilung zu machen. Ich werde mich jeder weiteren Exkursion, allen Vergnügungen zeitraubender Art entziehen und mich bloß dieser Arbeit widmen. Über die Form bin ich ja auch nicht mehr im geringsten im Zweifel; es wird ein schlichter Prosastil; nicht Brief- und nicht Dialogform; ohne viel Paragraphenteilung, ohne die üblichen gelehrten Zitate und schulmäßigen Schnörkeleien. Sehen Sie sich Schillers Aufsatz ›Über naive und sentimentalische Dichtung‹ an und denken Sie sich solche Aufsätze aneinandergereiht, so haben Sie die Form der Freiheitsphilosophie, die auch schon durch ihre Form ankündigen soll, dass sie nicht zimmermannisch aussehen will. Ganz ungezwungen geschriebene, die Liebe zur Sache bekundende, aneinandergereihte Aufsätze zusammenhängenden Inhaltes lesen sich eben angenehmer als Bücher, die nichts als ein auseinandergetriebenes Inhaltsverzeichnis sind. Die Systematik darf natürlich dennoch nicht fehlen; nur muss sie eben nicht im Sinne der [Zimmermannschen] ›Formalästhetik‹ den Leser fortwährend belästigen. Ich würde mich freuen, wenn es dahin käme, durch die Form den Inhalt so nahe zu bringen, dass man philosophische Gedanken wie einen unterhaltenden und lehrreichen Roman liest. Ich glaube wohl, dass es möglich ist. Um was ich Sie bezüglich der ganzen Sache nur bitten möchte, ist das, doch ja nicht – auch nicht scherzweise – anzunehmen, dass ich meine Philosophie aus der Luft gegriffen habe und deshalb auch wieder jeden Augenblick von mir werfen könne. Man kann dies mit einem Werke tun, nicht aber mit einer Welt- und Lebensanschauung. Wo ich hinblicke, sehe ich nur neue Bestätigungen meiner Ansichten und sie überzeugen mich von Tag zu Tag mehr« (GA 38, S. 18-19)

1924 spricht Steiner vom tiefen Eindruck, den es auf ihn machte, Philosophie nicht nur aus Büchern kennenzulernen, sondern aus dem Munde von Philosophen selbst zu hören, von der merkwürdigen Persönlichkeit Zimmermanns, von der Strenge seiner Gedankenfolge, die ihn beeindruckte, von der starken Anregung, die seine Vorträge ihm boten. Gleichzeitig stellt er diese Eindrücke jenen gegenüber, die er von Karl Julius Schröer empfing – und erst in dieser Gegenüberstellung erhält die Schilderung Zimmermanns ihre eigentliche Bedeutung. Denn Schröer lehnte den Herbartianismus ab, er war ganz an Goethes Geistesart hingegeben und hielt ersteren für pedantisch und nüchtern. Gerade »die Verschiedenheit in der Auffassung Schröers und Zimmermanns« interessierte Steiner »tief«.

»Ich konnte nun auch einzelne Vorlesungen an der Universität hören. Auf den Herbartianer Robert Zimmermann hatte ich mich sehr gefreut. Er las ›Praktische Philosophie‹. Ich hörte den Teil seiner Vorlesungen, in denen er die Grundprinzipien der Ethik auseinandersetzte. Ich wechselte ab: ich saß gewöhnlich einen Tag bei ihm, den andern bei Franz Brentano, der zu gleicher Zeit über denselben Gegenstand las. Allzu lange konnte ich das nicht fortsetzen, denn ich versäumte dadurch an der technischen Hochschule zu viel.

Es machte tiefen Eindruck auf mich, die Philosophie nun nicht bloß aus Büchern kennen zu lernen, sondern aus dem Munde von Philosophen selbst zu hören.

Robert Zimmermann war eine merkwürdige Persönlichkeit. Er hatte eine ganz ungewöhnlich hohe Stirn und einen langen Philosophenbart. Alles an ihm war gemessen, stilisiert. Wenn er zur Türe hereinkam, aufs Katheder stieg, waren seine Schritte wie einstudiert und doch wieder so, dass man sich sagte: dem Mann ist es selbstverständlich-natürlich, so zu sein. Er war in Haltung und Bewegung, wie wenn er sich selbst dazu nach Herbart’schen ästhetischen Prinzipien in langer Disziplin geformt hätte. Und man konnte doch rechte Sympathie mit alledem haben. Er setzte sich dann langsam auf seinen Stuhl, schaute dann durch die Brille in einem langen Blicke auf das Auditorium hin, nahm dann langsam gemessen die Brille ab, schaute noch einmal lange unbebrillt über den Zuhörerkreis hin, dann begann er in freier Rede, aber in sorgsam geformten, kunstvoll gesprochenen Sätzen seine Vorlesung. Seine Sprache hatte etwas Klassisches. Aber man verlor wegen der langen Perioden im Zuhören leicht den Faden seiner Darstellung. Er trug die Herbart’sche Philosophie etwas modifiziert vor. Die Strenge seiner Gedankenfolge machte Eindruck auf mich. Aber nicht auf die andern Zuhörer. In den ersten drei bis vier Vorlesungen war der große Saal, in dem er vortrug, überfüllt. ›Praktische Philosophie‹ war für die Juristen im ersten Jahre Pflichtvorlesung. Sie brauchten die Unterschrift des Professors im Index. Von der fünften oder sechsten Stunde an blieben die meisten weg; man war, indem man den philosophischen Klassiker hörte, nur noch mit ganz wenigen Zuhörern zusammen auf den vordersten Bänken.

Für mich boten diese Vorträge doch eine starke Anregung. Und die Verschiedenheit in der Auffassung Schröders und Zimmermanns interessierte mich tief. ...

In den Bibliotheken beschäftigte ich mich mit Herbarts ›Metaphysik‹, mit Zimmermanns ›Ästhetik als Formwissenschaft‹, die vom Herbart’schen Standpunkte aus geschrieben war. Dazu kam ein eingehendes Studium von Ernst Haeckels ›Genereller Morphologie‹. Ich darf wohl sagen: alles, was ich durch Schröers und Zimmermanns Vorlesungen, sowie durch die gekennzeichnete Lektüre an mich herantretend fand, wurde mir damals zum tiefsten Seelenerlebnis. Wissens- und Weltauffassungsrätsel formten sich mir daran« (GA 28, S. 42-43).

Ein irreführendes Bild zeichnet Zander von der Bedeutung, die Karl Julius Schröer für Steiner hatte. Er soll nicht nur eine Art Vaterersatz für ihn gewesen sein, sondern auch sein Führer auf dem Weg in die idealistische Philosophie.

Auf S. 21-22 schreibt Zander:

»Schröer wurde Steiners Führer auf dem Weg in die idealistische Philosophie. ›Ich hörte mit der allergrößten Sympathie alles, was von Schröer kam‹, erinnert sich noch der 62-jährige Steiner, der längst selbst zum spirituellen Lehrer avanciert war.«

War Schröer Steiners Führer in die idealistische Philosophie? Auch dafür gibt es keinerlei Anhaltspunkte. Im Gegenteil. Unmittelbar an den von Zander – falsch – zitierten Satz (›Ich hörte mit der allergrößten Sympathie alles, was von Schröer kam‹) schließt sich in Steiners Autobiografie der folgende an (zuerst wird der falsch zitierte noch einmal richtig zitiert)

»Ich hörte geistig mit der allergrößten Sympathie alles, was von Schröer kam. Dennoch konnte ich nicht anders, als auch ihm gegenüber, das, wonach ich geistig intim strebte, in der eigenen Seele ganz unabhängig aufbauen« (GA 28, S. 69).

Das ist aber noch nicht alles. Der ganze weitere Absatz charakterisiert den Schröerschen »Idealismus« und führt aus, warum Schröer für Steiner kein »Führer« zu diesem Idealismus sein konnte. Steiner fährt nach den eben zitierten Sätzen fort:

»Schröer war Idealist; und die Ideenwelt als solche war für ihn das, was in Natur- und Menschenschöpfung als treibende Kraft wirkte. Mir war die Idee der Schatten einer volllebendigen Geisteswelt. [kurs. red.] Ich fand es damals sogar schwierig, für mich selbst den Unterschied zwischen Schröers und meiner Denkungsart in Worte zu bringen. Er redete von Ideen als von den treibenden Mächten in der Geschichte. Er fühlte Leben in dem Dasein der Ideen. Für mich war das Leben des Geistes hinter den Ideen, und diese nur dessen Erscheinung in der Menschenseele. Ich konnte damals kein anderes Wort für meine Denkungsart finden als ›objektiver Idealismus‹. Ich wollte damit sagen, dass für mich das Wesentliche an der Idee nicht ist, dass sie im menschlichen Subjekt erscheint, sondern dass sie wie etwa die Farbe am Sinneswesen an dem geistigen Objekte erscheint, und dass die menschliche Seele – das Subjekt – sie da wahrnimmt, wie das Auge die Farbe an einem Lebewesen ...

So hing ganz stark in der damaligen Zeit mein Erleben mit meinem Verhältnis zu Karl Julius Schröer zusammen. Was ihm aber ferner lag, und womit ich vor allem nach einer innerlichen Auseinandersetzung strebte, das waren die Naturwissenschaften. Ich wollte auch meinen ›objektiven Idealismus‹ im Einklange mit der Naturerkenntnis wissen« (GA 28, S. 69-70).

Schröer vermochte zu diesem »objektiven Idealismus« keinen Zugang zu finden, ebensowenig wie zu den Naturwissenschaften. Daher übertrug er auch die an ihn herangetragene Aufgabe, Goethes Naturwissenschaftliche Schriften herauszugeben, auf seinen 22-jährigen Studenten. Dieses biografische Ereignis, das für Steiners weitere geistige Entwicklung von entscheidender Bedeutung war, hatte tiefere Hintergründe. Laut einem Gespräch, das Walter Johannes Stein 1922 mit Steiner führte, wäre es tatsächlich Schröers Aufgabe gewesen, das naturwissenschaftliche Denken der damaligen Zeit zu spiritualisieren. Aber Schröer schreckte vor dieser Aufgabe zurück. Daher entschloss sich Steiner, diese Aufgabe Schröers zu übernehmen. Steiner soll gegenüber Stein geäußert haben: »Indem ich diesen Entschluss damals fasste, erlebte ich das Wesen der Freiheit. Ich konnte meine ›Philosophie der Freiheit‹ schreiben, weil ich erlebt hatte, was Freiheit ist« (W.J. Steiner/Rudolf Steiner. Dokumentation eines wegweisenden Zusammenwirkens, Dornach 1985, S. 296).

Steiner selbst deutet diese Hintergründe in einem Vortrag an, den er am 23. September 1924 über Schröer und Plato hielt (Text hier).

Mit welcher professoralen Herablassung, die selbst vor Denigration nicht zurückschreckt, der selbsternannte Biograf seinen Gegenstand behandelt, zeigt sich auch an Zanders Kommentar zu Steiners erstem überliefertem Brief, einem Schreiben an seinen Freund Josef Köck aus dem Jahr 1881.

Zander schreibt auf S. 39 zu diesem Brief:

»Dieser Brief ist ein Wechselbalg. Er suggeriert unmittelbare Erfahrung und ist doch durchtagelanges Nachdenken stilisiert. Dabei tritt Steiner wieder in der Pose des Lehrers auf, der von seinem ›Forschen‹ erzählt. Er gibt sich abgeklärt und souverän. Doch daneben stehen Formulierungen mit einem emotionalen Ausschlag, etwa die Rede von der ›Entdeckung‹ inmitten der Schlaflosigkeit.«

Von jemand, der spirituell taub ist, kann man nichts anderes erwarten, als dass er keinerlei Verständnis für eine spirituelle Erfahrung aufbringt. Erstaunlich ist aber doch die Dreistigkeit, mit der dieser authentische Bericht einer spirituellen Erfahrung der Lächerlichkeit preisgegeben wird. Von »Stilisierung« ist die Rede, von »Suggestion«, von »Posieren«, von »Sichgeben«, der ganze Brief wird als »Wechselbalg« bezeichnet.

Was ist ein Wechselbalg? Ein »Wechselbalg« ist laut »Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens« ein Kobold- oder Elbenwesen, das der Mutter anstelle ihres eigenen Kindes in die Wiege gelegt wird: »Kleine Kinder, als noch nicht ganz dem Geisterreiche entzogene und dem Irdischen verhaftete Seelenwesen, sind mannigfachen Angriffen von seiten der Geisterwelt, insbesondere der Elben und Kobolde, ausgesetzt und hilfloser gegen sie als Erwachsene.

Am gefährdetsten sind die Säuglinge während des Wochenbettes der Mutter und vor ihrer Taufe. In dieser Zeit müssen sie bei Tag und Nacht vor dem Angriffe der Zwerge, Wichtel, Nixen oder anderer Kobolde bewacht werden. Alle diese stehlen die Kinder und legen an ihrer Stelle einen Wechselbalg in die Wiege. Die erwachende Mutter sieht zwei Kinder nebeneinander, und wenn sie nicht nach dem richtigen greift, so ist ihr das eigene verloren« (HWA Bd. 4, 1364).

Übertragen wir diese Vorstellungen auf Zanders Verwendung dieses Ausdrucks, haben wir es in diesem Brief also mit einem Wichtelkind zu tun, einem Angehörigen der Anderwelt, der an die Stelle des leiblichen Kindes der Mutter in die Wiege gelegt wurde. Die Rede von einem Wechselbalg setzt den Glauben an die Existenz geistiger Naturwesen voraus, die mit der menschlichen Welt interagieren und ein Interesse daran haben, Menschenkinder in die Anderwelt zu entführen. Wie kann Zander, der doch die reale Existenz des Geistigen ablehnt, von einem »Wechselbalg« sprechen? Und hat diese Metapher im vorliegenden Kontext überhaupt irgendeinen Sinn? Wurde der ursprüngliche Brief, den Steiner geschrieben hat, von einem Wichtel durch einen anderen ersetzt, der sich nun in der Gesamtausgabe befindet? Wer ist in diesem Fall die Mutter? Rudolf Steiner? Hat er nicht bemerkt, dass der von ihm ursprünglich verfasste Brief durch einen anderen ersetzt wurde? Oder ist die Verwechslung erst beim Adressaten, also Josef Köck aufgetreten, weil er einen Augenblick nicht aufgepasst hat? Oder erst bei den Autografensammlern, die ihn in den Nachlass aufnahmen? Das alles macht überhaupt keinen Sinn.

Oder bezieht sich der Ausdruck »Wechselbalg« möglicherweise auf den Inhalt? Oder bezieht er sich gar auf den Autor des Briefes? Sieht Zander in Steiner möglicherweise den Wechselbalg? Was Zander offenbar sagen will, ist, dass es sich bei dem Brief um eine bewusst angelegte Täuschung, eine Irreführung handelt. Das wiederum kann nur bedeuten, dass Steiner der Wichtel war, der anstelle eines authentischen Inhaltes (des wahren Kindes) eine täuschend ähnliche Kopie gesetzt hat, die aber doch unwahr ist. Steiner als Elb, der seine Leser täuscht, Zander als Geisterjäger, der dieses Wesen aus der Anderwelt mit den Beschwörungsformeln seiner Kritik exorziert – das Ganze wird immer absurder.

Der Wortlaut des am 13. Januar 1881 verfassten Briefes im Auszug:

»Lieber, getreuer Freund!

Es war die Nacht vom 10. auf den 11. Januar, in der ich keinen Augenblick schlief. Ich hatte mich bis 1/2 1 Uhr mitternachts mit einzelnen philosophischen Problemen beschäftigt, und da warf ich mich endlich auf mein Lager; mein Bestreben war voriges Jahr, zu erforschen, ob es denn wahr wäre, was Schelling sagt: ›Uns allen wohnt ein geheimes, wunderbares Vermögen bei, uns aus dem Wechsel der Zeit in unser innerstes, von allem, was von außen hinzukam, entkleidetes Selbst zurückzuziehen und da unter der Form der Unwandelbarkeit das Ewige in uns anzuschauen.‹ Ich glaubte und glaube nun noch, jenes innerste Vermögen ganz klar an mir entdeckt zu haben – geahnt habe ich es ja schon längst –; die ganze idealistische Philosophie steht nun in einer wesentlich modifizierten Gestalt vor mir; was ist eine schlaflose Nacht gegen solch einen Fund!« (GA 38, S. 13 – der ganze Brief findet sich hier).

Warum sollte der 20-jährige, der ihn verfasst hat, hier als »Poseur« auftreten, der etwas »suggerieren« will? Warum muss man einen Hintersinn in diese Sätze hineinlesen, der nur Sinn macht, wenn man von der Annahme ausgeht, Steiner hätte es bereits als Zwanzigjähriger darauf angelegt, seine Umgebung zu täuschen und sich – wie Zander so gerne sagt – schon damals als künftiger Geisteslehrer »strategisch zu positionieren«? Zanders Lektüre leidet offensichtlich an jener geistigen Krankheit, die er Steiner vorwirft, der unüberwindlichen Neigung, die Vergangenheit umzudeuten, das Frühere im Lichte des Späteren umzuinterpretieren. Zanders Lesart macht nur Sinn, wenn man annimmt, Steiner habe schon als Zwanzigjähriger jene spätere »Täuschung« anvisiert, durch die er sich als Seher und Geisteslehrer im theosophischen Kontext zu etablieren vermochte. Sie setzt die Präexistenz eines späteren Seinszustandes im früheren voraus, von dem wir niemals etwas wissen könnten, wäre er nicht später in Erscheinung getreten. Eine solche Interpretation hat nichts mit Historiografie oder Hermeneutik zu tun, es handelt sich schlicht um Projektion – um jene große »Oper«, deren Komponist, Interpret und einziger Zuhörer Zander ist.

In ein schier unentwirrbares Gespinst aus Dichtung und Wahrheit führt uns Zanders Exkurs über Steiners Begegnung mit dem Kräutersammler Felix Koguzki. Dieses Gespinst existiert aber nicht etwa in Steiners Selbstdarstellung oder in der Realität, sondern allein in Zanders Kopf.

Auf S. 39-41 schreibt Zander [die Behauptungen, auf die näher eingegangen wird, sind in eckigen Klammern mit Zahlen versehen]:

»Man könnte mit diesem Hinweis die Chronistenpflicht für erledigt halten, stieße man nicht in der anthroposophischen Steiner-Literatur auf eine große Oper:

[1] Der Kräutersammler sei in Wahrheit ein ›okkulter Lehrer‹, Steiners ›Meister‹ gewesen und habe ihm eine okkulte Unterweisung erteilt – so Christoph Lindenberg ... Woher weiß er das?

Natürlich hat Steiner die entscheidende Fährte gelegt.

[2] Seine große Erzählung über den Meister aus Trumau beginnt 1907, als er sich in der Theosophischen Gesellschaft als eigenständiger spiritueller Lehrer auszuweisen sucht und einem befreundeten Theosophen, dem elsässischen Schriftsteller Edouard Schuré eine autobiographische Skizze zukommen lässt ... Hier erfährt man erstmals, dass Steiner ... die Bekanntschaft mit dem Gesandten des Meisters gemacht habe, der in die ›Geheimnisse‹ des Kosmos ... ›vollkommen eingeweiht‹ gewesen sei und ihn in Kontakt mit dem Meister gebracht habe.

[3] 1913 ... stellt sich Steiner erneut als Eingeweihter [sic!] dar und kommt wiederum auf diesen Dürrkräutler zu sprechen. Er habe ›ungeheure okkulte Tiefen besessen und sei der ›Verkünder einer anderen Persönlichkeit‹ gewesen – den Begriff des ›Meisters‹ meidet Steiner ...

[4] in seiner Autobiografie spricht Steiner nochmals von dem Heilkräutersammler, aber wieder ist von Meistern keine Rede mehr ...

[5] Angesichts dieser immer wieder veränderten Aussagen liegt der strategische Einsatz der Informationen über den Kräutersammler offen zutage ...

Bei einem so gewaltigen Opernfinale hilft nur die Handwerksarbeit des Historikers, der dem ›Vetorecht der Quellen‹ ... Geltung verschaffen kann.

[6] Dabei ist ein Brief Steiners vom 26. August 1881 ... von zentraler Bedeutung ... Liest man Steiners Brief ..., stößt man auf einige Zeilen, in denen er von einem Fußweg nach Trumau berichtet ... Von Meistern, Agenten und Unterweisungen keine Rede ...

Nun kann man behaupten, Steiner habe Ronsperger von seinen ›ethnologischen‹ Exkursionen berichten wollen, von seinem Initiationserlebnis aber eisern geschwiegen. Doch ... von auch nur vorsichtigem Respekt gegenüber einem Meister keine Spur. Angesichts des völligen Fehlens weiterer Hinweise auf eine ›Initiations‹-Erfahrung im Umfeld dieser Begegnung liegt ein anderer Schluss nahe: Felix Koguzki war ein normaler Mensch ...

[7] Dieser Dürrkräutler mag Steiner beeindruckt haben ... Aber ein theosophischer ›Meister‹ wird daraus nicht.«

[1] Hat Steiner jemals behauptet, in Felix Koguzki seinem »theosophischen Meister« begegnet zu sein? Oder hat dies im Anschluss an ihn ein anthroposophischer Autor getan? Hat es die »große Erzählung über den Meister aus Trumau« jemals gegeben?

Natürlich nicht. Doch der Reihe nach. Zander beginnt mit Christoph Lindenbergs Steiner-Biografie, die er vermutlich als Hauptquelle – allerdings falsch – plagiiert hat.

Lindenberg schreibt sachgemäß und wahrheitsgetreu über Steiners Begegnung mit Koguzki. Dabei stützt er sich auf dessen Aufzeichnungen für Schuré (1907) und den autobiografischen Vortrag von 1913:

»In dem autobiografischen Vortrag vom 4. Februar 1913 nennt Steiner den Kräutersammler den ›Vorherverkünder einer anderen Persönlichkeit‹, und in den Aufzeichnungen für Edouard Schuré aus dem Jahre 1907 heißt es: ›Nicht sogleich begegnete ich dem M. (Meister), sondern einem von ihm Gesandten, der in die Geheimnisse der Wirksamkeit aller Pflanzen und ihres Zusammenhanges mit dem Kosmos und mit der menschlichen Natur vollkommen eingeweiht war. Ihm war der Umgang mit den Geistern der Natur etwas Selbstverständliches, das ohne Enthusiasmus vorgebracht wurde, doch um so mehr Enthusiasmus erweckte.‹ Der Kräutersammler bereitete also – wissend oder unwissend – die Begegnung mit dem eigentlichen okkulten Lehrer, den Steiner 1907 nach theosophischem Brauch einen Meister nannte, vor« (Lindenberg 1997, Bd. I, S. 88)

Kein Wort bei Lindenberg von dem, was Zander ihm unterstellt. Lindenberg bezeichnet Koguzki weder als »okkulten Lehrer« noch als »Meister«, vielmehr unterscheidet er – so wie dies ja auch Steiner tut – zwischen Koguzki, dem Gesandten des »Meisters« und dem Meister selbst. Damit ist zugleich das blödsinnige Gerede von der »großen Erzählung des Meisters aus Trumau« ad absurdum geführt. Zander selbst bezeichnet unter Bezug auf die Dokumente von Barr Koguzki nunmehr als »Gesandten des Meisters«.

[2] Aber sprechen die Dokumente von Barr [→ Text] davon, Koguzki habe Steiner »in Kontakt mit dem Meister gebracht«? Nein, das tun sie nicht. Koguzki hat also auch nicht Steiners »Kontakt« zu seinem Meister »hergestellt«. Suchte sich Steiner 1907 »in der Theosophischen Gesellschaft als eigenständiger spiritueller Lehrer« auszuweisen? Nun, erstens hatte er das bereits umfassend durch seine öffentlich zugänglichen Publikationen, z.B. »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?« getan, und zweitens wäre der Ort und die Gelegenheit eines solchen Ausweises denkbar ungeeignet für die unterstellte Absicht gewesen. Um dem »Vetorecht der Quellen« gegen Zander Geltung zu verschaffen: Bei den Aufzeichnungen Rudolf Steiners handelte es sich um private Mitteilungen, die auch nirgends veröffentlicht wurden. Erstmals erschienen sie in Band I der Briefe Rudolf Steiners im Jahr 1948.

[3] Hat sich Steiner 1913 in seinem autobiografischen Vortrag »erneut als Eingeweihten« dargestellt? Nein, hat er nicht.

Der autobiografische Vortrag von 1913:

»Schon im ersten Jahre des Hochschulstudiums [1879/ 80] trat etwas ganz Besonderes ein. Durch eine besondere Verkettung von Umständen trat in den Gesichtskreis des Knaben eine merkwürdige Persönlichkeit, eine Persönlichkeit, die keine Gelehrsamkeit hatte, aber ein umfassendes tiefes Wissen und eine umfassende tiefe Weisheit. Nennen wir jene Persönlichkeit, wie sie mit ihrem Vornamen wirklich hieß, ›Felix‹, der in einem abgelegenen, einsamen Gebirgsdörfchen mit seiner bäuerlichen Familie lebte, das Zimmer voll hatte mit mystisch-okkulter Literatur, selber tief eingedrungen war in mystisch-okkulte Weisheit und der seine Hauptzeit zuzubringen hatte mit dem Sammeln von Pflanzen. Er sammelte überall in den dortigen Gegenden die verschiedensten Pflanzen und verstand es – das konnte man gewahr werden, wenn man ihn, wie das nur selten, aber doch der Fall war, begleiten durfte auf seinen einsamen Wanderungen – jede einzelne Pflanze aus ihrem Wesen, aus ihren okkulten Untergründen heraus zu erklären. In jenem Manne waren ganz ungeheure okkulte Tiefen. Es war bedeutsam, was mit ihm besprochen werden konnte, wenn er, auf dem Rücken sein Bündel mit einer großen Anzahl von Pflanzen, die er gesammelt und getrocknet hatte, dann in die Hauptstadt fuhr, wohin der Knabe zu fahren hatte. Da gab es sehr wichtige Gespräche mit diesem Manne, den man in Österreich einen ›Dürrkräutler‹ nennt, einen, der Kräuter sammelt und trocknet und sie dann in die Apotheken trägt. Das war der äußere Beruf des Mannes, der innere war freilich ein ganz anderer. Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass er alles in der Welt liebte und nur bitter wurde – das sei aber nur kulturhistorisch erwähnt –, wenn er auf klerikale Verhältnisse zu sprechen kam und auf das, was auch er durch die klerikalen Verhältnisse auszustehen hatte; dem war er nicht liebevoll geneigt.

Es folgte aber bald darauf noch etwas anderes. Mein Felix war gewissermaßen nur der Vorherverkünder einer anderen Persönlichkeit, die sich eines Mittels bediente, um in der Seele des Knaben, der ja in der spirituellen Welt darinnen stand, die regulären, systematischen Dinge anzuregen, mit denen man bekannt sein muss in der spirituellen Welt. Es bediente sich jene Persönlichkeit, die nun wieder so fremd wie möglich allem Klerikalismus gegenüberstand und damit selbstverständlich gar nichts zu tun hatte, eigentlich der Werke Fichtes, um gewisse Betrachtungen daran anzuknüpfen, aus denen sich Dinge ergaben, in welchen doch die Keime zu der ›Geheimwissenschaft‹ gesucht werden könnten, die der Mann, der aus dem Knaben geworden ist, später schrieb. Und manches, aus dem die ›Geheimwissenschaft‹ geworden ist, wurde damals in Anknüpfung an Fichtes Sätze erörtert.

Ebenso unansehnlich im äußeren Berufe war jener ausgezeichnete Mann wie Felix auch. Ein Buch war es, das er gleichsam als Anhaltspunkt benutzte, das wenig in der äußeren Welt bekannt geworden ist und das in Österreich oft wegen seiner antiklerikalen Richtung unterdrückt wurde, durch welches man sich aber zu ganz besonderen geistigen Wegen und geistigen Pfaden anregen lassen kann. Jene eigenartigen Strömungen, die durch die okkulte Welt gehen, die man nur erkennen kann, wenn man eine aufwärts- und eine abwärtsgehende Doppelströmung ins Auge fasst, traten damals lebendig vor des Knaben Seele. Es war in der Zeit, da der Knabe noch nicht den zweiten Teil des ›Faust‹ gelesen hatte, als er auf diese Weise okkult eingeführt wurde. Es ist nicht nötig, über diesen Punkt der okkulten Schulung des jetzigen Jünglings, zu dem der Knabe herangewachsen war, weiter zu sprechen. Denn alles, was sich ihm darbot, blieb in der Seele des Jünglings; er erlebte es in sich selbst und schritt seinen äußeren Lebensweg weiter fort.« (→ Der gesamte Vortrag ist hier zugänglich).

[4] Schließlich Steiners Autobiografie von 1924. »Wieder«, behauptet Zander, »ist von Meistern keine Rede mehr.« Von Meistern nicht, aber von einem »Eingeweihten« – und zwar wird Felix Koguzki als solcher bezeichnet.

»Da geschah es, dass ich mit einem einfachen Manne aus dem Volke bekannt wurde. Er fuhr jede Woche mit demselben Eisenbahnzuge nach Wien, den ich auch benützte. Er sammelte auf dem Lande Heilkräuter und verkaufte sie in Wien an Apotheken. Wir wurden Freunde. Mit ihm konnte man über die geistige Welt sprechen wie mit jemand, der Erfahrung darin hatte. Er war eine innerlich fromme Persönlichkeit. In allem Schulmäßigen war er ungebildet. Er hatte zwar viele mystische Bücher gelesen; aber, was er sprach, war ganz unbeeinflusst von dieser Lektüre. Es war der Ausfluss eines Seelenlebens, das eine ganz elementarische, schöpferische Weisheit in sich trug. Man konnte bald empfinden: er las die Bücher nur, weil er, was er durch sich selbst wusste, auch bei andern finden wollte. Aber es befriedigte ihn nicht. Er offenbarte sich so, als ob er als Persönlichkeit nur das Sprachorgan wäre für einen Geistesinhalt, der aus verborgenen Welten heraus sprechen wollte. Wenn man mit ihm zusammen war, konnte man tiefe Blicke in die Geheimnisse der Natur tun. Er trug auf dem Rücken sein Bündel Heilkräuter; aber in seinem Herzen trug er die Ergebnisse, die er aus der Geistigkeit der Natur bei seinem Sammeln gewonnen hatte. Ich habe manchen Menschen lächeln gesehen, der zuweilen als Dritter sich angeschlossen hatte, wenn ich mit diesem ›Eingeweihten‹ durch die Wiener Alleegasse ging. Das war kein Wunder. Denn dessen Ausdrucksweise war nicht von vorneherein verständlich. Man musste gewissermaßen erst seinen ›geistigen Dialekt‹ lernen. Auch mir war er anfangs nicht verständlich. Aber vom ersten Kennenlernen an hatte ich die tiefste Sympathie für ihn. Und so wurde es mir nach und nach, wie wenn ich mit einer Seele aus ganz alten Zeiten zusammen wäre, die unberührt von der Zivilisation, Wissenschaft und Anschauung der Gegenwart, ein instinktives Wissen der Vorzeit an mich heranbrächte.

Nimmt man den gewöhnlichen Begriff des ›Lernens‹, so kann man sagen: ›Lernen‹ konnte man von diesem Manne nichts. Aber man konnte, wenn man selbst die Anschauung einer geistigen Welt hatte, in diese durch einen Andern, in ihr ganz Feststehenden, tiefe Einblicke tun.

Und dabei lag dieser Persönlichkeit alles weltenferne, was Schwärmerei war. Kam man in sein Heim, so war man im Kreise der nüchternsten, einfachen Landfamilie. Über der Türe seines Hauses standen die Worte: ›In Gottes Segen ist alles gelegen.‹ Man wurde bewirtet, wie bei andern Dorfbewohnern. Ich habe immer Kaffee trinken müssen, nicht aus einer Tasse, sondern aus einem ›Häferl‹, das nahezu einen Liter fasste; dazu hatte ich ein Stück Brot zu essen, das Riesendimensionen hatte. Aber auch die Dorfbewohner sahen den Mann nicht für einen Schwärmer an. An der Art, wie er sich in seinem Heimatorte gab, prallte jeder Spott ab. Er hatte auch einen gesunden Humor und wusste im Dorfe mit jung und alt bei jeder Begegnung so zu reden, dass die Leute an seinen Worten Freude hatten. Da lächelte niemand so wie die Leute, die mit ihm und mir durch die Wiener Alleegasse gingen und die in ihm zumeist etwas sahen, das ihnen ganz fremd erschien. Mir blieb dieser Mann, auch als das Leben mich wieder von ihm weggeführt hatte, seelennahe. Man findet ihn in meinen Mysteriendramen in der Gestalt des Felix Balde« (GA 28, 61-62).

[5] Liegt nach all dem »angesichts dieser immer wieder veränderten Aussagen« »der strategische Einsatz der Informationen über den Kräutersammler offen zutage«?, wie Zander behauptet? Sicher nicht in dem Sinne, in dem Zander unterstellt. Offen zutage liegt aber, dass Steiner nicht jedem und jedem Forum die intimsten Tatsachen seiner geistigen Biografie offenbarte. Gegenüber Edouard Schuré tat er dies in einem historisch einzigartigen Moment privatim, gegenüber der eben ausgeschlossenen Mitgliedschaft in einem internen Vortrag ebenfalls aus historischem Anlass, nicht jedoch der allgemeinen Öffentlichkeit gegenüber in seiner Autobiografie. Steiner wäre es als illegitim erschienen, sich vor der Öffentlichkeit statt auf seine positiven Leistungen auf eine Einweihung oder einen Meister zu berufen. Aber selbst das eine Mal, als er es tat (1907), stellt diese Erwähnung keine Berufung auf eine höhere Autorität dar, sondern lediglich eine schlichte Feststellung.

[6] Die Vermutung des besonderen Kontextes gilt auch für Steiners Brief an seinen Jugendfreund Rudolf Ronsperger, in dem er von seinem Besuch in Trumau berichtet: »Ich komme gerade jetzt aus Münchendorf, ich habe von dort aus den Weg nach Trumau hin et retour zu Fuß zurückgelegt; ein Weg von einer Stunde hin und ebensoviel wieder zurück. Ich lerne dabei das niederösterreichische Volk kennen und zugleich liebgewinnen. Diese Leute kommen einem mit einer erstaunlichen Aufmerksamkeit entgegen und werden bald recht zutraulich.« (→ Der ganze Brief ist hier zugänglich).

Offensichtlich war Rudolf Ronsperger kein Mensch, mit dem Steiner seine intimsten geistigen Erfahrungen geteilt hätte, das geht auch aus seinen sonstigen Briefen an ihn hervor.

Geradezu ein Treppenwitz ist Zanders Bemerkung: »Angesichts des völligen Fehlens weiterer Hinweise auf eine ›Initiations‹-Erfahrung im Umfeld dieser Begegnung liegt ein anderer Schluss nahe: Felix Koguzki war ein normaler Mensch.«

Hätte Zander denn solche Hinweise auf eine Initiations-Erfahrung auch nur im Ansatz Ernst genommen? So ernst, wie er Steiners Bericht über eine »Initiationserfahrung« an seinen Jugendfreund Josef Köck vom 13. Januar 1881 genommen hat, einen Bericht, er als »Wechselbalg« zu bezeichnen geruhte? Sind Initiationserfahrungen etwas, womit man bei Hinz und Kunz hausieren geht? Und dass Koguzki gerade kein »normaler Mensch« war, geht aus allen Schilderungen Steiners zur Genüge hervor.

[7] Zander schließt mit einem Fazit, in dem er die eine Seite zuvor gewonnene Einsicht, dass Koguzki nicht der Meister, sondern nur dessen Vorbote war, schon wieder vergessen hat: »Dieser Dürrkräutler mag Steiner beeindruckt haben ... Aber ein theosophischer ›Meister‹ wird daraus nicht.« Steiner hat aus Koguzki auch nie einen »theosophischen Meister« gemacht. Kein anderer anthroposophischer Autor hat das getan. Der einzige, der es getan hat, ist der schrille Diskant Helmut Zanders.