Zander hält sich nicht nur für den berufenen Biografen, sondern auch für den berufenen Interpreten von Steiners Philosophie. Wie wenig Zander imstande ist, Steiners Philosophie zu verstehen, wurde bereits in der Analyse seines Werkes »Anthroposophie in Deutschland« hinlänglich gezeigt. Hier ein Beispiel aus seiner »Biografie«.

Auf S. 46 versucht Zander vergeblich, Ausführungen aus Steiners »Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung« über das Verhältnis von Wahrnehmung und Begriff wiederzugeben:

»Wie gewinnt man [laut Steiner] den Allgemeinbegriff ›Dreieck‹? Steiner geht davon aus, dass es Dreiecke gibt, ohne dass wir sie sehen, dass Dreiecke also unserer Wahrnehmung vorausliegen. Das Dreieck komme also ›nicht durch die bloße Betrachtung aller einzelnen Dreiecke‹ zustande, sondern existiere bereits, eben als Idee. Abstrakter gesagt: Im Denken werde der Gegenstand (das Dreieck ›an sich‹) ›unmittelbare Erfahrung‹ (›das wahrgenommene Dreieck‹), und diese ›Erfahrung in der höchsten Form, sie weist jeden Versuch zurück, etwas von außen in die Erfahrung hineinzutragen‹. Im Denken also, meint Steiner, ergreifen wir, besitzen wir die Idee ...

In Steiners Augen konstruieren wir nicht vom gesehenen Dreieck ausgehend die Idee des Dreiecks, sondern weil wir die Idee des Dreiecks haben, erfahren wir das Dreieck materiell«.

Lässt sich in diesem verworrenen Gedankengang irgendein Sinn erkennen?

Steiner, so behauptet Zander, gehe davon aus, dass es Dreiecke (in der Mehrzahl) gebe, ohne dass wir sie sehen. Davon geht aber Steiner beileibe nicht aus. Es gibt nur ein einziges Dreieck, das wir nicht sehen, das Dreieck nämlich, das wir denken, den Begriff, das Gesetz des Dreiecks, das alle denkbaren Dreiecke potentiell in sich enthält und aus dem sie alle abgeleitet werden können. Aus dieser Idee geht aber kein einziges sichtbares (gezeichnetes, konstruiertes Dreieck an einer Wandtafel zum Beispiel) als Wahrnehmung hervor. Die Idee oder der Begriff des Dreiecks lässt sich schlechterdings nicht (sinnlich) wahrnehmen, da jedes wahrnehmbare Dreieck immer ein bestimmtes, mit bestimmten Längen, Winkelabmessungen in einzigartigen, wahrnehmbaren Kontexten ist. Genau aus diesem Grund lässt sich die Idee des Dreiecks, die ja festhält, was allen Dreiecken gemeinsam ist, auch nicht aus der Wahrnehmung noch so vieler Dreiecke abstrahieren.

Nun unterstellt aber Zander Steiner noch einen weiteren absurden Gedanken: Im Denken, so behauptet er, werde – nach Steiners Auffassung – »der Gegenstand (das Dreieck ›an sich‹) ›unmittelbare Erfahrung‹ (›das wahrgenommene Dreieck‹)«. Das gedachte Dreieck verwandle sich also im Handumdrehen (oder Denkumdrehen?) in ein wahrgenommenes Dreieck. Außerdem solle es sich dabei um »Erfahrung in ihrer höchsten Form« handeln, die »jeden Versuch« zurückweise, »etwas von außen in die Erfahrung hineinzutragen«.

Kann man sich darunter irgendetwas vorstellen? Eine Erfahrung die gedachte Dreiecke in wahrgenommene verwandelt und nichts in die Erfahrung von außen hineintrage? »Weil wir die Idee des Dreiecks haben, erfahren wir das Dreieck materiell«??

Das soll Steiner gedacht haben? Nun, diese gedankliche Groteske ist allein Zanders Unfähigkeit zu verdanken, einen Gedankengang Steiners adäquat wiederzugeben. Lesen wir in den »Grundlinien ...« nach:

»Der Begriff ›Dreieck‹«, so Steiner, »umfasst alle Dreiecke. Wir kommen nicht durch die bloße Betrachtung aller einzelnen Dreiecke zu ihm. Dieser Begriff bleibt immer derselbe, so oft ich ihn auch vorstellen mag, während es mir wohl kaum gelingen wird, zweimal dasselbe ›Dreieck‹ anzuschauen. Das, wodurch das Einzeldreieck das vollbestimmte ›dieses‹ und kein anderes ist, hat mit dem Begriffe gar nichts zu tun. Ein bestimmtes Dreieck ist dieses bestimmte nicht dadurch, dass es jenem Begriffe entspricht, sondern durch Elemente, die ganz außerhalb des Begriffes liegen: Länge der Seiten, Größe der Winkel, Lage usw. Es ist aber doch ganz unstatthaft zu behaupten, dass der Inhalt des Begriffes ›Dreieck‹ aus der objektiven Sinnenwelt entlehnt sei, wenn man sieht, dass dieser sein Inhalt überhaupt in keiner sinnenfälligen Erscheinung enthalten ist« (GA 2, S. 59-60).

In diesem Kontext – der Erörterung über das Verhältnis von Begriff des Dreiecks und Wahrnehmung eines einzelnen Dreiecks – taucht nirgends die Formel von der »höchsten Erfahrung« und vom »Hineintragen von außen« auf. Man wundert sich auch, was sie hier zu suchen hätte. Sie steht in den »Grundlinien ...« in einem gänzlich anderen Kontext. Dort nämlich, wo Steiner sich mit einer willkürlichen Interpretation des Erfahrungsprinzips auseinandersetzt und darauf besteht, es in seiner schroffsten Form festzuhalten. Dieses positivistische Postulat – so weist Steiner nach – lässt sich paradoxerweise nicht gegenüber den Sinneswahrnehmungen, wohl aber gegenüber dem Denken durchführen, weil das Denken in der ersten Form seines Auftretens bereits eine wissenschaftliche Form besitzt – die begriffliche nämlich:

»Bei der Erfahrung stehen zu bleiben, ist eine berechtigte wissenschaftliche Forderung. Nicht weniger aber ist eine solche die Aufsuchung der inneren Gesetzmäßigkeit der Erfahrung. Es muss also dieses Innere selbst an einer Stelle der Erfahrung als solche auftreten. Die Erfahrung wird so mit Hilfe ihrer selbst vertieft. Unsere Erkenntnistheorie erhebt die Forderung der Erfahrung in der höchsten Form, sie weist jeden Versuch zurück, etwas von außen in die Erfahrung hineinzutragen. Die Bestimmungen des Denkens findet sie selbst innerhalb der Erfahrung. Die Art, wie das Denken in die Erscheinung eintritt, ist dieselbe wie bei der übrigen Erfahrungswelt.

Das Prinzip der Erfahrung wird zumeist in seiner Tragweite und eigentlichen Bedeutung verkannt. In seiner schroffsten Form ist es die Forderung, die Gegenstände der Wirklichkeit in der ersten Form ihres Auftretens zu belassen und sie nur so zu Objekten der Wissenschaft zu machen. Das ist ein rein methodisches Prinzip. Es sagt über den Inhalt dessen, was erfahren wird, gar nichts aus. Wollte man behaupten, dass nur die Wahrnehmungen der Sinne Gegenstand der Wissenschaft sein können, wie das der Materialismus tut, so dürfte man sich auf dieses Prinzip nicht stützen. Ob der Inhalt sinnlich oder ideell ist, darüber fällt dieses Prinzip kein Urteil. Soll es aber in einem bestimmten Falle in der erwähnten schroffsten Form anwendbar sein, dann macht es allerdings eine Voraussetzung. Es fordert nämlich, dass die Gegenstände, wie sie erfahren werden, schon eine Form haben, die dem wissenschaftlichen Streben genügt. Bei der Erfahrung der äußeren Sinne ist das, wie wir gesehen haben, nicht der Fall. Es findet nur beim Denken statt.

Nur beim Denken kann das Prinzip der Erfahrung in seiner extremsten Bedeutung angewendet werden« (GA 2, S. 44-45).

Die »Bestimmungen des Denkens« finden sich selbst innerhalb der Erfahrung, wenn man den Begriff der Erfahrung nicht erst willkürlich auf bestimmte Inhalte beschränkt, sondern sie als rein methodisches Prinzip auffasst. Dass diese Bestimmungen vom Menschen denkend hervorgebracht werden müssen, tut ihrer Erfahrbarkeit keinen Abbruch. Innerhalb der Gesamterfahrung erweist sich das Denken als »höhere Erfahrung in der Erfahrung«, weil es sowohl erfahrbar ist, als auch seine eigene Bestimmung (Erklärung) in sich enthält. Aus diesen Bestimmungen lassen sich zugleich die bestimmungslos gegebenen Inhalte der »übrigen Erfahrung« bestimmen.

Diese methodischen Erörterungen haben mit einem Übergehen von Begriffen in materielle Gegebenheiten (im Handumdrehen), wie Zander es unterstellt, nichts zu tun.

Zander versteht sich als »Hardcore«-Historiker, der stets aufgrund des »Vetorechts der Quellen« die »Beschönigungen« und »Mystifikationen« Steiners als »Lügen« zu entlarven vermag. Wie diese »Hardcore-Wissenschaft« in Wahrheit aussieht, zeigen seine Ausführungen über Pauline Specht, deren Söhne Steiner ab 1884 als Hauslehrer unterrichtete.

Auf S. 53 schreibt Zander (die quellenlosen Vermutungen sind kursiv hervorgehoben):

»Über diese Frau dürfte Steiner medizinische Literatur und eine Reihe von Wiener Medizinern kennengelernt haben. Nachhaltig prägte ihn dabei vermutlich die Perspektive, mit der Pauline Specht an diese Fragen heranging. Sie habe, wie Steiner 1924 meinte, einer ›naturalistischen Anschauung‹ nahegestanden. Vermutlich sah sie in körperlichen Faktoren die entscheidenden Auslöser auch psychischer Krankheiten. Das dürfte für den Idealisten Steiner eine Herausforderung gewesen sein, deren Konsequenz er vermutlich, wenn er sie überhaupt gesehen hat, nicht überblickte ... Pauline Specht dürfte ihm eine idealismuskritische Perspektive vermittelt haben, die im kommenden Jahrzehnt Goethe ausbooten sollte.«

Diese Passage ist ein Beispiel für die Zandersche »Konjunktivitis«, den inflationären Gebrauch des Konjunktivs, der darüber hinwegtäuschen soll, dass er nichts als haltlose Vermutungen vorbringt.

Steiner dürfte kennengelernt haben: ob das tatsächlich der Fall war, weiß Zander nicht. Nachhaltig prägte ihn vermutlich: ob sie ihn prägte, weiß Zander nicht. Vermutlich sah sie: ob sie das wirklich so sah, weiß Zander nicht. Das dürfte für den Idealisten: ob das tatsächlich der Fall war, weiß Zander nicht. Deren Konsequenz er vermutlich: auch dies ist eine haltlose Vermutung. Pauline Specht dürfte: ob sie es getan hat, kann Zander nicht aufgrund irgendwelcher Quellen behaupten.

Nehmen wir einmal an, Zanders Hypothesen hätten auch nur den Hauch einer Berechtigung und Steiner hätte seit 1884 unter dem prägenden nachhaltigen Einfluss des »Naturalismus« von Pauline Specht gestanden. Wäre es dann vorstellbar, dass er 1886 in seinen »Grundlinien einer Erkenntnistheorie ...« solche Sätze wie die folgenden hätte schreiben können:

»Unsere Ausführungen haben gezeigt, dass der wahre Inhalt der Wissenschaft überhaupt nicht der wahrgenommene äußere Stoff ist, sondern die im Geiste erfasste Idee, welche uns tiefer in das Weltgetriebe einführt, als alles Zerlegen und Beobachten der Außenwelt als bloßer Erfahrung. Die Idee ist Inhalt der Wissenschaft. Gegenüber der passiv aufgenommenen Wahrnehmung ist die Wissenschaft somit das Produkt der Tätigkeit des menschlichen Geistes« (GA 2, S. 131)

»Überwindung der Sinnlichkeit durch den Geist ist das Ziel von Kunst und Wissenschaft. Diese überwindet die Sinnlichkeit, indem sie sie ganz in Geist auflöst; jene, indem sie ihr den Geist einpflanzt. Die Wissenschaft blickt durch die Sinnlichkeit auf die Idee, die Kunst erblickt die Idee in der Sinnlichkeit« (GA 2, S. 133)

Oder nehmen wir an, der »nachhaltige naturalistische« Einfluss Pauline Spechts hätte sich erst später – vielleicht ab 1887 – bei Steiner bemerkbar gemacht. Hätte er dann solche Sätze wie die folgenden schreiben können, die im 1887 veröffentlichten zweiten Band der »Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften« stehen:

»Wer dem Denken seine über die Sinnesauffassung hinausgehende Wahrnehmungsfähigkeit zuerkennt, der muss ihm notgedrungen auch Objekte zuerkennen, die über die bloße sinnenfällige Wirklichkeit hinaus liegen. Die Objekte des Denkens sind aber die Ideen. Indem sich das Denken der Idee bemächtigt, verschmilzt es mit dem Urgrunde des Weltendaseins; das, was außen wirkt, tritt in den Geist des Menschen ein: er wird mit der objektiven Wirklichkeit auf ihrer höchsten Potenz eins. Das Gewahrwerden der Idee in der Wirklichkeit ist die wahre Kommunion des Menschen« (GA 1, S. 125-126).

»Ich fand, streng nach naturwissenschaftlicher Methode verfahrend, in dem objektiven Idealismus die einzig befriedigende Weltsicht. Die Art, wie ein sich selbst verstehendes, widerspruchsloses Denken zu dieser Weltansicht gelangt, zeigt meine Erkenntnistheorie [gemeint sind die ›Grundlinien einer Erkenntnistheorie ... ‹ von 1886]« (GA 1, S. 130).

»Wenn wir von dem Wesen eines Dinges oder der Welt überhaupt sprechen, so können wir also gar nichts anderes meinen, als das Begreifen der Wirklichkeit als Gedanke, als Idee. In der Idee erkennen wir dasjenige, woraus wir alles andere herleiten müssen: das Prinzip der Dinge. Was die Philosophen das Absolute, das ewige Sein, den Weltengrund, was die Religionen Gott nennen, das nennen wir, auf Grund unserer erkenntnistheoretischen Erörterungen: die Idee« (GA 1, S. 162).

Mit Phantasien über eine weitere Honigfalle belästigt Zander seine Leser im Kapitelchen über das »intellektuelle Wien«. Hier sieht er nämlich eine weitere Frau am Horizont auftauchen, die Steiners Überzeugungen tiefgreifend verändert habe: Marie Eugenie delle Grazie.

Auf S. 56 schreibt Zander:

»1886 lernte er die 22-jährige Marie Eugenie delle Grazie kennen, damals gerade ein aufgehender Stern am literarischen Wiener Himmel. Sie hatte zum Sturm auf den Idealismus angesetzt und propagierte einen Pessimismus ... Steiners Reaktion ist überraschend, nämlich unentschieden. Er himmelt delle Grazie trotz seines Idealismus und ihrer unüberhörbaren Goethe-Kritik an ... Aber zugleich gibt er seinen Idealismus nicht einfach verloren und widerspricht ihr ... in der altertümlichen Form eines Sendschreibens ... Darin blitzt auf, wie weit Steiner inzwischen trotz all seines Idealismus das Subjekt erhöhen konnte: ›Wir wollen nichts der Natur, uns selbst alles verdanken.‹«

»Himmelte« Steiner Eugenie delle Grazie an? Woher weiß Zander das? Eine Quelle für diese Behauptung gibt er nicht an. Auch delle Grazie habe Steiners Überzeugungen tiefgreifend verändert? Lesen wir in seinem »Sendschreiben« an die Dichterin aus dem Jahr 1886:

»Oh, wir sollten doch endlich zugeben, dass ein Wesen, das sich selbst erkennt, nicht unfrei sein kann! Indem wir die ewige Gesetzlichkeit der Natur erforschen, lösen wir jene Substanz aus ihr los, die ihren Äußerungen zugrunde liegt. Wir sehen das Gewebe der Gesetze über den Dingen walten, und das bewirkt die Notwendigkeit. Wir besitzen in unserem Erkennen die Macht, die Gesetzlichkeit der Naturdinge aus ihnen loszulösen und sollten dennoch die willenlosen Sklaven dieser Gesetze sein? Die Naturdinge sind unfrei, weil sie die Gesetze nicht erkennen, weil sie, ohne von ihnen zu wissen, durch sie beherrscht werden. Wer sollte sie uns aufdrängen, da wir sie geistig durchdringen? Ein erkennendes Wesen kann nicht unfrei sein. Es bildet die Gesetzlichkeit zuerst in Ideale um und gibt sich diese selbst zum Gesetze.

Wir sollten endlich zugeben, dass der Gott, den eine abgelebte Menschheit in den Wolken wähnte, in unserem Herzen, in unserem Geiste wohnt. Er hat sich in voller Selbstentäußerung ganz in die Menschheit ausgegossen. Er hat für sich nichts zu wollen übrig behalten, denn er wollte ein Geschlecht, das frei über sich selbst waltet. Er ist in der Welt aufgegangen. Der Menschen Wille ist sein Wille, der Menschen Ziele seine Ziele. Indem er den Menschen seine ganze Wesenheit eingepflanzt hat, hat er seine eigene Existenz aufgegeben. Es gibt einen ›Gott in der Geschichte‹ nicht; er hat aufgehört zu sein um der Freiheit der Menschen willen, um der Göttlichkeit der Welt willen. Wir haben die höchste Potenz des Daseins in uns aufgenommen. Deswegen kann uns keine äußere Macht, können uns nur unsere eigenen Schöpfungen Befriedigung geben. Alles Wehklagen über ein Dasein, das uns nicht befriedigt, über diese harte Welt, muss schwinden gegenüber dem Gedanken, dass uns keine Macht der Welt befriedigen könnte, wenn wir ihr nicht zuerst selbst jene Zauberkraft verleihen, durch die sie uns erhebt und erfreut. Brächte ein außerweltlicher Gott uns alle Himmelsfreuden, und wir sollten sie so hinnehmen, wie er sie ohne unser Zutun bereitete, wir müssten sie zurückweisen, denn sie wären die Freuden der Unfreiheit.

Wir haben keinen Anspruch darauf, dass uns von Mächten Befriedigung werde, die außer uns sind. Der Glaube versprach uns eine Aussöhnung mit den Übeln dieser Welt, wie eine solche ein außerweltlicher Gott herbeiführen sollte. Dieser Glaube ist im Verschwinden begriffen, er wird einst gar nicht mehr sein. Es wird aber die Zeit kommen, wo die Menschheit nicht mehr auf Erlösung von außen hoffen wird, weil sie erkennen wird, dass sie sich selbst ihre Seligkeit bereiten muss, wie sie sich selbst so tiefe Wunden geschlagen hat. Die Menschheit ist die Lenkerin ihres eigenen Geschickes. Von dieser Erkenntnis können uns selbst die Errungenschaften der modernen Naturwissenschaft nicht abbringen, denn sie sind die Erkenntnisse, die wir durch Auffassung der Außenseite der Dinge erlangen, während die Erkenntnis unserer Idealwelt auf dem Eindringen in die innere Tiefe der Sache beruht« (GA 30, S. 239-240).

In diesem Sendschreiben blitze auf »wie weit Steiner inzwischen trotz all seines Idealismus das Subjekt erhöhen konnte«, behauptet Zander. Er sieht in dieser »Erhöhung des Subjekts« wohl eine Weiterentwicklung des Steinerschen Denkens durch den naturalistischen Einfluss Pauline Spechts oder delle Grazies. Eine Weiterentwicklung? Von wo aus? Auf welche Texte bezieht sich Zander? Vielleicht auf die »Grundlinien ...«, die aber ebenfalls 1886 erschienen? In denen es nahezu identisch heißt:

»Der Weltengrund hat sich in die Welt vollständig ausgegossen; er hat sich nicht von der Welt zurückgezogen, um sie von außen zu lenken, er treibt sie von innen; er hat sich ihr nicht vorenthalten. Die höchste Form, in der er innerhalb der Wirklichkeit des gewöhnlichen Lebens auftritt, ist das Denken und mit demselben die menschliche Persönlichkeit. Hat somit der Weltengrund Ziele, so sind sie identisch mit den Zielen, die sich der Mensch setzt, indem er sich darlebt. Nicht indem der Mensch irgendwelchen Geboten des Weltenlenkers nachforscht, handelt er nach dessen Absichten, sondern indem er nach seinen eigenen Einsichten handelt. Denn in ihnen lebt sich jener Weltenlenker dar. Er lebt nicht als Wille irgendwo außerhalb des Menschen; er hat sich jedes Eigenwillens begeben, um alles von des Menschen Willen abhängig zu machen. Auf dass der Mensch sein eigener Gesetzgeber sein könne, müssen alle Gedanken auf außermenschliche Weltbestimmungen u. dgl. aufgegeben werden. ...

Nur bei dieser Ansicht ist eine wahre Freiheit des Menschen möglich. Wenn der Mensch nicht in sich die Gründe seines Handelns trägt, sondern sich nach Geboten richten muss, so handelt er unter einem Zwange, er steht unter einer Notwendigkeit, fast wie ein bloßes Naturwesen.

Unsere Philosophie ist daher im eminenten Sinne Freiheitsphilosophie. Sie zeigt erst theoretisch, wie alle Kräfte usw. wegfallen müssen, die die Welt von außen lenkten, um dann den Menschen zu seinem eigenen Herrn im allerbesten Sinne des Wortes zu machen. Wenn der Mensch sittlich handelt, so ist das für uns nicht Pflichterfüllung, sondern die Äußerung seiner völlig freien Natur. Der Mensch handelt nicht, weil er soll, sondern, weil er will« (GA 2, S. 125)

Es hat keinen Sinn Zanders Auslassungen weiter nachzugehen, weil es sich um nichts als leeres Geschwätz handelt.

Auf acht Seiten fertigt Zander zwei Werke Steiners ab, die zusammen immerhin einen Umfang von 350 Seiten haben: seine Dissertation, die 1892 unter dem Titel »Wahrheit und Wissenschaft« erschien und die 1893 erschienene »Philosophie der Freiheit«.

Auf S. 83-91 schreibt Zander über »Wahrheit und Wissenschaft« (die kritisch hinterfragten Aussagen sind mit eckigen Klammern nummeriert):

»Steiners Arbeit bietet, wenn man auf seinen philosophischen Denkweg zurückblickt, keine Überraschung ... ›Das Gegebene durch das Denken bestimmen heißt Erkennen‹, glaubte Steiner, und deshalb werde ›im Denken die Essenz der Welt vermittelt‹. Mit dieser ›Überwindung des Subjektivismus‹ ›begründen wir den objektiven Idealismus‹, den er 1887 schon bei Goethe gefunden zu haben glaubte ...

[1] Eine der entscheidenden philosophischen Gegenfragen, ob das Denken nicht auch biologischen und vor allen Dingen sozialen Bedingungen unterliege, ob wir nicht auch das Denken lernen, hat Steiner an seinen ›objektiven Idealismus‹ nicht wirklich herangelassen.«

Und über dessen »Philosophie der Freiheit«:

[2] »Fragt man sich, wie es zu dieser Abwendung Steiners vom ehedem so innig geliebten Idealismus kam, kommt man an den Wurzeln in den Wiener Kreisen ... nicht vorbei ... Nicht unterschätzen sollte man ... die idealismuskritische Rosa Mayreder ... Bei Steiners Wende zum Materialismus dürfte sie jedenfalls eine wichtige Rolle gespielt haben ...

[3] Er nahm sich ... alles andere als Zeit, um die Philosophie der Freiheit sorgfältig zu komponieren ... Auch wenn Steiner dieses Werk lebenslang als sein Opus magnum betrachten sollte und es später zum erkenntnistheoretischen Grundlagenwerk der Anthroposophie erhob, gibt es keinerlei Zweifel, dass diese Buch zwischen Tür und Angel entstand ...

[4] ›Das Denken‹ war der Angelpunkt seines Lösungsvorschlags geblieben, doch hatte er jetzt die naturwissenschaftliche Dimension verstärkt: Das Denken sei ein ›Beobachtungsobjekt‹ ...

[5] ... der Steiner der Dissertation und insbesondere der Steiner der Philosophie der Freiheit hat an entscheidenden Stellen mit seinem Wiener Idealismus gebrochen. Die vernichtende Kritik an der Metaphysik und die Apotheose des Individuums waren Zeichen einer neuen Zeit in Steiners Leben.«

[1 / 4] Eine der entscheidenden philosophischen Gegenfragen / naturwissenschaftliche Dimension verstärkt:

Wie bereits die »Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften« und die »Grundlinien ...« zielten auch die Dissertation und die »Philosophie der Freiheit« Steiners darauf ab, die Autonomie des menschlichen Denkens, in der die Freiheit verankert ist, nachzuweisen. Die von ihm durchgeführten Untersuchungen setzen sich mit allen denkbaren Argumenten auseinander, die diese Autonomie zu untergraben versuchen, unter anderem auch mit soziologistischen oder biologistischen. Der »objektive Idealismus« Steiners gründet auf Beobachtungen, die am Erkenntnisprozess gemacht werden und der Analyse der Rolle, die das Denken bei diesem Prozess spielt. Diese Beobachtungen ergeben sich aus der Anwendung der naturwissenschaftlichen Methode. Bereits 1887 hatte Steiner geschrieben:

»Ich fand, streng nach naturwissenschaftlicher Methode verfahrend, in dem objektiven Idealismus die einzig befriedigende Weltsicht. Die Art, wie ein sich selbst verstehendes, widerspruchsloses Denken zu dieser Weltansicht gelangt, zeigt meine Erkenntnistheorie [gemeint sind die ›Grundlinien einer Erkenntnistheorie ... ‹ von 1886]« (GA 1, S. 130).

Und kurz vor diesen Sätzen:

»Das objektiv Gegebene deckt sich durchaus nicht mit dem sinnlich Gegebenen, wie die mechanische Weltauffassung glaubt. Das letztere ist nur die Hälfte des Gegebenen. Die andere Hälfte desselben sind die Ideen, die ebenso Gegenstand der Erfahrung sind, freilich einer höheren, deren Organ das Denken ist. Auch die Ideen sind für eine induktive Methode erreichbar.

Die heutige Erfahrungswissenschaft befolgt die ganz richtige Methode: am Gegebenen festzuhalten; aber sie fügt die unstatthafte Behauptung hinzu, dass diese Methode nur Sinnenfällig-Tatsächliches liefern kann. Statt bei dem, wie wir zu unseren Ansichten kommen, stehenzubleiben, bestimmt sie von vornherein das Was derselben. Die einzig befriedigende Wirklichkeitsauffassung ist empirische Methode mit idealistischem Forschungsresultate. Das ist Idealismus, aber kein solcher, der einer nebelhaften, geträumten Einheit der Dinge nachgeht, sondern ein solcher, der den konkreten Ideengehalt der Wirklichkeit ebenso erfahrungsgemäß sucht wie die heutige hyperexakte Forschung den Tatsachengehalt. ... Wir halten an dem Idealismus fest, legen aber bei der Entwicklung desselben nicht die dialektische Methode Hegels, sondern einen geläuterten, höheren Empirismus zugrunde« (GA 1, S. 126-127).

Steiner war also immer schon der Überzeugung, dass die naturwissenschaftlichen Methoden der Beobachtung auch auf Bewusstseinsprozesse angewendet werden können und zu idealistischen Resultaten führen werden, wenn ein »sich selbst verstehendes, widerspruchsloses Denken« die gewonnenen empirischen Befunde analysiert.

Die Behauptung, Steiner habe »eine der entscheidenden philosophischen Gegenfragen, ob das Denken nicht auch biologischen und vor allen Dingen sozialen Bedingungen unterliege, ... an seinen ›objektiven Idealismus‹ nicht wirklich herangelassen«, ist eine haltlose Unterstellung. In Wahrheit hat er sowohl den Soziologismus als auch den Biologismus argumentativ auf prinzipieller Ebene widerlegt. (Aus der Anerkennung dieser Tatsache ergibt sich übrigens auch eine prinzipielle Widerlegung der ihm von Zander immer wieder unterstellten nationalistischen, völkischen oder gar »rassistischen« Ansichten. Da Steiner den prinzipiellen philosophischen Nachweis führt, dass der individuelle geistige Kern des Menschen vollkommen autonom und nicht von soziologischen oder biologischen Bedingungen abhängig ist, sind alle denkbaren Formen des sozialen Kollektivismus und Biologismus mit seiner Philosophie unvereinbar. Zander bietet diesen dagegen durch sein Plädoyer für diese Bedingtheit eine offene Flanke dar.)

[2] Abwendung vom Idealismus / Wende zum Materialismus:

Vollkommen rätselhaft ist Zanders Auffassung, in Steiners intellektueller Entwicklung habe sich zwischen 1886 und 1894 eine »Wende zum Materialismus« vollzogen. Ein einziges Zitat aus der »Philosophie der Freiheit« dürfte reichen, um diese irrwitzige These zu widerlegen:

»Der Materialismus kann niemals eine befriedigende Welterklärung liefern. Denn jeder Versuch einer Erklärung muss damit beginnen, dass man sich Gedanken über die Welterscheinungen bildet. Der Materialismus macht deshalb den Anfang mit dem Gedanken der Materie oder der materiellen Vorgänge. Damit hat er bereits zwei verschiedene Tatsachengebiete vor sich: die materielle Welt und die Gedanken über sie. Er sucht die letzteren dadurch zu begreifen, dass er sie als einen rein materiellen Prozess auffasst. Er glaubt, dass das Denken im Gehirne etwa so zustande komme, wie die Verdauung in den animalischen Organen. So wie er der Materie mechanische und organische Wirkungen zuschreibt, so legt er ihr auch die Fähigkeit bei, unter bestimmten Bedingungen zu denken. Er vergisst, dass er nun das Problem nur an einen andern Ort verlegt hat. Statt sich selbst, schreibt er die Fähigkeit des Denkens der Materie zu. Und damit ist er wieder an seinem Ausgangspunkte. Wie kommt die Materie dazu, über ihr eigenes Wesen nachzudenken? Warum ist sie nicht einfach mit sich zufrieden und nimmt ihr Dasein hin? Von dem bestimmten Subjekt, von unserem eigenen Ich hat der Materialist den Blick abgewandt und auf ein unbestimmtes, nebelhaftes Gebilde ist er gekommen. Und hier tritt ihm dasselbe Rätsel entgegen. Die materialistische Anschauung vermag das Problem nicht zu lösen, sondern nur zu verschieben« (GA 4, S. 30-31).

[3] Steiner nahm sich keine Zeit, um die »Philosophie der Freiheit« sorgfältig zu komponieren:

Weiter oben wurde darauf hingewiesen, dass Steiner bereits 1881 von der Absicht sprach, eine Philosophie der Freiheit zu schreiben. Sie werde sich, so Steiner damals, in ihrer Darstellungsform an Schillers Briefe über »Naive und sentimentalische Dichtung« anlehnen, auf alle gelehrten »Schnörkeleien« verzichten und sich wie ein »unterhaltender und lehrreicher Roman« lesen:

»Der August [1881] wird mir hoffentlich die nötige Ruhe gewähren, einen großen Teil meiner lieben Freiheitsphilosophie zu Papier zu bringen. ... Über die Form bin ich ja auch nicht mehr im geringsten im Zweifel; es wird ein schlichter Prosastil; nicht Brief- und nicht Dialogform; ohne viel Paragraphenteilung, ohne die üblichen gelehrten Zitate und schulmäßigen Schnörkeleien. Sehen Sie sich Schillers Aufsatz ›Über naive und sentimentalische Dichtung‹ an und denken Sie sich solche Aufsätze aneinandergereiht, so haben Sie die Form der Freiheitsphilosophie ... Ganz ungezwungen geschriebene, die Liebe zur Sache bekundende, aneinandergereihte Aufsätze zusammenhängenden Inhaltes lesen sich eben angenehmer als Bücher, die nichts als ein auseinandergetriebenes Inhaltsverzeichnis sind. Die Systematik darf natürlich dennoch nicht fehlen; nur muss sie eben nicht im Sinne der ›Formalästhetik‹ den Leser fortwährend belästigen. Ich würde mich freuen, wenn es dahin käme, durch die Form den Inhalt so nahe zu bringen, dass man philosophische Gedanken wie einen unterhaltenden und lehrreichen Roman liest. Ich glaube wohl, dass es möglich ist.« (GA 38, S. 18-19)

Nimmt man diese Sätze ernst, dann hat Steiner bereits 1881 Überlegungen über die Konzeption einer Philosophie der Freiheit angestellt, und sich denkbar viel Zeit bis zu ihrer Niederschrift gelassen: 12 Jahre nämlich.

Wer sich ernsthaft mit den Kompositionsgesetzen der »Philosophie der Freiheit beschäftigen will, sei auf die äußerst lesenswerte Schrift Herbert Witzenmanns, »Die ›Philosophie der Freiheit‹ als Grundlage künstlerischen Schaffens« verwiesen.

[4 / 5] Denken nunmehr »Beobachtungsobjekt« / Bruch mit Wiener Idealismus durch vernichtende Kritik an der Metaphysik und Apotheose des Individuums:

Insofern Steiner schon 1886/87 der Auffassung war, »auch die Ideen« seien »für eine induktive Methode erreichbar« war für ihn bereits zu diesem Zeitpunkt das Denken Beobachtungsobjekt. Über dieses Denken als Beobachtungsobjekt schrieb er 1886 in den »Grundlinien ...«:

»Auch das Denken selbst erscheint uns zunächst als Erfahrungstatsache ... Wir müssen das Denken innerhalb der Erfahrungstatsachen selbst als eine solche aufsuchen ...  Nur beim Denken kann das Prinzip der Erfahrung in seiner extremsten Bedeutung angewendet werden« (GA 2, S. 29, 30, 45).

Welche Beobachtungen lassen sich an diesem Denken machen? Unter anderem die folgende:

»Es ist eine und dieselbe Sache von zwei Seiten betrachtet. Diese Sache ist der Gedankengehalt der Welt. Das eine Mal erscheint er als Tätigkeit unseres Bewusstseins, das andere Mal als unmittelbare Erscheinung einer in sic vollendeten Gesetzmäßigkeit, als in sich bestimmter ideeller Inhalt« (GA 2, S. 48).

Kritik an der Metaphysik übte Steiner auch 1886, hier unter dem Stichwort »Dogmatismus der Offenbarung«. In diesem Zusammenhang findet man auch bereits jene »Apotheose des Individuums«, die nach Zander angeblich erst Mitte der 1890er Jahre aufgrund des nachhaltigen Einflusses naturalistischer Honigfallen erkennbar werde. Die Apotheose des Individuums erscheint hier unter den Stichworten »Relativismus« und »Anthropomorphismus«:

»Das Dogma der Offenbarung ... überliefert dem Menschen auf irgendwelche Weise Wahrheiten über Dinge, die seinem Gesichtskreise entzogen sind. Er hat keine Einsicht in die Welt, der die Behauptungen entspringen. Er muss an die Wahrheit derselben glauben, er kann an die Gründe nicht herankommen. ...

Unsere Ansicht hat gezeigt, dass jede Annahme von einem Seinsgrunde, der außerhalb der Idee liegt, ein Unding ist. Der gesamte Seinsgrund hat sich in die Welt ausgegossen, er ist in sie aufgegangen. Im Denken zeigt er sich in seiner vollendetsten Form, so wie er an und für sich selbst ist. Vollzieht daher das Denken eine Verbindung, fällt es ein Urteil, so ist es der in dasselbe eingeflossene Inhalt des Weltgrundes selbst, der verbunden wird. Im Denken sind uns nicht Behauptungen gegeben über irgendeinen jenseitigen Weltengrund, sondern derselbe ist substantiell in dasselbe eingeflossen. Wir haben eine unmittelbare Einsicht in die sachlichen, nicht bloß in die formellen Gründe, warum sich ein Urteil vollzieht. Nicht über irgend etwas Fremdes, sondern über seinen eigenen Inhalt bestimmt das Urteil. Unsere Ansicht begründet daher ein wahrhaftes Wissen. Unsere Erkenntnistheorie ist wirklich kritisch. Unserer Ansicht gemäß darf nicht nur der Offenbarung gegenüber nichts zugelassen werden, wofür nicht innerhalb des Denkens sachliche Gründe da sind; sondern auch die Erfahrung muss innerhalb des Denkens nicht nur nach der Seite ihrer Erscheinung, sondern als Wirkendes erkannt werden. Durch unser Denken erheben wir uns von der Anschauung der Wirklichkeit als einem Produkte zu der als einem Produzierenden.

So tritt das Wesen eines Dinges nur dann zutage, wenn dasselbe in Beziehung zum Menschen gebracht wird. Denn nur im letzteren erscheint für jedes Ding das Wesen. Das begründet einen Relativismus als Weltansicht, das heißt die Denkrichtung, welche annimmt, dass wir alle Dinge in dem Lichte sehen, das ihnen von Menschen selbst verliehen wird. Diese Ansicht führt auch den Namen Anthropomorphismus. Sie hat viele Vertreter. Die Mehrzahl derselben aber glaubt, dass wir uns durch diese Eigentümlichkeit unseres Erkennens von der Objektivität, wie sie an und für sich ist, entfernen. Wir nehmen, so glauben sie, alles durch die Brille der Subjektivität wahr. Unsere Auffassung zeigt uns das gerade Gegenteil davon. Wir müssen die Dinge durch diese Brille betrachten, wenn wir zu ihrem Wesen kommen wollen. Die Welt ist uns nicht allein so bekannt, wie sie uns erscheint, sondern sie erscheint so, allerdings nur der denkenden Betrachtung, wie sie ist. Die Gestalt von der Wirklichkeit, welche der Mensch in der Wissenschaft entwirft, ist die letzte wahre Gestalt derselben« (GA 2, S. 83-85).

Im folgenden Kapitel wartet Zander mit einer weiteren »Häutung« Steiners auf: dieser wird an der Hand Nietzsches angeblich zum »nihilistischen Eingeweihten«, zu einem Anhänger des »Herrenmenschentums« (nationalsozialistische Assoziationen natürlich inbegriffen).

Auf S. 92-93 schreibt Zander:

»Am 2. April 1892 ... zeigt er sich in Sprachgestus und Vorstellungswelt als nietzeanischer Konvertit ... In solchen Äußerungen wird klar, auf wessen Schultern Steiner die antiidealistische Kehre in seiner Dissertation und in der ›Philosophie der Freiheit‹ vollzogen hat: auf denjenigen Nietzsches ... Steiner lässt keinen Zweifel daran, dass er sich zu dieser Elite von Herrenmenschen zählt ... Steiner war zu einer Art nihilistischen Eingeweihten geworden.«

Steiner als »Nietzsche-Konvertit«

In dem von Zander zitierten Aufsatz Steiners mit dem Titel »Nietzscheanismus« (GA 31), der am 2. April 1892 im »Literarischen Merkur« erschien, kann man lesen:

»Wer Nietzsche liest und sich ernstlich in ihn vertieft, braucht, um wieder zurechtzukommen, keine theoretische Widerlegung, sondern mehrwöchentliche gesunde Gebirgsluft und sehr viele kalte Bäder. Die ihn nicht lesen, für die braucht er auch nicht widerlegt zu werden. Die ihn aber nur halb lesen und dann nachbeten, die lassen sich nicht widerlegen. Es ist auch gar nicht nötig, sie werden ganz gesunde Kulturgigerln bleiben, und ihre Umgebung hat doch etwas zu lachen.« (S. 458)

Wer Nietzsche ernstlich liest, der bedarf anschließend eines Kuraufenthaltes, um wieder gesund zu werden. Schreibt so ein Konvertit? Die ihn nicht lesen, bedürfen keiner Widerlegung Nietzsches. Nietzsche muss also widerlegt werden. Die ihn nur halb lesen und nachbeten, lassen sich nicht widerlegen. Er bedarf also der Widerlegung.

Weiter schreibt Steiner über Nietzsche:

»Nietzsche fußt auf durchaus berechtigten philosophischen Prinzipien. Ein solches ist der Standpunkt jenseits von ›gut und böse‹. Die Moralbegriffe sind, wie alles Bestehende, in der Zeit geworden; sie haben sich in der Zeit geändert und werden sich weiter ändern ... Aber bei Nietzsche wird alles zum Zerrbilde. Er reißt die Dinge nicht bloß aus dem Boden; nein, er wühlt auch noch im Erdreich, und manchmal ganz sinnlos, herum. Er will sich hinauforganisieren zur höchsten Geistesphase, wo aller Zwang aufhört; aber er verliert alle irdische Gedankenluft und kann bald gar nicht mehr atmen. Sein Geist schwebt fortwährend zwischen irdischer Atmosphäre und luftleerem Raum. Daher das Unsichere, Schwankende, Haltlose seines Geistes ... Nietzsche wurde immer mehr und mehr ein elektrischer Nervenapparat. Er kam mit einem Dinge der Welt zusammen, erzeugte einen elektrischen Funken, wurde aber sogleich abgestoßen und an eine andere Spitze angeworfen; und so ging es fort; so entstanden die Schriften seiner letzten Jahre. Der unerträgliche Zustand steigerte sich endlich zum Wahnsinn.« (kurs. red.)

Bei Nietzsche wird alles zum Zerrbild, er wühlt sinnlos im Erdreich herum, sein Geist ist unsicher, schwankend, haltlos, er wurde zu einem elektrischen Nervenapparat, schließlich verfiel er dem Wahnsinn. Schreibt so ein Konvertit?

Steiner soll sich zur »Elite der Herrenmenschen« zählen.

Im selben Aufsatz schreibt Steiner:

Nietzsche »...will das Vorurteil ›Mensch‹ selbst überwinden und zum ›Übermenschen‹ hinüberleiten, der alles abgestreift hat, was den ›Menschen‹ begrenzt und einschränkt. Zu einem plastischen Bilde dieses ›Übermenschen‹ hat es Nietzsche nicht gebracht. Er hat in bisweilen poetisch-herrlichen Bildern und Aphorismen in seinem ›Zarathustra‹ über den Übermenschen phantasiert; er hat viel gesagt, was der ›Übermensch‹ nicht sein wird, und was er nicht an sich haben wird: aber zur positiven Aufstellung dieses Zukunftsideales hat es der Denker-Ikaros nicht bringen können.« (S. 454-455)

Nietzsche phantasierte über eine Idee, vermochte aber diese Idee nicht mit Inhalt zu erfüllen. Er schwang sich auf, seine Schwingen schmolzen und er stürzte ab (»Ikaros«). Wovon Nietzsche in »poetisch-herrlichen« Bildern stammelte, das brachte Steiner, seiner eigenen Überzeugung nach, inhaltlich-bestimmt in seiner »Philosophie der Freiheit« zum Ausdruck. Darauf verweist er in seinem Buch »Friedrich Nietzsche, ein Kämpfer gegen seine Zeit« 1895:

»Weil der dionysische Geist aus sich selbst alle Antriebe seines Tuns entnimmt und keiner äußeren Macht gehorcht, ist er ein freier Geist. Denn ein freier Geist ist derjenige, der nur seiner Natur folgt. Nun ist allerdings in Nietzsches Werken nur die Rede von Instinkten als den Antrieben des freien Geistes. Ich glaube, dass hier Nietzsche mit einem Namen eine Reihe von Antrieben zusammengefasst hat, die eine mehr ins Einzelne gehende Betrachtung erfordern. Nietzsche nennt Instinkte sowohl die bei den Tieren vorhandenen Triebe zur Ernährung und Selbsterhaltung, wie auch die höchsten Antriebe der menschlichen Natur, zum Beispiel den Erkenntnistrieb, den Trieb, nach sittlichen Maßstäben zu handeln, den Trieb, sich an Kunstwerken zu ergötzen und so weiter. Nun sind zwar alle diese Triebe Äußerungsformen einer und derselben Grundkraft. Aber sie stellen doch verschiedene Stufen in der Entwickelung dieser Kraft dar. Die moralischen Antriebe zum Beispiel sind eine besondere Stufe der Instinkte. ... Dies zeigt sich darin, dass es dem Menschen möglich ist, Handlungen zu vollführen, die nicht unmittelbar auf sinnliche Instinkte zurückzuführen sind, sondern nur auf jene Antriebe, die eben als höhere Formen des Instinktes zu bezeichnen sind. Der Mensch schafft sich Antriebe seines Handelns, die nicht aus seinen sinnlichen Trieben abzuleiten sind, sondern nur aus dem bewussten Denken. Er setzt sich individuelle Zwecke vor, aber er setzt sich diese mit Bewusstsein vor. Und es ist ein großer Unterschied, ob er einem unbewusst entstandenen und erst hinterher in das Bewusstsein aufgenommenen Instinkte oder einem Gedanken folgt, den er von vornherein mit vollem Bewusstsein produziert hat ...

Zur wirklich freien Persönlichkeit gehört also nicht nur ein gesund entwickeltes individuelles sinnliches Triebleben, sondern auch die Fähigkeit, sich die gedanklichen Antriebe für das Leben zu schaffen. Erst derjenige Mensch ist vollkommen frei, der auch Gedanken produzieren kann, die zum Handeln führen. Ich habe das Vermögen, rein gedankliche Triebfedern des Handelns zu schaffen, in meiner Schrift ›Die Philosophie der Freiheit‹ die ›moralische Phantasie‹ genannt. Nur wer diese moralische Phantasie hat, ist wirklich frei, denn der Mensch muss nach bewussten Triebfedern handeln. Und wenn er solche nicht selbst produzieren kann, dann muss er sich dieselben von äußeren Autoritäten oder von dem in Form der Gewissensstimme in ihm sprechenden Herkommen geben lassen. Ein Mensch, der sich bloß seinen sinnlichen Instinkten überlässt, handelt wie ein Tier; ein Mensch, der seine sinnlichen Instinkte unter fremde Gedanken stellt, handelt unfrei; erst der Mensch, der sich selbst Seine moralischen Ziele schafft, handelt frei. Die moralische Phantasie fehlt in Nietzsches Ausführungen. Wer dessen Gedanken zu Ende denkt, muss notwendig auf diesen Begriff kommen. Aber andererseits ist es auch eine unbedingte Notwendigkeit, dass dieser Begriff der Nietzscheschen Weltanschauung eingefügt wird. Sonst könnte gegen dieselbe immerfort eingewendet werden: Zwar ist der dionysische Mensch kein Knecht des Herkommens oder des ›jenseitigen Willens‹, aber er ist ein Knecht seiner eigenen Instinkte.

Nietzsche hat seinen Blick auf das Ursprüngliche, Eigenpersönliche im Menschen gerichtet. Er suchte dieses Eigenpersönliche herauszulösen aus dem Mantel des Unpersönlichen, in den es eine wirklichkeitsfeindliche Weltanschauung eingehüllt hat. Aber er ist nicht dazu gekommen, die Stufen des Lebens innerhalb der Persönlichkeit selbst zu unterscheiden. Er hat deshalb die Bedeutung des Bewusstseins für die menschliche Persönlichkeit unterschätzt. ...

... nicht minder wahr ist es, dass der Mensch nur insoweit frei ist, als er sich gedankliche Triebfedern seines Handelns innerhalb des Bewusstseins schaffen kann.

Die Betrachtung der gedanklichen Triebfedern führt aber noch weiter. Es ist eine Tatsache der Erfahrung, dass diese gedanklichen Triebfedern, die die Menschen aus sich heraus produzieren, bei den einzelnen Individuen doch bis zu einem gewissen Grade eine Übereinstimmung zeigen. Auch wenn der einzelne Mensch ganz frei aus sich heraus Gedanken schafft, so stimmen diese in gewisser Weise mit den Gedanken anderer Menschen überein. Daraus folgt für den Freien die Berechtigung, anzunehmen, dass die Harmonie in der menschlichen Gesellschaft von selbst eintritt, wenn sie aus souveränen Individuen besteht. Er kann diese Meinung dem Verteidiger der Unfreiheit gegenüberstellen, der glaubt, dass die Handlungen einer Mehrheit von Menschen nur zusammenstimmen, wenn sie durch eine äußere Gewalt nach einem gemeinsamen Ziele hingelenkt werden. Der freie Geist ist deshalb durchaus kein Anhänger jener Ansicht, welche die tierischen Triebe absolut frei walten lassen und alle gesetzlichen Ordnungen deshalb abschaffen will. Aber er verlangt absolute Freiheit für diejenigen, die nicht bloß ihren tierischen Instinkten folgen wollen, sondern die imstande sind, moralische Triebfedern, ihr eigenes Gutes und Böses, zu schaffen.« (S. 89-93)

Der freie Geist will nicht die tierischen Triebe frei walten lassen und alle gesetzlichen Ordnungen abschaffen: Spricht so ein Nihilist? Nietzsche vermochte die Bedeutung des Bewusstseins, der bewussten Triebfedern im Handeln des Menschen nicht zu würdigen: damit hat er die grundlegende Unterscheidung nicht erfasst, die ein Begreifen der Freiheit erst möglich macht, von der bereits das erste Kapitel der »Philosophie der Freiheit« (»Das bewusste menschliche Handeln«) spricht. Nüchtern und zugleich radikal ist Steiners Kritik an Nietzsche: Er stammelte von der Freiheit des Menschen (»Übermensch«) und verteidigte doch nur jene Form des Handelns, durch die der Mensch dem Tier gleicht. (»Ein Mensch, der sich bloß seinen sinnlichen Instinkten überlässt, handelt wie ein Tier ...«)

Steiner kritisierte Nietzsche 1892 und 1895, aber auch 1893. In einer Rezension des Buches »Psychopathia spiritualis. Friedrich Nietzsche und die Apostel der Zukunft« von Kurt Eisner schrieb er:

»Ein Geist von so kühner, grotesker Gedankenrichtung wie Friedrich Nietzsche es ist, muss notwendig widersprechende Empfindungen in denen hervorrufen, die sich genau und liebevoll mit ihm beschäftigen ... Seine unbedingten Bewunderer verstehen gewiss am wenigsten von seinen stolzen Ideen ... auch nicht einmal die Ironie, zu der Nietzsches Einseitigkeiten herausfordern ... Nirgends hat ja das Herdenartige einer Anhängerschaft ein so charakteristisches Gepräge angenommen wie bei der Nietzsche-Herde. Die Verachtung des Herdenhaften ist zum wüsten Herdengebrüll geworden. Es hat noch nie eine drolligere Gefolgschaft gegeben als die Nietzsches. Sie, diese Brüller, wissen ja alle nicht, worinnen der Wert von des Meisters Werken liegt. Das Geheimnis liegt darinnen, dass Krankheiten, Missbildungen mehr zum Denken anregen als die volle frische Gesundheit. Die Krankheiten des Geistes liefern wichtige Beiträge zur Psychologie. Der Reiz von Nietzsches Ideen liegt in dem abnormen Gewände, in dem sie auftreten. Durch Äußerlichkeiten wird man auf manches aufmerksam, woran man sonst vorüberginge. Mir erging es mit Nietzsches Ideen folgendermaßen. Ihr Inhalt erschien mir zumeist nicht neu. Ich hatte ihn in mir schon ausgebildet, bevor ich Nietzsche kennenlernte. Beim Durchgange durch Nietzsches Geist kamen mir aber diese Ideen verzerrt, karikiert vor. Ein an sich gesunder Gedankenfluss musste sich durch eine Felsenge durchdrängen, die seinem ruhigen Laufe Gewalt antat. Nietzsche war mir nie ein philosophisches, sondern immer ein psychologisches Problem.

Weil dies meine Stellung zu dem seltsamsten Geiste der Neuzeit ist, muss ich Kurt Eisners Schrift als eine mir sehr sympathische bezeichnen und sie dem weitesten Leserkreise empfehlen, wenn ich auch mit manchem in ihr Enthaltenen nicht übereinstimmen kann.« (GA 31, S. 467-468)

Die Philosophie dieses grotesken, dieses seltsamsten Geistes der Neuzeit, war für Steiner von Anfang an ein psychopathologisches Problem.