Eine weitere »Häutung« Steiners präsentiert Zander im Zusammenhang mit Haeckel.

Auf S. 95-96 schreibt er über Steiner und Haeckel:

»Haeckel war ein Rassist, der die Neger für evolutionsgeschichtlich überholt hielt; er war Eugeniker, der sich für die Tötung von Behinderten aussprach ... unermesslich wichtig wird Haeckel für die Formierung von Steiners evolutionstheoretischem Denken ... Dieser Haeckel liefert Steiner die Funktionslogik von Natur und Kultur. In Steiners theosophischer Anthropologie und Kosmologie steht im Hintergrund immer wieder der Großmeister der populären Evolutionstheorie, Professor Ernst Haeckel.«

Haeckel war kein Rassist sui generis. Er teilte nur die gemeineuropäischen Vorurteile seiner Zeit, die bereits die französische Aufklärung formuliert hatte, die Kant oder Hegel teilten, die Gemeingut der damaligen Evolutionstheoretiker waren. Eugenische Auffassungen vertrat er erst in Schriften, die nach 1900 veröffentlicht wurden (1904, 1907). Auf Steiner können diese zum fraglichen Zeitpunkt keinen Einfluss genommen haben. Später taten sie dies ebensowenig.

Haeckel lieferte Steiner natürlich nicht die »Funktionslogik« von Natur und Kultur. Steiner war gerade kein Darwinist, wie Zander ihm immer wieder unterstellt, ebensowenig wie er ein »Sozialdarwinist« war. Vielmehr stellte er dem Daseinskampf des Darwinismus die »Bruderschaft«, das Prinzip der bedingungslosen Solidarität im Anschluss an Kropotkin entgegen. Siehe den Vortrag »Bruderschaft und Daseinskampf« in den Materialien.

Steiner kritisierte Haeckel bereits im ersten Band seiner »Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften« 1883:

»In Goethes Begriffen erhalten wir auch eine ideelle Erklärung für die durch Darwin und Haeckel gefundene Tatsache, dass die Entwicklungsgeschichte des Individuums eine Repetition der Stammesgeschichte repräsentiert. Denn für mehr als eine unerklärte Tatsache kann das, was Haeckel hier bietet, doch nicht genommen werden.

Es ist die Tatsache, dass jedes Individuum alle jene Entwicklungsstadien in abgekürzter Form durchmacht, welche uns zugleich die Paläontologie als gesonderte organische Formen aufweist. Haeckel und seine Anhänger erklären dieses aus dem Gesetze der Vererbung. Aber letzteres ist selbst nichts anderes als ein abgekürzter Ausdruck für die angeführte Tatsache.

Die Erklärung dafür ist, dass jene Formen sowie jedes Individuum die Erscheinungsformen eines und desselben Urbildes sind, welches in aufeinanderfolgenden Zeitperioden die der Möglichkeit nach in ihm liegenden Gestaltungskräfte zur Entfaltung bringt. Jedes höhere Individuum ist eben dadurch vollkommener, dass es durch die günstigen Einflüsse seiner Umgebung nicht gehindert wird, sich seiner inneren Natur nach völlig frei zu entfalten. Muss das Individuum dagegen durch verschiedene Einwirkungen gezwungen auf einer niedrigeren Stufe stehenbleiben, so kommen nur einige von seinen inneren Kräften zur Erscheinung, und es ist dann bei ihm das ein Ganzes, was bei jenem vollkommeneren Individuum nur ein Teil eines Ganzen ist. Und auf diese Weise erscheint der höhere Organismus in seiner Entwicklung aus den niedrigeren zusammengesetzt oder auch die niedrigeren erscheinen in ihrer Entwicklung als Teile des höheren. Wir müssen daher in der Entwicklung eines höheren Tieres die Entwicklung aller niedrigeren wieder erblicken (biogenetisches Gesetz).

Sowie der Physiker nicht damit zufrieden ist, bloß die Tatsachen auszusprechen und zu beschreiben, sondern nach den Gesetzen derselben forscht, d. h. nach den Begriffen der Erscheinungen, so kann es auch demjenigen, der in die Natur der organischen Wesen eindringen will, nicht genügen, wenn er bloß die Tatsachen der Verwandtschaft, Vererbung, Kampf ums Dasein usw. anführt, sondern er will die diesen Dingen zugrunde liegenden Ideen erkennen. Dieses Streben finden wir bei Goethe. Was dem Physiker die drei Keplerschen Gesetze, das sind dem Organiker die Goetheschen Typusgedanken. Ohne sie ist uns die Welt ein bloßes Labyrinth von Tatsachen.« (GA 1, S. 104-105)

Er kritisierte ihn in seinen »Grundlinien ...« 1886: »Dass der Vorwurf, den wir der organischen Naturwissenschaft unserer Tage machen: sie übertrage auf die organische Natur nicht das Prinzip wissenschaftlicher Betrachtungsweise überhaupt, sondern das der unorganischen Natur, vollauf berechtigt ist, lehrt uns ein Blick auf die Ansichten des gewiss bedeutendsten der naturforschenden Theoretiker der Gegenwart, Haeckels.

Wenn er von allem wissenschaftlichen Bestreben fordert, dass ›der ursächliche Zusammenhang der Erscheinungen überall zur Geltung komme‹, wenn er sagt: ›Wenn die psychische Mechanik nicht so unendlich zusammengesetzt wäre, wenn wir imstande wären, auch die geschichtliche Entwicklung der psychischen Funktionen vollständig zu übersehen, so würden wir sie alle in eine mathematische Seelenformel bringen können‹, so sieht man daraus deutlich, was er will: die gesamte Welt nach der Schablone der physikalischen Methode behandeln.« (GA 2, S. 101)

Zweifellos knüpfte Steiner an den von Darwin ins Spiel gebrachten und von Haeckel im deutschen Sprachraum popularisierten Evolutionsgedanken an, aber er übernahm nicht Haeckels Evolutionslehre, da er sie für defizitär hielt, sondern entwickelte sie weiter und deutete sie um.

Wie er dies tat, brachte er 1923 in der Vorrede zur Neuauflage der »Grundlinien ...« zum Ausdruck: »In all dies spielte bei mir hinein eine Gedankenneigung zu der damals blühenden Entwickelungstheorie. Sie hatte in Haeckel Formen angenommen, in denen das selbständige Sein und Wirken des Geistigen keine Berücksichtigung finden konnte. Das Spätere, Vollkommene sollte aus dem Früheren, Unentwickelten im Zeitenlaufe hervorgegangen sein. Mir leuchtete das in bezug auf die äußere sinnenfällige Wirklichkeit ein. Doch kannte ich die vom Sinnenfälligen unabhängige, in sich befestigte, selbständige Geistigkeit zu gut, um der äußeren sinnenfälligen Erscheinungswelt recht zu geben. Aber es war die Brücke zu schlagen von dieser Welt zu der des Geistes. Im sinnenfällig gedachten Zeitenlaufe scheint das menschlich Geistige sich aus dem vorangehenden Ungeistigen zu entwickeln.

Aber das Sinnenfällige, richtig erkannt, zeigt überall, dass es Offenbarung des Geistigen ist. ...

Die Entwickelung der Welt ist dann so zu verstehen, dass das vorangehende Ungeistige, aus dem sich später die Geistigkeit des Menschen entfaltet, neben und außer sich ein Geistiges hat. Die spätere durchgeistigte Sinnlichkeit, in der der Mensch erscheint, tritt dann dadurch auf, dass sich der Geistesvorfahre des Menschen mit den unvollkommenen ungeistigen Formen vereint, und, diese umbildend, dann in sinnenfälliger Form auftritt.« (GA 2, S. 9-11)

1905 kritisierte Steiner Haeckel in einem öffentlichen Vortrag in Berlin: »Es war von großer Wirkung, als im Jahre 1868 Haeckel den Zusammenhang der Menschen mit den Herrentieren (Affen) verkündete. In jener Zeit konnte dies nichts anderes heißen, als der Mensch stamme von den Herrentieren ab. ... Haeckel ist dabei stehengeblieben, dass der Mensch von den Herrentieren abstamme, diese wieder von den niederen und diese niederen wieder von den allereinfachsten Lebewesen. So entwickelt er den ganzen Stammbaum des Menschen. Dadurch war für ihn aller Geist aus der Welt ausgeschaltet und nur als Erscheinungsform des Materiellen vorhanden ...

In sinnlich-physischer Beziehung erkennt auch die Geisteswissenschaft die Verwandtschaft des Menschen mit den höheren Säugetieren, also mit den menschenähnlichen Affen, an. Von einer Abstammung aber des heutigen Menschen von einem an seelischem Wert dem heutigen Affen gleichen Wesen kann nicht die Rede sein. Die Sache verhält sich ganz anders. Alles, was der Materialismus in dieser Beziehung vorbringt, beruht auf einem einfachen Denkfehler. Dieser Fehler möge durch einen trivialen Vergleich klar gemacht werden, der aber trotzdem nicht unzutreffend ist, obgleich er trivial ist. Man nehme zwei Personen. Die eine sittlich minderwertig, intellektuell unbedeutend; die andere sittlich hochstehend, intellektuell bedeutend. Man könne, sagen wir, durch irgendeine Tatsache die Verwandtschaft der beiden feststellen. Wird man nun schließen dürfen, dass die höherstehende von einer solchen abstammt, die der niedrigstehenden gleichwertig ist? Nimmermehr. Man könnte durch die andere Tatsache überrascht werden, welche da besagt: die beiden Personen sind verwandt; sie sind Brüder. Aber der gemeinsame Vater war weder dem einen noch dem andern Bruder ganz gleichwertig. Der eine der Brüder ist herabgekommen; der andere hat sich emporgearbeitet.

Den in diesem Vergleich angedeuteten Fehler macht die materialistische Naturwissenschaft. Sie muss, nach den ihr bekannten Tatsachen, eine Verwandtschaft annehmen zwischen Affe und Mensch. Aber sie dürfte nun nicht folgern: der Mensch stammt von einem affengleichen Tiere ab. Sie müsste vielmehr ein Urwesen – einen gemeinsamen physischen Stammvater – annehmen; aber der Affe ist der herabgekommene, der Mensch der höher hinaufgestiegene Bruder.

Was hat nun jenes Urwesen auf der einen Seite zum Menschen emporgehoben, auf der andern ins Affentum hinabgestoßen? Die Theosophie oder Geisteswissenschaft sagt: Das hat die Menschenseele selbst getan. Diese Menschenseele war auch schon zu jener Zeit vorhanden, als da auf dem physisch-sichtbaren Erdboden als höchste sinnliche Wesen nur jene gemeinsamen Urväter des Menschen und des Affen herumwandelten. Aus der Schar dieser Urväter waren die besten imstande, sich dem Höherbildungsprozess der Seele zu unterwerfen; die minderwertigen waren es nicht. So hat die heutige Menschenseele einen Seelenvorfahren, wie der Körper einen körperlichen Vorfahren hat. Für die sinnliche Wahrnehmung wäre zur Zeit jener »Urväter« die Seele allerdings nicht im heutigen Sinne innerhalb des Körpers nachweisbar gewesen. Sie gehörte in einer gewissen Beziehung noch den »höheren Welten« an. Sie hatte auch andere Fähigkeiten und Kräfte als die gegenwärtige Menschenseele. Die heutige Verstandestätigkeit und Moralgesinnung fehlte ihr. Sie baute sich nicht aus den Dingen der Außenwelt Werkzeuge und errichtete nicht Staaten. Ihre Tätigkeit war noch in erheblichem Maße auf die Umarbeitung, die Umbildung der ›Urväter-Leiber‹ selbst gerichtet. Sie gestaltete das unvollkommene Gehirn um, so dass dieses später Träger der Gedankentätigkeit werden konnte. Wie die heute nach außen gerichtete Seele Maschinen baut, so baute die Vorfahrenseele noch an dem menschlichen Vorfahrenkörper selbst. Man kann natürlich einwerfen: Ja, warum kann denn die Seele heute nicht mehr in dem Maße am eigenen Körper bauen? – Das kommt eben daher, dass die Kraft, die früher aufgebracht worden ist zur Organumbildung, später sich nach außen auf die Beherrschung und Regelung der Naturkräfte richtete.

So kommt man in der Urzeit auf einen zweifachen Ursprung des Menschen. Dieser ist geistig-seelisch nicht erst durch die Vervollkommnung der sinnlichen Organe entstanden. Sondern die ›Seele‹ des Menschen war schon da, als die ›Urväter‹ noch auf Erden wandelten. Sie hat sich – dies natürlich nur vergleichsweise gesprochen – selbst einen Teil aus der ›Urväter-Schar‹ ausgewählt, dem sie einen äußerlich körperlichen Ausdruck verliehen hat, der ihn zum heutigen Menschen machte. Der andere Teil aus dieser Schar ist verkümmert, herabgekommen, und bildet die heutigen menschenähnlichen Affen. Diese haben sich also – im wahren Sinne des Wortes – aus dem Menschenvorfahren als dessen Abzweigung gebildet. Jene ›Urväter‹ sind die physischen Menschenvorfahren; aber sie konnten es nur dadurch sein, dass sie die Fähigkeit der Umbildung durch die Menschenseelen in sich trugen. So stammt der Mensch physisch von diesem ›Urvater‹ ab; seelisch aber von seinem ›Seelenvorfahren‹. Nun kann man wieder weiter in bezug auf den Stammbaum der Wesen zurückgehen. Da kommt man zu einem physisch noch unvollkommeneren ›Urvater‹. Aber auch zu dessen Zeit war der ›Seelenvorfahr‹ des Menschen schon vorhanden. Dieser hat selbst diesen ›Urvater‹ zum Affendasein emporgehoben, wieder die nicht entwicklungsfähigen Brüder auf der betreffenden Stufe zurücklassend. Aus diesen sind dann Wesen geworden, deren Nachkommen heute noch unter den Affen in der Säugetierreihe stehen. Und so kann man hinaufgehen in jene urferne Vergangenheit, in der auf der damals ganz anders als heute aussehenden Erde nur jene einfachsten Lebewesen vorhanden waren, aus denen Haeckel alle höheren entstehen lässt. Auch ihr Zeitgenosse war schon der ›Seelenvorfahr‹ des Menschen. Er hat die brauchbaren umgestaltet und die unbrauchbaren auf jeder besonderen Stufe zurückgelassen.

Die ganze Summe der irdischen Lebewesen stammt also in Wahrheit vom Menschen ab. Was heute als ›Seele‹ in ihm denkt und handelt, hat die Entwicklung der Lebewesen bewirkt. Als unsere Erde im Anfang war, war er selbst noch ein ganz seelisches Wesen. Er begann seine Laufbahn, indem er einen einfachsten Körper sich bildete. Und die ganze Reihe der Lebewesen bedeutet nichts anderes als die zurückgebliebenen Stufen, durch die er seinen Körperbau heraufentwickelt hat bis zur heutigen Vollkommenheit. Die heutigen Lebewesen geben natürlich nicht mehr diejenige Gestalt wieder, welche ihre Vorfahren auf einer bestimmten Stufe hatten, als sie sich vom Menschenstammbaum abzweigten. Sie sind nicht stehengeblieben, sondern nach einem bestimmten Gesetze, das hier wegen der notwendigen Kürze der Darstellung nicht weiter berücksichtigt werden kann, verkümmert. Das Interessante ist nun, dass man äußerlich auch durch die Geisteswissenschaft auf einen Stammbaum des Menschen kommt, der dem von Haeckel konstruierten gar nicht so unähnlich ist. Doch macht Haeckel aus den physischen ›Urvätern‹ des Menschen überall – hypothetische – Tiere. In Wahrheit sind aber an alle die Stellen, an die Haeckel Tiernamen setzt, die noch unvollkommenen Vorfahren des Menschen zu setzen, und die Tiere – ja sogar alle Wesen – sind nur die verkümmerten, herabgekommenen Formen, welche jene Stufen beibehalten haben, durch die hindurch sich die Menschenseele gebildet hat. Äußerlich besteht also eine Ähnlichkeit zwischen den Haeckelschen und den theosophischen oder geisteswissenschaftlichen Stammbäumen; innerlich – dem Sinne nach – sind sie himmelweit verschieden.« (GA 54, S. 16 ff.)

Angeblich begeht Steiner – geleitet von Max Stirner – 1897 einen »Vatermord« an Goethe und wird durch jenen zum »Nihilisten« und »Atheisten«.

Auf S. 98-99 schreibt Zander über Steiner im Jahr 1897:

»In dieser Situation begibt sich Steiner an einem Vatermord [sic !] und schreibt seit Sommer 1896 das Buch ›Goethes Weltanschauung‹. Von dem Metaphysiker und Idealisten Goethe war nichts mehr geblieben. ...  In einer makellosen Konfession bekennt sich Steiner zu Max Stirner, diesen zitierend:

›Eigner bin ich meiner Gewalt, und ich bin es dann, wenn ich mich als Einzigen weiß. Im Einzigen kehrt selbst der Eigner in sein schöpferisches Nichts zurück, aus welchem er geboren wird. Jedes höhere Wesen über mir, sei es Gott, sei es Mensch, schwächt das Gefühl meiner Einzigkeit und erbleicht erst vor der Sonne dieses Bewusstseins. Stell ich auf mich, den Einzigen, meine Sache, dann steht sie auf dem Vergänglichen dem sterblichen Schöpfer seiner, der sich selbst verzehrt, und ich darf sagen: Ich hab’ mein Sach’ auf nichts gestellt.‹ 52

 ... Das war Nihilismus ohne Vorbehalte, Steiner hatte im Land des Atheismus Wurzeln geschlagen.«

1.

Vom »Idealisten und Metaphysiker« Goethe war 1897 nichts mehr übriggeblieben und Steiner hatte »im Land des Atheismus Wurzeln geschlagen«?

In »Goethes Weltanschauung« schreibt Steiner 1897 über Goethe:

»Goethe sieht in der Idee eines Dinges ein Element, das in demselben unmittelbar gegenwärtig ist, in ihm wirkt und schafft. Ein einzelnes Ding nimmt, nach seiner Ansicht, bestimmte Formen aus dem Grunde an, weil die Idee sich in dem gegebenen Falle in einer besonderen Weise ausleben muss. Es hat für Goethe keinen Sinn zu sagen, ein Ding entspreche der Idee nicht. Denn das Ding kann nichts anderes sein, als das, wozu es die Idee gemacht hat.« (S. 22)

»Solange der Mensch das Wirken und Schaffen der Idee nicht fühlt, bleibt sein Denken von der lebendigen Natur abgesondert. Er muss das Denken als eine bloß subjektive Tätigkeit ansehen, die ein abstraktes Bild von der Natur entwerfen kann. Sobald er aber fühlt, wie die Idee in seinem Innern lebt und tätig ist, betrachtet er sich und die Natur als ein Ganzes, und was als Subjektives in seinem Innern erscheint, das gilt ihm zugleich als objektiv; er weiß, dass er der Natur nicht mehr als Fremder gegenübersteht, sondern er fühlt sich verwachsen mit dem Ganzen derselben. Das Subjektive ist objektiv geworden; das Objektive von dem Geiste ganz durchdrungen ...

Das Erkenntnisvermögen erscheint dem Menschen nur so lange als subjektiv, als er nicht beachtet, dass die Natur selbst es ist, die durch dasselbe spricht. Subjektiv und objektiv treffen zusammen, wenn die objektive Ideenwelt im Subjekte auflebt, und in dem Geiste des Menschen dasjenige lebt, was in der Natur selbst tätig ist. Wenn das der Fall ist, dann hört aller Gegensatz von subjektiv und objektiv auf. Dieser Gegensatz hat nur eine Bedeutung, solange der Mensch ihn künstlich aufrecht erhält, solange er die Ideen als seine Gedanken betrachtet, durch die das Wesen der Natur abgebildet wird, in denen es aber nicht selbst wirksam ist. « (S. 55)

»Die der bloßen Anschauung zugängliche Wirklichkeit ist nur die eine Hälfte der ganzen Wirklichkeit; der Inhalt des menschlichen Geistes ist die andere Hälfte. Träte nie ein Mensch der Welt gegenüber, so käme diese zweite Hälfte nie zur lebendigen Erscheinung, zum vollen Dasein. Sie wirkte zwar als verborgene Kräftewelt; aber es wäre ihr die Möglichkeit entzogen, sich in einer eigenen Gestalt zu zeigen. Man möchte sagen, ohne den Menschen würde die Welt ein unwahres Antlitz zeigen. Sie wäre so, wie sie ist, durch ihre tieferen Kräfte, aber diese tieferen Kräfte blieben selbst verhüllt durch das, was sie wirken. Im Menschengeiste werden sie aus ihrer Verzauberung erlöst. Der Mensch ist nicht bloß dazu da, um sich von der fertigen Welt ein Bild zu machen; nein, er wirkt selbst mit an dem Zustandekommen dieser Welt.« (S. 64-65)

»Wer mit freiem, offenem Beobachtungsgeist und mit einem entwickelten Innenleben, in dem die Ideen der Dinge sich offenbaren, an die Erscheinungen herantritt, dem enthüllen diese, nach Goethes Meinung, alles, was an ihnen ist. Goethes Weltanschauung entgegengesetzt ist daher diejenige, welche das Wesen der Dinge nicht innerhalb der Erfahrungswirklichkeit, sondern in einer hinter derselben liegenden zweiten Wirklichkeit sucht.« (S. 71)

»Die befriedigende Grundstimmung, die Goethes Weltanschauung für ihn hat, ist derjenigen ähnlich, die man bei den Mystikern beobachten kann. Die Mystik geht darauf aus, in der menschlichen Seele den Urgrund der Dinge, die Gottheit zu finden. Der Mystiker ist gerade so wie Goethe davon überzeugt, dass ihm in inneren Erlebnissen das Wesen der Welt offenbar werde. Nur gilt ihm die Versenkung in die Ideenwelt nicht als das innere Erlebnis, auf das es ihm ankommt. Über die klaren Ideen der Vernunft hat er ungefähr dieselbe Ansicht wie Kant. Sie stehen für ihn außerhalb des schaffenden Ganzen der Natur und gehören nur dem menschlichen Verstande an. Der Mystiker sucht deshalb zu den höchsten Erkenntnissen durch Entwicklung ungewöhnlicher Zustände, z. B. durch Ekstase, zu einem Schauen höherer Art zu gelangen. Er tötet die sinnliche Beobachtung und das vernunftgemäße Denken in sich ab, und sucht sein Gefühlsleben zu steigern. Dann meint er in sich die wirkende Gottheit unmittelbar zu fühlen. Er glaubt in Augenblicken, in denen ihm das gelingt, Gott lebe in ihm. Eine ähnliche Empfindung ruft auch die Goethesche Weltanschauung in dem hervor, der sich zu ihr bekennt. Nur schöpft sie ihre Erkenntnisse nicht aus Erlebnissen, die nach Ertötung von Beobachtung und Denken eintreten, sondern eben aus diesen beiden Tätigkeiten. Sie flüchtet nicht zu abnormen Zuständen des menschlichen Geisteslebens, sondern sie ist der Ansicht, dass die gewöhnlichen naiven Verfahrungsarten des Geistes einer solchen Vervollkommnung fähig sind, dass der Mensch das Schaffen der Natur in sich erleben kann. ›Es sind am Ende doch nur, wie mich dünkt, die praktischen und sich selbst rektifizierenden Operationen des gemeinen Menschenverstandes, der sich in einer höheren Sphäre zu üben wagt.‹ (Vgl. Goethes Werke in der Sophien-Ausgabe. z. Abt., Band II, S. 41)

In eine Welt unklarer Empfindungen und Gefühle versenkt sich der Mystiker; in die klare Ideenwelt versenkt sich Goethe. Die Mystiker verachten die Klarheit der Ideen. Sie halten diese Klarheit für oberflächlich. Sie ahnen nicht, was Menschen empfinden, welche die Gabe haben, sich in die belebte Welt der Ideen zu vertiefen. Es friert den Mystiker, wenn er sich der Ideenwelt hingibt. Er sucht einen Weltinhalt, der Wärme ausströmt. Aber der, welchen er findet, klärt über die Welt nicht auf. Er besteht nur in subjektiven Erregungen, in verworrenen Vorstellungen. Wer von der Kälte der Ideenwelt spricht, der kann Ideen nur denken, nicht erleben. Wer das wahrhafte Leben in der Ideenwelt lebt, der fühlt in sich das Wesen der Welt in einer Wärme wirken, die mit nichts zu vergleichen ist. Er fühlt das Feuer des Weltgeheimnisses in sich auflodern. So hat Goethe empfunden, als ihm die Anschauung der wirkenden Natur in Italien aufging. Damals wusste er, wie jene Sehnsucht zu stillen ist, die er in Frankfurt seinen Faust mit den Worten aussprechen lässt:

Wo fass' ich dich, unendliche Natur?
Euch Brüste, wo? Ihr Quellen alles Lebens,
An denen Himmel und Erde hängt,
Dahin die welke Brust sich drängt...«

(S. 76-77; Textversion von 1897)

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2.

In einer »makellosen Konfession bekennt sich« Steiner zu Max Stirner, diesen zitierend?

Zander verweist mit Anmerkung 52 auf: »Steiner: Gesamtausgabe, Bd. 6, S. 93; 1897 ...« In der ersten Auflage findet sich das Stirnerzitat auf S. 78. Sowohl die erste als auch die zweite Auflage schließen unmittelbar an das Zitat die Sätze an:

»Aber zugleich darf der Mensch zu diesem Stirnerschen Geist, wie Faust zu Mephistopheles sagen: ›In deinem Nichts hoff' ich das All zu finden‹, denn in meinem Innern wohnt in individueller Bildung die Wirkungskraft, durch welche die Natur das All schafft. So lange der Mensch in sich diese Wirkungskraft nicht geschaut hat, wird er sich ihr gegenüber erscheinen wie Faust dem Erdgeist gegenüber. Sie wird ihm stets die Worte zurufen: ›Du gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht mir!‹ Erst die Anschauung des tiefsten Innenlebens zaubert diesen Geist hervor, der von sich sagt:

In Lebensfluten, im Tatensturm
Wall' ich auf und ab,
Webe hin und her!
Geburt und Grab,
Ein ewiges Meer,
Ein wechselnd Weben,
Ein glühend Leben,
So schaff' ich am sausenden Webstuhl der Zeit
Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid.

Ich habe in meiner ›Philosophie der Freiheit‹ darzustellen versucht, wie die Erkenntnis, dass der Mensch in seinem Tun auf sich selbst gestellt ist, hervorgeht aus dem innersten Erlebnis, aus der Anschauung der eigenen Wesenheit. Stirner hat 1844 die Ansicht verteidigt, dass der Mensch, wenn er sich wahrhaft versteht, nur in sich selbst den Grund für seine Wirksamkeit sehen könne. Bei ihm geht aber diese Erkenntnis nicht aus der Anschauung des innersten Erlebnisses, sondern aus dem Gefühle der Freiheit und Ungebundenheit gegenüber allen Zwang heischenden Weltmächten hervor. Stirner bleibt bei der Forderung der Freiheit stehen; er wird auf diesem Gebiete zu der denkbar schroffsten Betonung der auf sich selbst gestellten Menschennatur geführt. Ich versuche auf breiterer Basis das Leben in der Freiheit zu schildern, indem ich zeige, was der Mensch erblickt, wenn er auf den Grund seiner Seele sieht.«

Steiner übt also an Stirner eine ähnliche Kritik wie an Nietzsche: auch ersterer vermochte sich nicht zur Anschauung der produktiven Denktätigkeit aufzuschwingen, in der sich der Mensch des substantiellen Gehaltes bemächtigt, der aus dem Weltengrund in ihn eingeflossen ist, und war daher außerstande, der Idee der Freiheit jenes Fundament zu schaffen, auf dem sie felsenfest begründet werden kann. Während Nietzsche aufgrund der Blindheit gegenüber dem Ideenerleben mit seinem Denken im Anschauen der tierhaften Instinkte versank, verfiel Stirner in ein Pathos der Freiheit, das jeden Boden unter den Füßen verlor.

Steiner konnte aufgrund seiner Überzeugung, die er bereits in den »Grundlinien ...« ausgesprochen hatte, dass »der Weltengrund sich in die Welt vollständig ausgegossen hat« und »in seiner höchsten Form im Denken des Menschen erscheint«, 1897 schreiben: »Das Wirksame aller übrigen Dinge kommt im Menschen als Idee zur Erscheinung; das Wirksame im Menschen ist die Idee, die er selbst hervorbringt. In jeder einzelnen menschlichen Individualität vollzieht sich der Prozess, der im Ganzen der Natur sich abspielt: die Schöpfung eines Tatsächlichen aus der Idee heraus. Und der Mensch selbst ist der Schöpfer. Denn auf dem Grunde seiner Persönlichkeit lebt die Idee, die sich selbst einen Inhalt gibt.« (S. 92)

Sollte dies »Atheismus« sein, dann wurde Steiner nicht bereits 1897 durch Stirners oder wessen Einfluss auch immer zum Atheisten, sondern war bereits 1886 Atheist. Atheist ist Steiner aber nur in Zanders Bewusstsein, für den als ehemaligen – oder immerwährenden – Katholiken Gott nur in einer irgendwie transzendenten Form existieren kann. Wer die Transzendenz Gottes, wie sie im Zanderschen Bewusstsein existiert, ablehnt, wird dadurch noch lange nicht zum Atheisten. Seine Gottesidee widerspricht nur der Zanderschen.

Durch die Brille seines Vorurteils, Steiner sei Ende der 1890er Jahre in den Atheismus, Materialismus und Nihilismus abgesunken, vermag Zander auch in Steiners Beiträgen für das »Magazin für Literatur« nichts als naturalistische Positionen zu erkennen. Er unterstellt ihm aber auch weiterhin »Deutschnationalismus« und »Germanenschwärmerei«.

Auf S. 104 schreibt Zander:

»Das Magazin war seit den Achtzigerjahren ein Frontblatt des literarischen Naturalismus ... In diese Tradition trat Steiner ein, der damit seinem alten Idealismus weiterhin fernstand ...«

Damit nicht genug, Steiner verstieß auch noch gegen den von Zander auf den Thron gehobenen »literarischen Kanon« und machte sich der größten Sünden gegen die political correctness schuldig:

»So lobte er den Roman ›Loki‹ des heute fast vergessenen Ludwig Jacobowski in höchsten Tönen, vielleicht weil dieser sein Freund war, vielleicht auch, weil er sich als Deutschnationaler für Jacobowskis Germanenschwärmerei begeistern konnte.11«

Zander vergisst in diesem Kontext zu erwähnen, dass Jacobowski ein jüdischer Freund Steiners war, ein assimilierter Jude, durch den Steiner zur Mitarbeit am Mitteilungsblatt des »Vereins zur Abwehr des Antisemitismus« eingeladen wurde, einer Mitarbeit, der wir einige der schärfsten Stellungsnahmen Steiners gegen den Antisemitismus verdanken, die für diese Zeit – in welcher der Antisemitismus in Blüte stand – höchst untypisch waren. Zander unterstellt also nicht nur dem Juden Jacobowski Deutschtümelei, sondern unterstellt auch bei dieser Gelegenheit Steiner erneut Positionen, die er nicht vertrat.

Zanders Anmerkung 11 verweist auf die Rezension des Romans »Loki«, die 1899 im »Magazin für Literatur« erschien. Ein Blick in diese Rezension widerlegt gleich mehrere Fehlurteile Zanders.

Schon der erste Satz der Rezension widerlegt die Behauptung, Steiner sei ein Anhänger des Naturalismus gewesen: »Es gibt dichterische Aufgaben, denen gegenüber jeder Naturalismus versagen muss«, schreibt Steiner. Welche Aufgaben sind das? »Es sind diejenigen, die sich auf den Kampf der ewigen Mächte in der menschlichen Seele beziehen.« Spricht so ein Naturalist? Steiner fährt fort: »Um die Urkämpfe darzustellen, muss die Phantasie über dies Wirkliche [das der Naturalismus allein zu schildern imstande ist] hinausgehen. Sie muss in einer höheren idealen Sphäre als abgeschlossen darstellen, was die Wirklichkeit nie zum Abschluss bringt ... Will der Dichter das Walten des Ewigen darstellen, so löst er es los von den Zufälligkeiten des menschlichen Lebens, von den Leiden und Freuden des Alltags. Seine Gestalten werden dann zwar noch Menschen sein, aber Menschen, die des Zufälligen entkleidet sind.«

Was Steiner also in Wahrheit hier formuliert, ist das Gegenteil einer naturalistischen Position. Zeugt Jacobowskis Roman von Germanenschwärmerei oder Deutschnationalismus? Die Behauptung ist der reinste Irrwitz.

»Die dichtende Phantasie auf einer gewissen Kulturstufe«, schreibt Steiner, »stellt diese Kämpfe des Ewigen in der Seele in Form der Götter- und Sagenwelt dar. Nichts anderes ist diese göttliche oder sagenhafte Welt als ein Bild dessen, was auf dem Grunde des menschlichen Geistes vorgeht ... Zwei Mächte kämpfen stets in jeder Menschenbrust einen heißen, schweren, einen Kampf auf Leben und Tod miteinander. Die eine birgt in sich: Güte, Liebe, Geduld, Freundlichkeit, Schönheit; die andere: Hass, Feindschaft, Jähzorn, Feindlichkeit und das Element, das über der Stärke die weichen Formen der Schönheit stets vergessen wird.

Der dichtende Geist auf einer früheren Kulturstufe hat die beiden Mächte in den nordischen Gottheiten, des Balder und des Loki, einander gegenübergestellt. Ludwig Jacobowski hat sie in seinem Roman wieder dargestellt. Die alten nordischen Gottheiten haben ihm als Modelle für seine Gestalten gedient. Aber die Charaktere, die die nordische Sage in diese Gottheiten gelegt, bilden für Jacobowski nicht mehr als den Ausgangspunkt. Denn anders kämpfen die Mächte in der modernen Seele als in derjenigen des vorzeitlichen Menschen.

Der moderne Mensch führt ein vertiefteres Leben als derjenige der Vorzeit. Der Mensch einer früheren Zeit stellte die Kräfte, die in seinem eigenen Innern walten, ähnlich den Naturkräften vor, die er mit seinen Sinnen in der Außenwelt wahrnimmt. Für den Modernen nehmen diese Kräfte einen geistigeren Inhalt an.

Diesem veränderten Bewusstsein des Menschen über sich selbst entspricht die Umwandlung, die Jacobowskis Phantasie mit den Gestalten der Sage vollzogen hat ... Der Dichter hat dadurch die Sage vertieft. Einen Kampf, der aus der Liebe entspringt, hat er geschildert. Balder und Loki lieben Nanna. Aber Balder liebt, wie die Liebe selbst; er liebt mit einer Leidenschaft, die frei ist von Selbstsucht ... Loki liebt wie der Eigennutz liebt, der in der Liebe das Fest des höchsten Selbstgenusses feiert. Den ewigen Kampf des Egoismus und der Selbstlosigkeit stellt der moderne Dichter dar. Es ist der Kampf, den die moderne Seele in seiner ganzen Tiefe auskämpft; der Kampf, welcher den Inhalt der streitenden Weltanschauungen der Gegenwart bildet.«

Was zeichnet Jacobowskis Dichtung nach Steiners Auffassung aus? »Das Göttliche, dessen mystischer Mitschuldiger der Mensch ist, stellt er in individuellen Gestalten dar. Und aus dieser Phantasie, die mit dem Ewigen schaltet, fließt ihr eine lyrische Kraft, die dem Symbolischen, das er darstellt, das individuelle Blut gibt. Dieses lyrische Element ist wie eine Atmosphäre, in welcher diese ewigen Gestalten atmen und leben müssen. Sie steht über der sozialen Atmosphäre der Wirklichkeit, wie des Dichters Gestalten über der Wirklichkeit stehen.«

»Genuss und Entbehrung sind die Kräfte, die sich in unserer Seele ewig bekämpfen. Zur Liebe, zur Güte, zur Schönheit führt uns der Genuss; zum Egoismus, zur Härte, zur Macht führt uns die Entbehrung. Das Leben eines jeden ist erfüllt von dem Widerstreben dieser beiden Kräfte. Balder und Loki kämpfen immerwährend in unserer Seele. Wir könnten restlos glücklich sein, wenn wir bloß Genießende wären. Aber wir wüssten nichts von diesem Glücke. Ein freudiges Leben hätten wir; aber ein Leben, das gleich einem Traume wäre. Erst die Entbehrung klärt uns auf über unser Glück; aber sie zerstört zugleich ewig dieses Glück.«

Steiners Fazit zu Jacobowskis Dichtung: »Dass er eine große Weltanschauungsdichtung schaffen wollte, das drängte ihn, das Menschlich-Alltägliche zum Sagenhaft-Mythischen zu erheben. In diese Sphäre wird sich der tiefere Geist begeben, wenn er nicht den Umkreis unbedeutender Einzelheiten darstellen, sondern den großen Werdefluss der Dinge gestalten will. Auch Friedrich Nietzsche hat etwas dem Mythus Ähnliches geschaffen: als er die großen Aufgaben des weltfreudigen Menschen, des Daseinsbejahers, Zarathustra, darstellen wollte. Den Zug der Größe erhält die Dichtung, welche das Alltägliche zum Gleichnis und das Ewige-Bedeutende zum Ereignis macht.«

Wer »das Alltägliche zum Gleichnis« und »das Ewig-Bedeutende zum Ereignis« macht, ist bestimmt kein Naturalist. Wer in diesem Unterfangen eine »große Weltanschauungsdichtung« sieht, ist es gewiss ebensowenig.

Steiners Rezension aus dem Jahr 1899 ist aber auch noch aus einem anderen Grund von Interesse. Denn sie handelt in einer an den germanischen Mythos angelehnten Sprache von zwei Urkräften, die in der Seele jedes Menschen gegeneinander kämpfen, die Steiner später, in seiner theosophischen Zeit mit anderen Namen bezeichnete: als Luzifer und Ahriman. Und in Gestalt des Baldersohnes, der Loki bezwingt, erscheint sogar andeutungsweise der todüberwindende Gott, dem Steiner sich in seinen Schriften »Die Mystik im Aufgang ...« und das »Christentum als mystische Tatsache ...« zuwandte.

Steiners Rezension findet sich in den Materialien in voller Länge.

Eine »ungebremste« Darstellung seines »damaligen Materialismus und Atheismus« findet Zander auch in einer »großen literarischen Hommage«, die Steiner Ende der 1890er Jahre an Haeckel verfasst haben soll.

Auf S. 107-108 schreibt Zander:

»Für eine große literarische Hommage an Haeckel ...nutzt er ... eine andere Zeitschrift ... Hier bringt er seinen damaligen Atheismus und Materialismus ungebremst zur Darstellung. Natürlich waren die ›Kirchenreligionen‹ veraltet, war das, ›was wir ’kurzweg’ menschliche Seele nennen‹, ein Ergebnis körperlicher Funktionen, und ›wenn der Mystiker durch Versenken in sein Inneres sich zur Anschauung Gottes zu erheben glaubt, so sieht er in Wirklichkeit nur seinen eigenen Geist, den er zum Gott macht‹.«

Einen Nachweis dieser »großen literarischen Hommage« sucht man in Zanders Buch vergeblich. Man muss schon zur Steiner-Harddisk (der elektronischen Gesamtausgabe) greifen, um fündig zu werden. Zander bezieht sich auf den Aufsatz »Haeckel und seine Gegner«, den Steiner 1899 in der Zeitschrift »Die Gesellschaft« veröffentlichte.

Unter anderem auf diesen Aufsatz blickte Steiner hin, als er etwa vier Monate vor seinem Tod in seiner Autobiografie schrieb: »... ich spreche [gegen Ende des Jahrhunderts] öfter davon, dass der ›Geist‹ aus dem Schoße der Natur ›hervorgehe‹. Was ist da mit ›Geist‹ gemeint? Alles das, was aus menschlichem Denken, Fühlen und Wollen die ›Kultur‹ erzeugt. Von einem andern ›Geiste‹ zu sprechen, wäre damals ganz zwecklos gewesen. Denn niemand hätte mich verstanden, wenn ich gesagt hätte: dem, was am Menschen als Geist erscheint, und der Natur liegt etwas zugrunde, das weder Geist, noch Natur ist, sondern die vollkommene Einheit beider. [kurs. red.] Diese Einheit: schaffender Geist, der den Stoff in seinem Schaffen zum Dasein bringt und dadurch zugleich Stoff ist, der ganz als Geist sich darstellt: diese Einheit wird durch eine Idee begriffen, die den damaligen Denkgewohnheiten so fern wie möglich lag. Von einer solchen Idee aber hätte gesprochen werden müssen, wenn in geistgemäßer Anschauungsart die Urzustände der Erd- und Menschheitsentwickelung und die heute noch im Menschen selbst tätigen geist-stofflichen Mächte hätten dargestellt werden sollen, die auf der einen Seite seinen Körper bilden, auf der andern das lebendig Geistige aus sich hervorgehen lassen, durch das er die Kultur schafft. Die äußere Natur aber hätte so besprochen werden müssen, dass in ihr das ursprünglich Geist-Stoffliche als erstorben in den abstrakten Naturgesetzen sich darstellt.

Das alles konnte nicht gegeben werden.

Es konnte nur angeknüpft werden an die naturwissenschaftliche Erfahrung, nicht an das naturwissenschaftliche Denken. In dieser Erfahrung lag etwas vor, das einem wahren, geisterfüllten Denken gegenüber die Welt und den Menschen lichtvoll vor dessen eigene Seele stellen konnte. Etwas, aus dem der Geist wiedergefunden werden konnte, der in den traditionell bewahrten und geglaubten Bekenntnissen verlorengegangen war. [kurs. red.] Die Geist-Natur-Anschauung wollte ich aus der Naturerfahrung herausholen. Sprechen wollte ich von dem, was im ›Diesseits‹ als das Geistig-Natürliche, als das wesenhaft Göttliche zu finden ist. [kurs. red.] Denn in den traditionell bewahrten Bekenntnissen war dies Göttliche zu einem ›Jenseits‹ geworden, weil man den Geist des ›Diesseits‹ nicht anerkannte und ihn daher von der wahrnehmbaren Welt absonderte. Er war zu etwas geworden, das für das menschliche Bewusstsein in ein immer stärkeres Dunkel untergetaucht war. Nicht die Ablehnung des Göttlich-Geistigen, sondern die Hereinstellung in die Welt, die Anrufung desselben im ›Diesseits‹ lag in solchen Sätzen [kurs. red.], wie dem in einem der Vorträge für die ›Freie literarische Gesellschaft‹: ›Ich glaube, die Naturwissenschaft kann uns in schönerer Form, als die Menschen es je gehabt haben, das Bewusstsein der Freiheit wiedergeben. In unserem Seelenleben wirken Gesetze, die ebenso natürlich sind wie diejenigen, welche die Himmelskörper um die Sonne treiben. Aber diese Gesetze stellen ein Etwas dar, das höher ist als alle übrige Natur. Dieses Etwas ist sonst nirgends vorhanden als im Menschen. Was aus diesem fließt, darinnen ist der Mensch frei. Er erhebt sich über die starre Notwendigkeit der unorganischen und organischen Gesetzmäßigkeit, gehorcht und folgt nur sich selbst.‹ (Die letzten Sätze sind erst hier unterstrichen, waren es noch nicht im ›Magazin‹. Vgl. für diese Sätze das ›Magazin‹ vom 12. Februar 1898.)« (Mein Lebensgang, S. 268-269)

Finden sich Spuren dieses »schaffenden Geistes«, »der den Stoff in seinem Schaffen zum Dasein bringt und dadurch zugleich Stoff ist, der ganz als Geist sich darstellt« in Steiners »literarischer Hommage« an Haeckel, die angeblich von Materialismus und Atheismus trieft, wie Zander meint? Ja, sie finden sich durchaus, selbst in diesem Artikel. Man muss ihn nur lesen.

Zuvor aber der Hinweis, dass das Zitatfragment: »Natürlich ... war das, ›was wir ’kurzweg’ menschliche Seele nennen‹, ein Ergebnis körperlicher Funktionen ...« nicht eine Aussage Steiners widergibt, sondern aus einem von Steiner zitierten Text Haeckels stammt. Steiner zitiert in seinem Aufsatz aus Haeckels Publikation »Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft«:»Haeckel stellt (in ›Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft‹) das Werden des Menschengeistes in folgender Weise dar: ›Wie unser menschlicher Körper sich langsam und stufenweise aus einer langen Reihe von Wirbeltierahnen herangebildet hat, so gilt dasselbe auch von unserer Seele; als Funktion unseres Gehirns hat sie sich stufenweise in Wechselwirkung mit diesem ihrem Organ entwickelt. Was wir kurzweg ’menschliche Seele’ nennen, ist ja nur die Summe unseres Empfindens, Wollens und Denkens, die Summe von physiologischen Funktionen, deren Elementarorgane die mikroskopischen Ganglienzellen unseres Gehirns bilden. [kurs. red.] Wie der bewunderungswürdige Bau dieses letzteren, unseres menschlichen Seelenorgans, sich im Laufe von Jahrmillionen allmählich aus den Gehirnformen höherer und niederer Wirbeltiere emporgebildet hat, zeigt uns die vergleichende Anatomie und Ontogenie; wie Hand in Hand damit auch die Seele selbst – als Funktion des Gehirns – sich entwickelt hat, das lehrt uns die vergleichende Psychologie ...« – um nach einigen weiteren Ausführungen folgenden Kommentar anzuschließen:

Wer wirklich vom Sinn der Haeckelschen Weltanschauung durchdrungen ist, »wird die Gesetze des geistigen Lebens niemals auf einem anderen Wege als durch innere Erfahrung, durch Selbstbeobachtung zu erforschen suchen. Die Gegner der naturwissenschaftlichen Denkungsart reden gerade so, als wenn deren Anhänger die Wahrheiten der Logik, Ethik, Ästhetik und so weiter nicht durch Beobachtung der Geisteserscheinungen als solcher, sondern aus den Ergebnissen der Gehirnanatomie gewinnen wollten. Das von solchen Gegnern selbstgeschaffene Zerrbild naturwissenschaftlicher Weltanschauung nennen sie dann Materialismus und werden nicht müde, immer von neuem zu wiederholen, dass diese Ansicht unfruchtbar sein muss, weil sie die geistige Seite des Daseins ignoriere oder wenigstens auf Kosten der materiellen herabsetze ...

Kein naturwissenschaftlicher Denker wird je der Meinung sein, dass darüber, was im logischen Sinne wahr oder falsch ist, die körperlich-organischen Gründe Aufschluss geben können. Die geistigen Zusammenhänge können nur aus dem geistigen Leben heraus erkannt werden. Was logisch berechtigt ist, darüber wird immer die Logik, was künstlerisch vollkommen ist, darüber wird das ästhetische Urteil entscheiden. Ein anderes aber ist die Frage: Wie entsteht [kurs. red.] das logische Denken, wie das ästhetische Urteil als Funktion des Gehirnes? Über diese Frage allein spricht sich die vergleichende Physiologie und Gehirnanatomie aus. Und diese zeigen, dass das vernünftige Bewusstsein nicht für sich abgesondert existiert und das menschliche Gehirn nur benutzt, um sich durch dasselbe zu äußern, wie der Klavierspieler auf dem Klavier spielt, sondern dass unsere Geisteskräfte ebenso Funktionen der Form-Elemente unseres Gehirns sind, wie ›jede Kraft die Funktion eines materiellen Körpers ist‹ (Haeckel, Anthropogenie).«

Mit anderen Worten: Das Vorhandensein des menschlichen Geistes ist eine unbestreitbare, unhintergehbare Erfahrungstatsache. Man kann den Inhalt dieses Geistes nicht aus materiellen Vorgängen ableiten, die lediglich die Erscheinungsbedingungen dieses Geistes sind. Steiner fährt fort: »Wenn ich einen äußeren Vorgang, zum Beispiel die Bewegung einer elastischen Kugel, die durch eine andere gestoßen worden ist, erklären will, so kann ich nicht bei der bloßen Beobachtung stehen bleiben, sondern ich muss das Gesetz suchen, das Bewegungsrichtung und Schnelligkeit der einen Kugel durch Richtung und Schnelligkeit der anderen bestimmt. Ein solches Gesetz kann mir nicht die bloße Beobachtung, sondern nur die gedankliche Verknüpfung der Vorgänge liefern. Der Mensch entnimmt also aus seinem Geiste die Mittel, um das zu erklären, was sich ihm durch die Beobachtung darbietet. Er muss über die Beobachtung hinausgehen, wenn er sie begreifen will. Beobachtung und Denken sind die beiden Quellen unserer Erkenntnisse über die Dinge. Das gilt für alle Dinge und Vorgänge, nur nicht für das denkende Bewusstsein selbst. Ihm können wir durch keine Erklärung etwas hinzufügen, was nicht schon in der Beobachtung liegt.

Es liefert uns die Gesetze für alles andere, es liefert uns zugleich auch seine eigenen ... Über die Richtigkeit des Denkens entscheidet nur das Denken selbst. So ist es das Denken, das uns bei allem Weltgeschehen über die bloße Beobachtung, nicht aber über sich selbst hinausführt.«

»Wäre die menschliche Vernunft nur Abbild einer ewigen, dann könnte sie ihre Gesetzmäßigkeit nimmermehr durch Selbstbeobachtung gewinnen, sondern sie müsste sie aus der ewigen Vernunft heraus erklären. Wo immer aber eine solche Erklärung versucht worden ist [zum Beispiel durch Schopenhauers »Willen« oder Hartmanns »unbewussten Geist«], ist stets einfach die menschliche Vernunft in die Welt hinaus versetzt worden. Wenn der Mystiker durch Versenken in sein Inneres sich zur Anschauung Gottes zu erheben glaubt, so sieht er in Wirklichkeit nur seinen eigenen Geist, den er zum Gott macht, und wenn Eduard von Hartmann von Ideen spricht, die sich der Naturgesetze als Handlanger bedienen, um den Weltenbau zu bilden, so sind diese Ideen nur seine eigenen, durch die er sich die Welt erklärt. Weil Beobachtung der Geistesäußerungen Selbstbeobachtung ist, deshalb spricht sich im Geiste das eigene Selbst und nicht eine äußere Vernunft aus.

Im vollen Einklänge mit der Tatsache der Selbstbeobachtung steht aber die monistische Entwickelungslehre. Hat sich die menschliche Seele langsam und stufenweise mit den Seelenorganen aus niederen Zuständen entwickelt [kurs. red.], so ist es selbstverständlich, dass wir ihr Entstehen von unten her naturwissenschaftlich erklären, dass wir aber die innere Wesenheit dessen, was sich zuletzt aus dem komplizierten Bau des menschlichen Gehirns ergibt, nur durch die Betrachtung dieser Wesenheit selbst gewinnen können [kurs. red.]. Wäre Geist in einer der menschlichen Form ähnlichen immer vorhanden gewesen und hätte sich zuletzt nur im Menschen sein Gegenbild geschaffen, so müssten wir den Menschengeist aus dem Allgeist ableiten können; ist aber der Menschengeist im Laufe der natürlichen Entwickelung als Neubildung entstanden, dann begreifen wir sein Herkommen, wenn wir seine Ahnenreihe verfolgen; wir lernen die Stufe, zu der er zuletzt gekommen ist, kennen, wenn wir ihn selbst betrachten [kurs. red.].«

Die »menschliche Seele« hat sich also langsam und stufenweise zusammen mit den Seelenorganen aus niederen Zuständen entwickelt, ihr Entstehen von unten her lässt sich naturwissenschaftlich erklären, aber eine Erkenntnis der »inneren Wesenheit dessen«, »was sich zuletzt aus dem komplizierten Bau des menschlichen Gehirns ergibt«, kann »nur durch die Betrachtung dieser Wesenheit selbst« gewonnen werden.

Geist und Stoff haben sich durch eine Reihe von Stufen in gegenseitiger Wechselbeziehung entwickelt, Geist war immer schon im Stoff anwesend, war immer schon in der Natur enthalten, aber um in der Form erscheinen zu können, die er im menschlichen Bewusstsein annimmt, musste erst jener komplizierte Bau des menschlichen Gehirns, musste erst die menschliche Gesamtorganisation entstehen, durch die dieser Geist menschliche Gestalt annehmen konnte.

Der »schaffende Geist«, »der den Stoff in seinem Schaffen zum Dasein bringt und dadurch zugleich Stoff ist, der ganz als Geist sich darstellt« wird schon in Haeckels »Zellseele« vorausgesetzt. »Die Gesamtheit menschlicher Seelentätigkeiten« so Steiner, »die in dem einheitlichen Selbstbewusstsein ihren höchsten Ausdruck findet, entspricht dem komplizierten Bau des menschlichen Gehirnes ebenso wie das einfache Empfinden und Wollen der Organisation des Urtieres.«

Ein weiterer Hinweis auf dieses geist-stoffliche Urwesen, aus dem sich die menschliche Naturorganisation und der menschliche Geist gleichermaßen entwickelt haben, findet sich in Steiners Kritik an Du Bois-Reymonds »Ignorabimus«-Rede, wenn er schreibt: »Wer aber heißt Du Bois-Reymond erst aus der Materie den Geist auszutreiben, um nachher konstatieren zu können, dass er nicht in ihr ist! Die einfache Anziehung und Abstoßung des kleinsten Stoffteilchens ist Kraft, also eine von dem Stoff ausgehende geistige Ursache. Aus den einfachsten Kräften sehen wir in einer Stufenfolge von Entwickelungen sich den komplizierten Menschengeist aufbauen. Wir begreifen ihn aus diesem seinem Werden.«

Anziehung und Abstoßung sind Äußerungen von Kraft, einer vom Stoff ausgehenden und in ihm wirkenden geistigen Ursache. Bereits in der physikalischen Welt wird der Geist in Gestalt der Kraft greifbar. Die Aufgabe des Menschen besteht darin, den Geist im Stoff, im Diesseits zu finden, nicht ihn in eine jenseitige Welt hineinzuprojizieren. Denn im Diesseits, in der einheitlichen Welt, ist er für das menschliche Erkennen auffindbar. »Sprechen wollte ich«, so Steiner 1924, »von dem, was im ›Diesseits‹ als das Geistig-Natürliche, als das wesenhaft Göttliche zu finden ist.« Denn schon 1886 (in den »Grundlinien ...«) hatte sich der »Weltengrund vollständig in die Welt ausgegossen« und »trieb sie seither von innen« und trat »im Denken des Menschen« »in seiner höchsten Form« in Erscheinung.

»Haeckel und seine Gegner«, Die Gesellschaft 1899, XV. Jg., Bd. III, Heft 4-6 (GA 30 S. 152-200)

Süffisant geht Zander über Steiners prinzipielle Ablehnung des Antisemitismus hinweg und unterstellt ihm stattdessen einen »dumpfen Antisemitismus«.

Auf S. 115 schreibt Zander:

»Das überraschendste Engagement aber sind vielleicht Steiners Artikel, die er 1901 in den Mitteilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus publizierte. Wenn man sich seinen dumpfen Antisemitismus im Umgang mit Hamerlings Homunculus ins Gedächtnis ruft ... sind diese Veröffentlichungen in der Tat bemerkenswert.«

Steiner huldigte keinem »dumpfen Antisemitismus«. Vielmehr zeugt auch sein Aufsatz über Robert Hamerlings Homunculus von seiner Gegnerschaft gegen den Antisemitismus.

In seinem 1888 veröffentlichten Aufsatz über Hamerlings satirisches Versepos wandte sich Steiner nicht nur gegen eine künstliche Absonderung und Ghettoisierung der Juden in ihren jeweiligen Heimatländern, sondern verurteilte auch den Antisemitismus als die »widerlichste Form des Parteienstreits«.

Von den Antisemiten sagte er, sie zeichneten sich außer durch ihre »Eignung zum Toben und Lärmen« durch nichts aus als durch »den gänzlichen Mangel jedes Gedankens«. Vollkommen inhuman schien ihm die Forderung nach Ausgrenzung oder Ausweisung von Juden aus ihren europäischen Heimatländern, die im Anschluss an Dühring österreichische Antisemiten erhoben. Für die jüdische Existenz in Europa plädierend, schrieb er: »Aber die Juden brauchen Europa und Europa braucht die Juden.«

Den Einfluss des avantgardistischen Judentums auf die abendländischen Kulturideen des 19. Jahrhunderts hielt er für überaus günstig. Wenn er sich in diesem Aufsatz mit der Bemerkung, das religiöse Judentum mit seinem »aus dem grauen Altertum in die Neuzeit verpflanzten sittlichen Ideal« habe sich »längst ausgelebt«, gegen die Aufrechterhaltung prämoderner kollektiver jüdischer Lebensformen aussprach, wusste er sich in Übereinstimmung mit den meisten liberalen Juden dieser Zeit, waren doch, wie Michael A. Meyer, der Präsident des Leo Baeck Instituts, gezeigt hat, die Wortführer der aufgeklärten Juden in Europa bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Auffassung, das Judentum habe »seine Existenzberechtigung verloren, weil es keinen nur ihm eigenen, zeitüberdauernden Gehalt hatte«. Für diese gebildeten Juden war der Glaube, in den sie hineingeboren waren, »nur etwas Überholtes, Äußerliches«, das sie »auf unerfreuliche und unnötige Weise von der nichtjüdischen Welt trennte». Sie betrachteten das Judentum als ein »dahinsterbendes Überbleibsel der Vergangenheit».

Steiner wandte sich nicht nur gegen den primitiven »Radauantisemitismus«, sondern gegen jede Form des Antisemitismus. Dies dokumentieren insbesondere seine Aufsätze für die Mitteilungen des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus, die für den Kampf gegen den Antisemitismus wichtigste jüdische Zeitschrift um die Jahrhundertwende, in denen er unter anderem gegen die völkischen Ikonen Adolf Bartels und Houston Stewart Chamberlain, den Verfasser der Grundlagen des 19. Jahrhunderts, Stellung bezog.

Eine ausführliche Stellungnahme gegen den Antisemitismusvorwurf finden die Nutzer in den Untersuchungen unter dem Titel Steiner und der Antisemitismus.