Keine Phantasie ist Zander zu unappetitlich, als dass sie nicht gegen Steiner in Stellung gebracht werden könnte. Wenn es um Steiners »Sexualleben« geht, über das es schlechterdings keine Nachrichten gibt, greift er nach jedem Strohhalm, um seine zweifelhaften Vermutungen zu untermauern.

Auf S. 119 schreibt Zander über Steiners erste Ehe mit Anna Eunike:

»Ob auch Sexualität dazugehörte, weiß niemand. Aber zumindest hatte Steiner wohl diese Bedürfnisse schon einmal bei einer Prostituierten befriedigt, wenn er von Weimar aus nach Wien fuhr. Das jedenfalls dürfte Rosa Mayreder in aller Zurückhaltung gemeint haben, als sie berichtete, dass sich ihre Schwägerinnen im Hotel Matschakerhof, das der Familie ihres Mannes gehörte, über Steiners ›zweifelhafte Damenbesuche‹ beschwerten ...«

Zuerst also ein freimütiges Geständnis: Niemand weiß etwas. Aber Steiner »hatte wohl«, das jedenfalls »dürfte« Mayreder gemeint haben ...

Zander verweist als Quelle auf Rosa Mayreders Tagebücher, genauer auf einen Eintrag vom Oktober 1936, den die 78jährige – 39 Jahre (!) nach Steiners Besuch in Wien – verfasste. Mayreder vermittelte damals (1897) auf Steiners briefliche Bitte aus Weimar Otto Neumann-Hofer, dem Herausgeber des »Magazins für Literatur«, mit dem er wegen der Übernahme des Magazins verhandelte, ein Zimmer im Hotel Matschakerhof, das von Verwandten ihres Ehemannes geleitet wurde.

Der Anlass für den Tagebucheintrag Mayreders war ihre Lektüre der Autobiografie Steiners.

Darüber schreibt Mayreder Folgendes:

»Steiners Autobiographie ›Mein Lebensgang‹, die ich jetzt gelesen habe, ist in ihrer Art ein bedeutendes Werk; er stellt darin seine geistige Entwicklung so dar, wie es nur ein umfassend gebildeter Philosoph vermag. Und doch macht diese Darstellung einen schattenhaften Eindruck, weil sie sich nur im Geistigen bewegt. Er selbst findet, dass Privatverhältnisse nicht in die Öffentlichkeit gehören ... Das ist nicht wahr – was ein Mensch denkt, zeigt wohl die Beschaffenheit seines Intellektes, wie er handelt aber kennzeichnet seine Person. Menschlich nahe kommt er uns erst durch seine Privatverhältnisse.

Ich habe darüber nachgedacht, ob ich nicht verpflichtet wäre, diese Privatverhältnisse Steiners, soweit ich sie kenne, mitzuteilen; sie werfen aber ein so ungünstiges Licht auf ihn, dass ich mich nicht dazu entschließen kann. Er ist ja doch vielen ein geistiger Führer geworden, die in ihm Halt und Trost finden. Trotzdem erzählte ich einiges von ihm vor dem Ehepaar Roger anlässlich eines in der ›Glocke‹ erschienenen Nachrufes an Karl Kraus. Wie mit Steiner habe ich mit diesem, der auch eine große Gemeinde hinterließ, nur Unangenehmes und Niedriges erlebt. Nach dem Prozess Riehl beschuldigte Kraus die Vertreterinnen der Frauenbewegung, dass es nur ›Neid‹ sei, der ihre Haltung gegenüber der Prostitution bestimme; und Steiner, der mit dem Theaterdirektor Neumannhofer im Matschakerhof wohnte, machte nach seinem eigenen Eingeständnis (als sich meine Schwägerinnen über die zweifelhaften Damenbesuche beschwerten) den Zubringer für seinen Freund, der obendrein im Hotel des Diebstahls von Silberzeug überwiesen wurde ...« (Rosa Mayreder, Tagebücher 19873-1937, Frankfurt 1988, S. 292)

Was soll man von dieser Geschichte halten? Steiner machte den »Zubringer« für seinen Freund, der Silberzeug im Hotel gestohlen haben soll? Die Schwägerinnen beschwerten sich über Steiners »zweifelhafte Damenbesuche«? Offenbar handelte es sich um zweifelhafte Damenbesuche des »Freundes«, für den Steiner angeblich den »Zubringer« machte, nicht um solche bei Steiner selbst. Inwiefern der Tagebucheintrag Mayreders aber ein Beleg dafür sein soll, dass Steiner selbst seine sexuellen »Bedürfnisse schon einmal bei einer Prostituierten befriedigt« habe, »wenn er von Weimar aus nach Wien fuhr«, ist vollkommen schleierhaft.

Nachdem Zander Steiner fleißig zum »Nihilisten« und »Atheisten« hochgeschrieben hat, kann er im Hinblick auf dessen Zuwendung zur Theosophie nun auch von einer »Konversion«, also einer »Bekehrung«, sprechen. Weder die eine noch die andere Behauptung halten jedoch einer näheren Prüfung stand.

Auf S. 144 schreibt Zander:

»Alles sah nach einem plötzlichen Seitenwechsel von der Atheismusfront zu den theosophischen Mystikern aus ... Auch Steiner dachte, je älter er wurde, in der Kategorie des Plötzlichen über seine theosophische Verwandlung. 1907 wird er die theosophische Bekehrung einer Begegnung mit seinem Meister zuschreiben und am Lebensende von einer Art Vision, vom ›Gestanden-Haben vor dem Mysterium von Golgatha‹ sprechen ...«

Allerdings muss Zander auch zugestehen, dass er diese »Konversion« nicht aus den Quellen belegen kann. So heißt es auf S. 147:

»Die näheren Umstände seiner Konversion vom Atheismus zum Idealismus liegen allerdings hinter einem undurchdringlichen Schleier von Quellenarmut verborgen. Irgendwo in diesem Prozess des Schreibens und Vortrages in der Theosophischen Gesellschaft hat Steiner die Rückwendung zur einem idealistischen Denken, welches er bis Anfang der Neunzigerjahre heiliggehalten hatte, vollzogen.«

Mit der Wendung: die »näheren Umstände seiner Konversion« lägen »hinter einem undurchdringlichen Schleier von Quellenarmut verborgen«, versucht Zander über die Tatsache hinwegzutäuschen, dass es für die von ihm behauptete »Konversion« keinerlei Nachweise in den veröffentlichten Quellen gibt. Aber selbst die von ihm aufgerufenen Zeugnisse (die Dokumente von Barr von 1907 und die Aussagen Steiners aus seiner Autobiografie) decken seine Behauptungen nicht ab.

Die Aufzeichnungen für Edouard Schuré sprechen nicht von einer »plötzlichen Konversion«, die durch eine Meisterbegegnung zustande gekommen wäre, sondern von einem kontinuierlichen Prozess der Vertiefung von Erfahrung und Erkenntnis. Die Begegnung, von der Steiner spricht, fand außerdem zwischen seinem 18. und seinem 19. Lebensjahr statt. Steiner hätte sich also schon damals – wenn er denn durch diese Begegnung konvertiert wäre – der Theosophie zuwenden müssen. Über die 1880er Jahre schreibt Steiner in seinen Notizen für Schuré: »Bei alledem konnte von einer öffentlichen Hervorkehrung der okkulten Ideen keine Rede sein. Und die hinter mir stehenden okkulten Mächte gaben mir nur den einen Rat: ›Alles in dem Kleide der idealistischen Philosophie‹.«

Und über die Jahrhundertwende: »Da kam die Zeit, wo ich im Einklange mit den okkulten Kräften, die hinter mir standen, mir sagen durfte: du hast philosophisch die Grundlegung der Weltanschauung gegeben, du hast für die Zeitströmungen ein Verständnis erwiesen, indem du so diese behandelt hast, wie nur ein völliger Bekenner sie behandeln konnte; niemand wird sagen können: dieser Okkultist spricht von der geistigen Welt, weil er die philosophischen und naturwissenschaftlichen Errungenschaften der Zeit nicht kennt.

Ich hatte nun auch das vierzigste Jahr erreicht, vor dessen Eintritt im Sinne der Meister niemand öffentlich als Lehrer des Okkultismus auftreten darf. (Überall, wo jemand früher lehrt, liegt ein Irrtum vor.)

Nun konnte ich mich der Theosophie öffentlich widmen.« (Siehe Dokumente von Barr).

Auch die Autobiographie stellt das Stehen vor dem Mysterium von Golgatha nicht etwa als »Konversionserlebnis« dar, von dem das Wirken für die Theosophie ausgegangen wäre, ganz abgesehen davon, dass von einer wie auch immer gearteten »Vision« keine Rede sein kann. Vielmehr schildert Steiner auch hier einen langwierigen Prozess: »In der Zeit, in der ich die dem Wort-Inhalt nach Späterem so widersprechenden Aussprüche über das Christentum tat, war es auch, dass dessen wahrer Inhalt in mir begann keimhaft vor meiner Seele als innere Erkenntnis-Erscheinung sich zu entfalten. Um die Wende des Jahrhunderts wurde der Keim immer mehr entfaltet. Vor dieser Jahrhundertwende stand die geschilderte Prüfung der Seele. Auf das geistige Gestanden-Haben vor dem Mysterium von Golgatha in innerster ernstester Erkenntnis-Feier kam es bei meiner Seelen-Entwickelung an.« (Kapitel 26)

Über den Grund, warum Steiner begann, in der Theosophischen Gesellschaft tätig zu werden, heißt es in der Autobiografie:

»Es war dies die Zeit, in der ich durch Gräfin und Graf Brockdorff aufgefordert wurde, an einer ihrer allwöchentlichen Veranstaltungen einen Vortrag zu halten. Bei diesen Veranstaltungen kamen Besucher aus allen Kreisen zusammen. Die Vorträge, die gehalten wurden, gehörten allen Gebieten des Lebens und der Erkenntnis an. Ich wusste von alledem nichts, bis ich zu einem Vortrage eingeladen wurde, kannte auch die Brockdorffs nicht, sondern hörte von ihnen zum ersten Male. Als Thema schlug man mir eine Ausführung über Nietzsche vor. Diesen Vortrag hielt ich. Nun bemerkte ich, dass innerhalb der Zuhörerschaft Persönlichkeiten mit großem Interesse für die Geistwelt waren. Ich schlug daher, als man mich aufforderte, einen zweiten Vortrag zu halten, das Thema vor: ›Goethes geheime Offenbarung‹. Und in diesem Vortrag wurde ich in Anknüpfung an das Märchen ganz esoterisch. Es war ein wichtiges Erlebnis für mich, in Worten, die aus der Geistwelt heraus geprägt waren, sprechen zu können, nachdem ich bisher in meiner Berliner Zeit durch die Verhältnisse gezwungen war, das Geistige nur durch meine Darstellungen durchleuchten zu lassen.« (Kapitel 30) Während seine nicht-theosophischen Leser oder Zuhörer nur geneigt waren, seine Ausführungen literarisch aufzunehmen, und seinem eigentlichen Anliegen kein Verständnis entgegenbrachten, fand er ein solches Verständnis unter Theosophen: » Was mir auf dem Herzen lag, dem Leben die Impulse der Geistwelt einzufügen, dafür gab es [unter dem allgemeinen Publikum] kein Verständnis. Dieses Verständnis konnte ich aber allmählich in theosophisch interessierten Menschen finden.« (ebd.) Die bange Frage vor der Jahrhundertwende: »Muss man verstummen?«, fand ihre Beantwortung durch eine Zuhörerschaft, die hören wollte.

Nicht genug damit, dass Zander Steiner unterstellt, dieser habe gelegentlich Prostituierte aufgesucht, um seine sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen. Vielmehr schreibt er seine schmierigen Phantasien in jede Beziehung ein, die Steiner während seines Lebens zu Frauen unterhielt. Zander mag sich ja für sein eigenes Leben das Recht auf diese systematische Sexualisierung seiner zwischenmenschlichen Beziehungen vorbehalten, auf andere projiziert, die eine solche gerade nicht praktizierten, stellt sie jedoch eine spirituelle Schändung der betroffenen Personen dar.

Auf S. 148-149 schreibt er:

»Irgendwann in dieser Vortragszeit, vermutlich im Frühjahr 1901, muss Steiner eine liebenswerte Krankheit bekommen haben, ein leises amouröses Herzflimmern. Denn die Theosophische Gesellschaft ... war der Hafen, in den junge Theosophinnen auf der Suche nach dem Sinn des Lebens einliefen. Eine davon sollte für gut zwei Jahrzehnte Steiners Schicksalsgefährtin und Muse, seine Geliebte und Mitarbeiterin werden ...: Marie von Sivers ...

Zwei suchende Seelen waren in das Magnetfeld der Theosophie geraten, und bald würden sie nicht nur die Suche nach uralter Weisheit und höhere Welten teilen, sondern auch Tisch und Bett ...«

Der naive Leser wird sich fragen: Woher weiß Zander das alles? Woher weiß er, dass Steiner von einem »amourösen Herzflimmern« befallen wurde, dass Marie von Sivers seine »Geliebte« wurde, dass er Tisch »und Bett« mit ihr teilte? War er dabei? Verfügt er möglicherweise über einen Einblick in die Akasha-Chronik, durch deren Schlüsselloch er nicht nur einen Blick in Steiners Schlafzimmer werfen konnte, sondern auch in Steiners Seele? Wie kommt er dazu, Marie von Sivers als Steiners »Muse« und »Geliebte« zu bezeichnen?

Wer sich von Zanders sentimental verniedlichender Sprache nicht einlullen lässt, wird die Ungeheuerlichkeit solcher Sätze empfinden. Im gesamten überlieferten Textcorpus des Nachlasses, in keinem Brief und in keinem Bericht irgendwelcher Augenzeugen gibt es auch nur einen einzigen Hinweis darauf, dass Marie von Sivers Steiners Geliebte war, dass er mit ihr »das Bett« geteilt hätte!

Nun – wäre dies der Fall gewesen, wäre das ja auch nicht weiter schlimm. Aber schlimm ist, dass Zander mit einer Unverfrorenheit, die ihresgleichen sucht, Tatsachen erfindet, für die es keinerlei Belege gibt. Und schlimm ist, dass seine reichlich sprudelnde Phantasie offenbar darauf fixiert ist, seelisch-geistige Beziehungen in die Sphäre des Sexuellen herabzuziehen, um sie dadurch zu entwerten oder zu demaskieren. Warum dieses Interesse, jede Frauenbeziehung Steiners ins Genitale zu übersetzen? Es scheint, als könnte Zander es einfach nicht ertragen, dass Steiner sich dem Grundsatz gemäß verhielt, den er bereits als 19jähriger aussprach: »Das ist echte Liebe, wo man mit dem Bilde zufrieden ist und das Fleisch nicht braucht, ja es unterdrückt.«

Im selben Brief findet sich dieser Satz, der auch davon berichtet, Steiner habe jenes »geheime, wunderbare Vermögen« in sich entdeckt, »sich aus dem Wechsel der Zeit in unser innerstes, von allem, was von außen hinzukam, entkleidetes Selbst zurückzuziehen und da unter der Form der Unwandelbarkeit das Ewige« anzuschauen, von dem Schelling spreche. »Kehre vor allem in Dein Innerstes ein« schreibt Steiner an Josef Koeck, »und betrachte es als Deine Pflicht, zu erforschen, ob Dein Liebesverhältnis ganz frei war von Selbstsucht – ganz bis aufs Äußerste frei –, denn was Du da vom Verzichten als einem unedlen Handeln sagst, das gestehe ich offen, dass ich's nicht verstehe; noch weniger, warum es besser gewesen, Du hättest nicht verzichtet. – War es ganz frei davon, dann, guter Freund, brauchst Du weiter nichts, Du hast genug, hast Cyane in Dein Herz aufgenommen; da lebt sie drinnen fort, ihr Bild genügt Dir und das kannst Du mit dem Freunde sogar teilen; das ist echte Liebe, wo man mit dem Bilde zufrieden ist und das Fleisch nicht braucht, ja es unterdrückt. Da gibt's kein Grämen, keinen Kummer. Sage das auch dem Freunde!« (Briefe I, 13.01.1881)

Im lediglich drei Seiten langen Kapitelchen über die »Mystik im Aufgang des neuzeitlichen Geisteslebens ...« schreibt Zander seine Konversionsgeschichte fort. Hier entdeckt er zwei »Standardelemente des christlichen Konversionsformulars«: »Passivität und Licht«.

Auf S. 150-151 schreibt Zander, das von Steiner in der Einführung dargelegte Credo laute nunmehr: »›Die von uns unabhängige Welt lebt für uns dadurch, dass sie sich unserem Geiste mitteilt.‹ Das ... ist umstürzlerisch, wenn man sich erinnert, dass Steiner zweieinhalb Jahre zuvor noch verkündet hatte: ›Ich erschaffe eine Ideenwelt, die mir als das Wesen der Dinge gilt.‹ ...

Die Vermutung, dass es dabei um Steiners spirituelle Wiedergeburt geht, liegt insbesondere dann nahe, wenn man einige Zeilen weiterliest. Denn dort folgen zwei Standardelemente des christlichen Konversionsformulars. Zum einen: Passivität. ›Das Göttliche im Menschen‹ ›wird erweckt‹. Das grammatikalische Subjekt behauptet, dass der Mensch, Rudolf Steiner, zum Objekt eines fremden Einflusses, des Göttlichen, geworden sei. Zum anderen: Licht. ›Ein Licht blitzt in mir auf ...‹ ... Die Erleuchtungsmetapher indiziert einen Zustand, in dem alles in einem neuen Licht erscheint, und unterstreicht das Ergriffensein von einer äußeren Macht ...

Und dann folgt die große Coda seiner Konversionsgeschichte, die Immunisierung der Erfahrung. Denn eine Erweckung übersteige die Logik:

›Diese Ausführungen enthalten nichts, was eines logischen Beweises fähig oder bedürftig wäre. Sie sind nichts anderes als Ergebnisse der inneren Erfahrungen. Wer ihren Inhalt in Abrede stellt, der zeigt nur, dass ihm diese innere Erfahrung mangelt ...‹

Punkt. Damit beendet Steiner die philosophische Debatte und eröffnet das Reich spiritueller Autorität ... Erfahrung, nicht Erkenntnis, ist hier Steiners Schlüssel zur geistigen Welt.«

Geht man dem Nachweis für den zitierten Satz »Ich erschaffe eine Ideenwelt ...« nach, sucht man vergeblich. Er findet sich nicht in der ersten Auflage der »Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert«; die S. II, auf dem er stehen soll, gibt es nicht.

Was Zander über die beiden Standardelemente der Konversionsgrammatik ausführt, stellt eine vollkommene Fehlinterpretation dar. Steiner soll seiner Auffassung nach davon reden, er sei zum »passiven Objekt« eines fremden, nämlich des göttlichen Einflusses geworden und die Lichtmetapher solle auf das Ergriffensein durch eine äußere Macht hinweisen.

Steiner spricht in seiner Einführung jedoch nur von einem, nämlich der Selbsterkenntnis. Diese Selbsterkenntnis spricht er Hegel, Plotin, Proklus, Valentin Weigel, Meister Eckhart, Angelus Silesius, Spinoza, J.G. Fichte zu. In der Selbsterkenntnis geht diesen Geistern »eine Sonne auf, die noch etwas anderes beleuchtet, als die zufällige Einzelpersönlichkeit des Betrachters.« Die Selbsterkenntnis bereichere den Menschen mit einem neuen Sinn, von dem Fichte gesprochen habe. Bei aller anderen Art von Erkenntnis, so Steiner, liege der Gegenstand außer uns, bei der Selbsterkenntnis hingegen stünden wir innerhalb des Gegenstandes, den wir erkennen. Es ist also gerade nicht von einer außenstehenden Macht die Rede, sondern von einem Prozess, der sich innerhalb des menschlichen Bewusstseins abspielt. Jeder andere Gegenstand trete als »fertiger, abgeschlossener« an den Menschen heran, in unserem Selbst dagegen seien wir »Tätige, Schaffende, die das selbst weben, was wir in uns beobachten.« Diese Erkenntnis, dass wir selbst den Inhalt des Selbstes erzeugen, das wir erkennen, erscheine wie ein höheres Licht, wem sie aufgehe, der empfinde sich wie ein Blinder, der sehend werde. Von nichts anderem spricht Steiner hier, als von der Beobachtung der eigenen Denktätigkeit, die er in der »Philosophie der Freiheit« bereits als »Ausnahmezustand« bezeichnet hat.

»Die von uns unabhängige Welt lebt für uns dadurch, dass sie sich unserem Geiste mitteilt«, fährt Steiner fort: gemeint ist damit nicht eine vom Menschen unabhängige geistige Welt, sondern jene Welt, die dem Menschen als »fertige, abgeschlossene« gegenübertritt, die Welt der Sinne nämlich. »Sehe ich ein Ding, so bleibt das Ding außer mir; nehme ich mich wahr, so ziehe ich selbst in meine Wahrnehmung ein. Wer außer dem Wahrgenommenen noch etwas von seinem Selbst sucht, der zeigt, dass ihm in der Wahrnehmung der eigentliche Inhalt nicht aufleuchtet ... Wenn ich mir in meiner Selbstwahrnehmung nicht aufleuchte, dann bin ich mir nicht vorhanden. Leuchte ich mir auf, dann habe ich mich aber auch in meiner Wahrnehmung in meiner ureigensten Wesenheit. Es bleibt kein Rest von mir außer meiner Wahrnehmung.«

Nicht von einem Göttlichen also, das den Menschen von außen ergreift, spricht Steiner, sondern von dem Aufleuchten des Selbstes im Menschen, der dieses Selbst in der Selbsterkenntnis wahrnimmt. Und dieses Selbst wird nicht von einem Göttlichen von außen erweckt, sondern: »Die Wahrnehmung seiner selbst ist also zugleich Erweckung meines Selbstes ... Erwecke ich nun mein eigenes Selbst [sic!], nehme ich den Inhalt meines Innern wahr, dann erwecke ich auch zu einem höheren Dasein, was ich von außen in mein Wesen eingegliedert habe.«

Das Selbst, Rudolf Steiner, wird nicht von einem fremden Einfluss erweckt, sondern dadurch, dass es sich seiner eigenen geistigen Tätigkeit zuwendet: durch diese Blickwendung erwecke ich mein eigenes Selbst. Erblickt sich dieses Selbst als Quell seiner Tätigkeit, fällt von dieser Wahrnehmung aus auch Licht auf die übrige Welt, die ihm von außen gegeben ist. »Mit der Erweckung meines Selbstes vollzieht sich nämlich eine geistige Wiedergeburt der Dinge der Welt. Was die Dinge in dieser Wiedergeburt zeigen, das ist ihnen vorher nicht eigen.«

Es geht also nicht um Steiners »spirituelle Wiedergeburt«, sondern um die geistige Wiedergeburt »der Dinge der Welt« aus der Selbsterkenntnis. Im folgenden schildert Steiner an einem einfachen Beispiel, einem Steinwurf, der beobachtet wird, und dem Auffinden der Gesetze dieses Steinwurfs, was sich bei dieser geistigen Wiedergeburt der Dinge vollzieht. »Um die beiden Einflüsse [des Stoßes und der Erdanziehung] und ihre Wirkungsweisen gedankenmäßig zusammenzufügen, ist eine Summe von geistigem Inhalt nötig, den ich mir bereits angeeignet haben muss [in der »Philosophie der Freiheit« als »Begriffe« bezeichnet], wenn ich den fliegenden Stein wahrnehme. Ich wende also einen in mir bereits aufgespeicherten geistigen Inhalt an auf etwas, das mir in der Außenwelt entgegentritt ... Die beiden Hälften werden vereinigt, wenn der innere Sinn sich versteht, und ihm damit auch klar ist, was er selbst im Erkenntnisprozess den Dingen für Licht gibt.« »Ein äußeres Ding«, fährt Steiner fort, »ist ganz erkannt, wenn kein Teil an ihm ist, der nicht in dieser Art eine geistige Wiedergeburt erlebt hat. Jedes äußere Ding gliedert sich somit einem geistigen Inhalt ein, der, wenn er von dem inneren Sinn erfasst wird, das Schicksal der Selbsterkenntnis teilt.« Mit anderen Worten: Wer den Erkenntnisvorgang beobachtet und richtig versteht, erkennt, dass er durch diesen dem wahrgenommenen Inhalt der Welt einen Inhalt hinzufügt, der aus ihm selbst stammt und dass er diesen wahrgenommenen Inhalt dadurch auch seinem Selbst eingliedert. Denn »der geistige Inhalt, der einem Dinge zugehört, ist durch die Beleuchtung von innen, ebenso wie das eigene Selbst restlos in die Ideenwelt eingeflossen.« Punkt.

Und an diese Schilderung des Erkenntnisvorgangs schließen sich die Sätze: »Diese Ausführungen enthalten nichts, was eines logischen Beweises fähig oder bedürftig wäre. Sie sind nichts als Ergebnisse der inneren Erfahrungen ...« Bereits die »Grundlinien ...«, »Wahrheit und Wissenschaft« und die »Philosophie der Freiheit« haben diesen Vorgang untersucht und dargelegt, dass er beobachtet werden muss, wenn er verstanden werden soll. Davon spricht Steiner auch hier. »Wer ihren Inhalt [den Inhalt dieser Ausführungen] in Abrede stellt, der zeigt nur, dass ihm die innere Erfahrung mangelt«, das heißt, die Beobachtung des Erkenntnisvorgangs, der mehr als ein bloß logischer Prozess ist, der daher auch nicht logisch bewiesen werden kann.

Das alles soll nun laut Zander »Immunisierung der Erfahrung« und Eintritt in das Reich der »spirituellen Autorität« sein. Aber Steiner fährt fort: »Es darf nicht behauptet werden, dass diese innere Erfahrung nur durch die Begabung weniger Auserwählter möglich gemacht werde. Sie ist eine allgemein-menschliche Eigenschaft. Jeder kann auf den Weg zu ihr gelangen, der sich nicht selbst vor ihr verschließt.« »Für jeden aber, der die Fähigkeit hat, das Denken zu beobachten« heißt es in der »Philosophie der Freiheit« » – und bei gutem Willen hat sie jeder normal organisierte Mensch –, ist diese Beobachtung die allerwichtigste, die er machen kann. Denn er beobachtet etwas, dessen Hervorbringer er selbst ist; er sieht sich nicht einem zunächst fremden Gegenstande, sondern seiner eigenen Tätigkeit gegenüber. Er weiß, wie das zustande kommt, was er beobachtet. Er durchschaut die Verhältnisse und Beziehungen. Es ist ein fester Punkt gewonnen, von dem aus man mit begründeter Hoffnung nach der Erklärung der übrigen Welterscheinungen suchen kann.«

Steiner kommt in der Einführung auf S. 29 sogar selbst auf die »Philosophie der Freiheit« zu sprechen: »In meiner ›Philosophie der Freiheit‹ habe ich, von andern Gesichtspunkten ausgehend, gleichfalls auf die Urtatsache des Innenlebens hingewiesen (S. 50): ›Es ist also zweifellos: in dem Denken halten wir das Weltgeschehen an einem Zipfel, wo wir dabei sein müssen, wenn etwas zustande kommen soll. Und das ist doch gerade das, worauf es ankommt ...‹«

Die »Mystik ...« redet also in ihrem Einführungskapitel vom selben wie die »Philosophie der Freiheit«: in ihr wird nicht die christliche Konversionsgrammatik durchdekliniert, sondern diese wird im Licht der Urtatsache des erkennenden Bewusstseins neu interpretiert.

Lassen wir für die Zusammenfassung Steiner das Wort:

»Wer den Weg der inneren Erfahrung betritt, in dem erlangen die Dinge eine Wiedergeburt; und das, was an ihnen für die äußere Erfahrung unbekannt bleibt, das leuchtet dann auf.

So klärt das Innere des Menschen sich nicht nur über sich selbst, sondern es klärt auch über die äußeren Dinge auf. Von diesem Punkte aus öffnet sich eine unendliche Perspektive für die menschliche Erkenntnis. Im Innern leuchtet ein Licht, das seine Leuchtkraft nicht nur auf dieses Innere beschränkt. Es ist eine Sonne, die zugleich alle Wirklichkeit beleuchtet. Es tritt in uns etwas auf [das Denken], was uns mit der ganzen Welt verbindet. Wir sind nicht mehr bloß der einzelne zufällige Mensch, nicht mehr dieses oder jenes Individuum. In uns offenbart sich die ganze Welt. Sie enthüllt uns ihren eigenen Zusammenhang; und sie enthüllt uns, wie wir selbst als Individuum mit ihr zusammenhängen. Aus der Selbsterkenntnis heraus wird die Welterkenntnis geboren. Und unser eigenes beschränktes Individuum stellt sich geistig in den großen Weltzusammenhang hinein, weil in ihm etwas auflebt, was übergreifend ist über dieses Individuum, was alles das mitumfasst, dessen Glied dieses Individuum ist.«

Wenn also Zander davon redet, Erfahrung, nicht Erkenntnis sei »der Schlüssel zu Steiners geistiger Welt«, dann redet er ohne Verstand.

Eine weitere Falschmeldung verbreitet Zander über die Erstauflage des Buches »Das Christentum als mystische Tatsache«. Die Deutung des Jesus als Christus habe 1902 noch keine Rolle gespielt.

Auf S. 156 schreibt Zander:

»Steiners zentrale These lautet dabei, auch Jesus sei ein großer Eingeweihter gewesen. Die Deutung als Christus spielte 1902 noch keine Rolle, so weit war Steiner in seiner religiösen Biografie noch nicht.«

In der ersten Auflage des genannten Buches heißt es auf S. 87:

»Jesus ist Logos selbst, persönlich geworden. In ihm ist das Wort Fleisch geworden.«

Und auf S. 104:

Jesus »ist das lebendige Wort, in ihm ist Person geworden, was uralte Tradition war. Und der Evangelist darf das mit dem Satze aussprechen: in ihm ist das Wort Fleisch geworden.«

Und auf S. 111:

»Das Lamm, das erwürget war, und das Gott erkauft hat mit seinem Blute, der Jesus, der den Christus in sich gebracht hat, der also im höchsten Sinne durch das Lebens-Todes-Mysterium gegangen ist, öffnet das Buch [mit den sieben Siegeln].«