Angeblich kompensierte Steiner seine »Angst vor der schwarzafrikanischen Kultur mit der »trotzigen Behauptung europäischer Überlegenheit«.
Auf S. 243 schreibt Zander:
»Was Steiner hier als weite Perspektive aus der Höhe anthroposophischer Kosmogenese darstellt, erweist sich bei näherem Hinsehen als unbewältigter Kulturkonflikt, in dem sich die Angst vor der ihm fremden schwarzafrikanischen Kultur in der fast trotzigen Behauptung europäischer Überlegenheit Bahn bricht:
›[...] wir geben diese Negerromane den schwangeren Frauen zu lesen, da braucht gar nicht dafür gesorgt zu werden, dass Neger nach Europa kommen, damit Mulatten entstehen; da entsteht durch rein geistiges Lesen von Negerromanen eine ganze Anzahl von Kindern in Europa, die ganz grau sind, Mulattenhaare tragen werden, die mulattenähnlich aussehen werden!‹ (GA 348, 189)
Die Postulierung universeller geistiger Zusammenhänge wird zum Einfallstor für Ängste, so dass für Steiner die Abschottung bis zur geistigen Romanzensur hin die Folge ist. Politisch gesagt: ›Die Negerrasse gehört nicht zu Europa, und es ist natürlich nur ein Unfug, dass sie jetzt in Europa eine so große Rolle spielt.‹ (GA 349,53)
Das erste Zitat aus GA 348 ist insgesamt als ein Spiel mit Metaphern zu verstehen. Es beinhaltet nicht eine Kritik an der schwarzafrikanischen Kultur oder an den Mulatten (Mischlingen), sondern eine Kritik an der europäischen Zivilisation und am Kolonialismus.
Der »Negerroman« handelte von »Negern« (»Batouala, Véritable roman négre« von René Maran (1887-1960), als Sohn guyanesischer Eltern in Bordeaux aufgewachsen, Kolonialbeamter in der Zentralafrikanischen Republik.)
Zwar spricht sich Maran in seinem Nachwort gegen den Kolonialismus aus, und wirft den europäischen Kolonisatoren geistige Mediokrität und moralischen Verfall vor, gleichzeitig bestätigt er aber durch das Bild, das er vom Leben der Afrikaner entwarf, deren Vorurteile. Die Schwarzen werden in seinem Buch als faul, dumm und sexbesessen dargestellt. Außerdem wird die weibliche Beschneidung darin verherrlicht. Sexuelle Orgien werden als Beispiel eines naturnahen afrikanischen Lebens geschildert, das frei von den Verirrungen der westlichen Zivilisation sei. Mit anderen Worten: das Buch ist ein Beispiel für den in Europa zu Beginn der 1920er Jahre grassierenden »Negerkult«, der die kolonialistische Unterdrückung und Entwürdigung im Gestus der kulturellen Aneignung fortsetzte und überbot. Die ironische Pointe besteht darin, dass der Verfasser selbst Schwarzer war.
Der Roman ist für Steiner eine Metapher der geistigen Verwüstung, die der Kolonialismus in der Welt anrichtete und der Verlogenheit, die darin bestand, dass die Kulturen der kolonialisierten Völker zu Vorbildern der europäischen Erneuerung stilisiert wurden. »Der Mulatte« ist eine Metapher für diese geistige Verwüstung, ebenso das »mulattenähnliche Kind«.
Auch der Satz: »Die Negerrasse gehört nicht zu Europa, und es ist natürlich nur ein Unfug, dass sie jetzt in Europa eine so große Rolle spielt«, stellt eine Kritik am Kolonialismus dar, der indigene Völker entwurzelt und mit Gewalt an fremde Lebensschauplätze verpflanzt.
Besonders gravierend sind die Zitatfälschungen, die Zander in bezug auf Steiners Haltung zum Judentum vornimmt. Er montiert Bruchstücke aus Sätzen, legt Steiner das Gegenteil dessen in den Mund, was er tatsächlich gesagt hat und greift zu den wüstesten Unterstellungen.
Auf S. 243-244 schreibt Zander:
»Das Judentum, von Steiner als Rasse [sic!] definiert, erliegt in dieser Hermeneutik der gleichen kulturellen Ausgrenzung. Die evolutionstheoretische Herabsetzung arbeitet mit der Behauptung, das Judentum habe die Stufe eines kollektiven Bewusstseins noch nicht verlassen: ›Der Bekenner des Alten Testaments sagte noch nicht in seiner Persönlichkeit: Ich bin ein Ich. Er fühlte sich in dem ganzen alten jüdischen Volke und fühlte das 'Gruppen-Volks-Ich'‹ (GA 103, 58).
Die Folgen sind fast stereotyp die gleichen wie bei ›den Negern‹ und laufen auf eine Eliminierung aus der Geschichte hinaus: Da die monotheistische ›Mission‹ des Judentums abgelaufen sei (GA 121, 127) und ›die Offenbarung des alten Judentums [...] als etwas Wertloses auf unserer Erde angesehen werden‹ müsse (GA 148, 80), ›können die Juden eigentlich nichts Besseres vollbringen, als aufgehen in der übrigen Menschheit, sich vermischen mit der übrigen Menschheit, so dass das Judentum als Volk einfach aufhören würde‹67. ›Das Judentum als solches hat sich aber längst ausgelebt, hat keine Berechtigung innerhalb des modernen Völkerlebens, und dass es sich dennoch erhalten hat, ist ein Fehler der Weltgeschichte.‹ (GA 32,152)«
Anmerkung 67 verweist auf: GA 353, 189.
Auch diese Aussagen über das Judentum vermengen Texte aus unterschiedlichen zeitlichen Kontexten und über unterschiedliche zeitliche und inhaltliche Kontexte, um ein vollkommen falsches Bild entstehen zu lassen. Diese wilde Zitatmontage ist illegitim und muss notgedrungen in die Irre führen. Die Zitate stammen aus Texten von 1908, 1913, 1910, 1913, 1924, 1888.
1. Steiner hat das Judentum nicht »als Rasse« definiert. Für diese Behauptung liefert Zander außerdem keinen Beleg.
2. Er hat nicht behauptet, es habe »die Stufe des kollektiven Bewusstseins noch nicht verlassen« (1908).
3. Er hat nicht davon gesprochen, die »monotheistische Mission sei abgelaufen« (1910)
4. und auch nicht »die Offenbarung des alten Judentums als etwas Wertloses auf unserer Erde angesehen« (1913).
5. Die Aussage, die Juden sollten in der übrigen Menschheit aufgehen (1924), bezieht sich auf das in der Tat antiquierte völkisch-rassische Selbstverständnis des europäischen Zionismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts.
6. Die Sätze über das Judentum, »das sich längst ausgelebt habe« (1888), beziehen sich ebenfalls auf den Zionismus und seinen Versuch, in Palästina eine auf völkisch-rassischen Prinzipien der Abstammung und Blutsverwandtschaft gründende Heimstatt für das europäische Judentum zu errichten, um die assimilierten Juden vor dem Antisemitismus zu retten.
Doch der Reihe nach.
1. Die abseitige Behauptung Steiner habe das Judentum als Rasse definiert, bedarf keiner Berichtigung.
2. Steiner behauptete nicht, das heutige Judentum habe »die Stufe eines kollektiven Bewusstseins noch nicht verlassen«. Die betreffenden Ausführungen über die »Bekenner des Alten Testamentes« aus der Vortragsreihe über das Johannes-Evangelium 1908 beziehen sich auf die Bekenner des Alten Testamentes zur Zeit Jesu Christi, also vor über 2000 Jahren.
»Der Bekenner des Alten Testaments fühlte sich noch nicht so abgeschlossen in seiner einzelnen Persönlichkeit wie der Bekenner des Neuen Testaments. Der Bekenner des Alten Testaments sagte noch nicht in seiner Persönlichkeit: Ich bin ein Ich. Er fühlte sich in dem ganzen alten jüdischen Volke und fühlte das ›Gruppen-Volks-Ich‹. Versetzen wir uns einmal lebendig in das Bewusstsein eines solchen alttestamentlichen Bekenners.
So, wie der wirkliche Christ das ›Ich-bin‹ fühlt und allmählich immer mehr fühlen lernen wird, so fühlte der Bekenner des Alten Testaments nicht das ›Ich-bin‹. Er fühlte sich als ein Glied des ganzen Volkes und schaute hinauf zu der Gruppenseele, und wenn er das aussprechen wollte, sagte er: Mein Bewusstsein reicht hinauf bis zum Vater des ganzen Volkes, bis zu Abraham; wir – ich und Vater Abraham – sind eins. Ein gemeinsames Ich umfasst uns alle; und da erst fühle ich mich geborgen in der geistigen Substantialität der Welt, wenn ich in der ganzen Volkssubstanz mich ruhen fühle. – So sah der Bekenner des Alten Testaments hinauf bis zum Vater Abraham und sagte: Ich und der Vater Abraham sind eins. In meinen Adern fließt dasselbe Blut wie in Abrahams Adern. –
Und den Vater Abraham fühlte er wie die Wurzel, aus der jeder einzelne Abrahamite als ein Glied hervorging.
Da kam der Christus Jesus und sagte zu seinen nächsten intimsten Eingeweihten: Bisher haben die Menschen bloß geurteilt nach dem Fleisch, nach der Blutsverwandtschaft; die war für sie das Bewusstsein, dass sie in einem höheren, unsichtbaren Zusammenhange ruhten. Ihr aber sollt an einen viel geistigeren Zusammenhang glauben, an den, der weiter geht als die Blutsverwandtschaft. Ihr sollt an einen geistigen Vatergrund glauben, in dem das Ich wurzelt, der geistiger ist als jener Grund, der das jüdische Volk als Gruppenseele verbindet. Ihr sollt glauben an dasjenige, was in mir und in jedem Menschen ruht, und das ist nicht nur eins mit Abraham, das ist eins mit dem göttlichen Weltengrunde! Daher betonte der Christus Jesus im Sinne des Johannes-Evangeliums: ›Bevor der Vater Abraham war, war das Ich-bin!‹« (20. Mai 1908, GA 103)
Insofern Steiner hier den Kern seiner christlichen Theosophie (Anthroposophie) charakterisiert, an dessen Gültigkeit er bis zu seinem Tod festgehalten hat, stellt diese Interpretation des Christentums zugleich ein starkes Argument gegen den Rassismusvorwurf dar, der in der kurzsichtigen Debatte leider meist ignoriert wird. Das Christentum bringt für die gesamte Menschheit einen bewusstseinsgeschichtlichen Fortschritt, da es ihr ermöglicht, einen »viel geistigeren Zusammenhang« unter den Menschen zu begründen, der weit über die Blutsverwandtschaft hinausgeht, der die Blutsbande sprengt: eine Verwandtschaft, die durch einen »geistigen Vatergrund« vermittelt wird, »in dem jedes Menschen-Ich wurzelt«, der geistiger ist als jener »Vatergrund«, der die Angehörigen des einzelnen Volkes oder des einzelnen Stammes einst als Gruppenseele verband (ähnliche Entwicklungen stellt Steiner auch in Bezug auf die Germanen dar, die zu einem späteren Zeitpunkt – zur Zeit der Christianisierung – aus diesem an die Blutsverwandtschaft gebundenen Gruppenbewusstsein heraustraten. Die genannten Gesetzmäßigkeiten gelten im übrigen für alle tribalistischen Kollektive). Diese Aussagen über die »Bekenner des Alten Testamentes« zur Zeit Jesu Christi können natürlich nicht ohne weiteres auf die »Bekenner des Alten Testamentes« in der Gegenwart übertragen werden, es sei denn, diese identifizierten sich mit einem Gruppen-Ich, das an die Blutsgemeinschaft gebunden ist. Diese Identifikation stellte in der Tat einen Anachronismus dar.
3. Über die »Mission des Monotheismus« sprach sich Steiner in GA 121, am 20. Mai 1910 in Kristiania aus. Hier behauptete er nicht, diese monotheistische Mission sei »abgelaufen«, im Gegenteil er stellte den »Monotheismus« (Monismus) als weltgeschichtlich notwendigen Gegenpol zum »Polytheismus« (Pluralismus) dar – und zwar bis heute und darüberhinaus. »Monismus ist nicht ohne Pluralismus, und dieser nicht ohne jenen möglich. Daher müssen wir die Notwendigkeit beider wohl anerkennen.« Im zitierten Text spricht Steiner übrigens immer vom »semitischen Volk«, nicht von der »semitischen« oder »jüdischen Rasse«.
»Man könnte sagen: In der nachatlantischen Zeit, vom weitesten Osten in Indien und im weiten Bogen durch Asien hindurch bis nach Europa, hat dieser Dienst der Vielheit, der sich im Grunde genommen in unserer geisteswissenschaftlichen Weltanschauung dadurch ausdrückt, dass wir eine Summe der verschiedensten Wesenheiten, der verschiedensten Hierarchien anerkennen, seine mannigfaltigsten Vertretungen und Ausgestaltungen gewonnen.
Diesem Dienste der Vielheit musste eine synthetische, eine zusammenfassende Bewegung gegenüberstehen, eine Bewegung, die streng ausging von dem Monon, dem Monismus. Die eigentlichen Inspiratoren, die Impulsgeber alles Monotheismus und Monismus, aller Einheitsgöttlichkeit sind die semitischen Völker. ...
Wenn der Mensch hinaussieht in das große Weltendasein, dann würde er aber nicht weit kommen, wenn er immer nur betonte: Eine Einheit, ein Monon liegt der Welt zugrunde. Der Monismus oder Monotheismus allein genommen ist dasjenige, was nur ein letztes Ideal darstellen kann. Dies würde aber niemals zu einer wirklichen Welterfassung, zu einer durchgreifenden konkreten Weltanschauung führen können. Doch es musste in der nachatlantischen Zeit auch die Strömung des Monotheismus ihre Vertretung finden, so dass einem Volke übertragen war, das Ferment, den Impuls zu geben zu diesem Monotheismus.
Diese Aufgabe war dem semitischen Volke übertragen. Daher sehen Sie, wie sozusagen mit einer gewissen abstrakten Strenge, einer abstrakten Unerbittlichkeit das monistische Prinzip gerade in diesem Volke vertreten wird, und alle anderen Völker haben insofern, als sie ihre verschiedenen göttlichen Wesenheiten in eine Einheit zusammenfassen, den Impuls dazu bekommen von dieser Seite her. Der monistische Impuls ist immer von dieser Seite gekommen. Die anderen Völker haben pluralistische Impulse.
Es ist außerordentlich wichtig, dass man das ins Auge fasst. Derjenige, der sich mit dem Fortwirken der althebräischen Impulse befasst, der sieht heute noch bei dem gelehrten Rabbiner, dem gelehrten Rabbinismus in seinem extremsten Element den Monotheismus walten. Dass das Weltenprinzip nur ein einheitliches sein kann, das als Impuls zu geben, ist die Aufgabe gerade dieses Volkes.
Man könnte daher sagen: Alle anderen Nationen, Völker und Zeitgeister hatten eine analytische Aufgabe, eine Aufgabe, das Weltenprinzip in verschiedene Wesenheiten gegliedert vorzustellen, wie zum Beispiel die äußerste Abstraktion des Monon in Indien bald in eine Dreigliedrigkeit zerfallen ist, wie der Einheitsgott des Christentums zerfällt in die drei Personen. Die anderen Völker haben alle die Aufgabe, den Weltengrund zu analysieren und dadurch viel Inhalt zu schaffen für die einzelnen Teile dieses Weltengrundes, sich zu erfüllen mit reichem Vorstellungsmaterial, das die Erscheinungen liebevoll umfassen kann.
Das semitische Volk hat die Aufgabe, abzusehen von aller Vielheit und synthetisch sich der Einheit hinzugeben, daher die Kraft der Spekulation, die Kraft des synthetischen Denkens, zum Beispiel in der Kabbalistik, gerade aus diesem Impuls heraus die denkbar größte ist.
Was aus der Einheit durch das synthetische, das zusammenfassende Wirken des Ich jemals herausgesponnen werden konnte, ist im Laufe der Jahrtausende durch den semitischen Geist herausgesponnen worden.
Das ist die große Polarität zwischen Pluralismus und Monismus, und das ist die Bedeutung des semitischen Impulses in der Welt. Monismus ist nicht ohne Pluralismus, und dieser nicht ohne jenen möglich. Daher müssen wir die Notwendigkeit beider wohl anerkennen.« (GA 121, 12. Juni 1910 abends)
4. Steiner hat nicht die »Offenbarung des alten Judentums als etwas Wertloses auf unserer Erde angesehen«, was schon aus dem bereits über die monotheistische Mission der semitischen Völker Gesagten hervorgeht. Vielmehr schildert er in seinen Vorträgen über das Fünfte Evangelium 1913 Erlebnisse des (jüdischen) Jesus von Nazareth, der empfunden habe, dass die Offenbarungen der alten Propheten oder der göttlichen Stimme im Inneren (bath kol) für die damaligen Juden (vor über 2000 Jahren) »wertlos« geworden seien, weil es so gut wie niemanden mehr gab, der sie in ihrer ursprünglichen spirituellen Fülle zu verstehen vermochte. Mit anderen Worten: die frühere göttliche Offenbarung musste der Menschheit in anderer Form zuteil werden.
»Ein ungeheuer einschneidendes, schmerzlichstes Erlebnis war das für Jesus, dass er sich sagen musste: Einstmals ist verstanden worden, was die Propheten lehrten, verstanden worden ist vom hebräischen Volke die Sprache des Gottes, heute aber ist niemand da, der sie versteht; tauben Ohren würde man predigen. Solche Worte sind heute nicht mehr am Platze; es sind nicht mehr die Ohren da, sie zu verstehen! Wertlos und nutzlos ist alles, was man in solcher Weise sagen könnte. –
Und wie zusammenfassend das, was er in dieser Richtung zu sagen hatte, sprach Jesus von Nazareth zu seiner Mutter: Es ist nicht mehr für diese Erde möglich die Offenbarung des alten Judentums, denn die alten Juden sind nicht mehr da, um sie aufzunehmen. Das muss als etwas Wertloses auf unserer Erde angesehen werden.«
5. Die Aussage, die Juden sollten in der übrigen Menschheit aufgehen (1924), bezieht sich auf das völkisch-rassische Selbstverständnis des europäischen Zionismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts.
»Sehen Sie, ein sehr angesehener Zionist, mit dem ich befreundet war, der legte mir einmal seine Ideale auseinander, nach Palästina zu gehen und dort ein Judenreich zu gründen. Er tat selber sehr stark mit an der Begründung dieses jüdischen Reiches, tut heute noch mit und hat sogar in Palästina eine sehr angesehene Stellung.
Dem sagte ich: Solch eine Sache ist heute gar nicht zeitgemäß; denn heute ist dasjenige zeitgemäß, dem jeder Mensch, ohne Unterschied von Rasse und Volk und Klasse und so weiter sich anschließen kann. Nur das kann man eigentlich heute propagieren, dem sich jeder Mensch ohne Unterschied anschließen kann. Aber jemand kann doch nicht von mir verlangen, dass ich mich der zionistischen Bewegung anschließe.
Da sondert ihr ja wiederum einen Teil aus von der ganzen Menschheit! –
Aus diesem einfachen, naheliegenden Grunde kann eigentlich eine solche Bewegung heute nicht gehen. Sie ist im Grunde genommen die wüsteste Reaktion [ebenso wie der völkische Rassismus]. Natürlich erwidern einem dann solche Menschen etwas Merkwürdiges; sie sagen: Ja, in der Zeit hat es sich doch herausgestellt, dass die Menschen so etwas wie Allgemeinmenschliches gar nicht wollen, sondern fordern, dass sich alles aus dem Volkstümlichen [d.h. aus dem Völkisch-Rassischen] heraus entwickeln soll.
Dieses Gespräch, das ich Ihnen jetzt erzählt habe, hat stattgefunden vor dem großen Kriege 1914 bis 1918. Ja, sehen Sie, meine Herren, dass die Menschen die großen allgemeinmenschlichen Prinzipe nicht mehr wollen, sondern sich absondern, Volkskräfte entwickeln wollen [der auf homogene Volksgemeinschaften setzende Nationalismus und der damit zusammenhängende sozialdarwinistische Konkurrenzkampf der Volksrassen], das hat eben gerade zu dem großen Krieg geführt! Und so ist das größte Unglück dieses 20. Jahrhunderts gekommen von dem, was die Juden auch wollen. Und so kann man sagen: Da alles dasjenige, was die Juden getan haben, jetzt in bewusster Weise von allen Menschen zum Beispiel getan werden könnte, so könnten die Juden eigentlich nichts Besseres vollbringen, als aufgehen in der übrigen Menschheit, sich vermischen mit der übrigen Menschheit, so dass das Judentum als Volk [das sich als Rasse definiert] einfach aufhören würde. Das ist dasjenige, was ein Ideal wäre. Dem widerstreben heute noch viele jüdische Gewohnheiten – und vor allen Dingen der Hass der anderen Menschen [der Antisemitismus, der die Juden daran hindern will, sich in die übrige Menschheit zu integrieren].
Und das ist gerade dasjenige, was überwunden werden müsste.« (GA 353, Dornach 8. Mai 1924)
Mit anderen Worten: was überwunden werden muss, ist der völkische Rassismus, der die Menschen daran hindert, sich einem Vereinigungsgedanken anzuschließen, dem jeder Mensch, ohne Unterschied von Rasse und Volk und Klasse und so weiter sich anschließen kann. Denn nur das ist heute noch »zeitgemäß«, »dem sich jeder Mensch ohne Unterschied anschließen kann«.
6. Die Sätze über das Judentum, »das sich längst ausgelebt habe« (1888), beziehen sich ebenfalls auf den Zionismus. (GA 32, Robert Hamerling: »Homunkulus«. Modernes Epos in 10 Gesängen. Deutsche Wochenschrift 1888, VI. Jg., Nr. 16 u. 17)
Angeblich hat Steiner die Rassen- und Völkergeschichte »finalisiert« und deren Gipfel in der »weißen Rasse«, bzw. im »Deutschtum« gesehen.
Auf S. 244-245 schreibt Zander:
(1) »Ein Unterschied Steiners zu Blavatsky und der englischsprachigen Theosophie besteht allerdings in der Finalisierung der Rassen- und Völkergeschichte, die der deutschnational großgewordene Steiner68 in die ›weiße Rasse‹, näherhin ins »Deutschtum« (GA 64, 36) verlegt.«
(2) »Zu einem entscheidenden Terminus wird dabei der Begriff des Volkes, die nächstkleinere Kategorie unterhalb der Rasse, dem eine Schlüsselposition zuwächst (das aber hat auch linguistische Grunde, da im Englischen kein äquivalentes Wortfeld für Volk/völkisch zur Verfügung steht): »Volksgeister« (GA 121, 24) ›Volksgemüt‹69, ›Volksmerkmale‹ (GA 121, 75), ›Volksseelencharakter‹70, ›Volksseelenwesen‹71 (GA 121, 85), ›Völkerindividualität‹, (GA 121, 30), oder ›Gruppen-Volks-Ich‹ (GA 103, 58) sind nur eine Auswahl aus Steiners ›völkischem‹ Vokabular, das teilweise aus dem völkischen Diskurs entnommen ist, teilweise aber wohl auch auf Neubildungen Steiners zurückgeht (z.B. ›Völkerindividualität‹). –«
(3) »Dabei versteht er unter ›Volksseele‹ oft die kollektive Identität eines ›Volksseelenwesens‹72, unter ›Volksgeist‹ oft ein individuelles, engelartiges Wesen:
›Wenn Sie sich solche Wesenheiten denken, die auf der Stufe der geistigen Hierarchien stehen, die wir Erzengel nennen, haben Sie einen Begriff von dem, was man ’Volksgeister’ nennt, was man die dirigierenden Volksgeister der Erde nennt‹ (GA 121,24).«
(4) »Derartige Volksgeister werden nun einzelnen Völkern zugeordnet, die Steiner anthropomorph als ›Völkerindividualitäten‹ bezeichnet (GA 121, 30).«
1.
Schon rein logisch ergibt die Behauptung, Steiner habe eine »Finalisierung der Rassen- und Völkergeschichte«, auf die »weiße Rasse« bzw. das »Deutschtum« hin vorgenommen, keinen Sinn. Denn der Begriff der »weißen Rasse« und des »Deutschtums« sind nicht inhaltsgleich.
In Band 64 der Gesamtausgabe, auf den Zander verweist, gibt es nur eine einzige Verknüpfung der Begriffe »Deutschtum« und »Rasse« und diese enthält gerade eine Ablehnung einer rassistischen Gleichsetzung von Volkstum und Rasse. Steiner sagt nämlich in einer Auseinandersetzung über Lagarde:
»Mit dem, was eine materialistische Ansicht beim Volkswesen als ›Blut‹, als ›Rasse‹ bezeichnet, ist der nicht zufrieden, der das Wesen der Deutschheit an seiner Wurzel anfassen will.« Lagarde, so Steiner, ist jemand, der immer wieder betont, »dass das Wesen der Deutschheit in dem Geistigen ruht, in dem, was als der allem gemeinsame Geist durch die ganze deutsche Entwickelung geht«.
Und so zitiert er zustimmend Lagardes Äußerung: »Von unsern großen Männern sind Leibniz und Lessing sicher Slawen, Händel als ein Sohn eines Halloren ist ein Kelte, Kants Vater war ein Schotte: und doch, wer wird diese undeutsch schelten?« (GA 64, Berlin, 25. Februar 1915). Von einer »Finalisierung« der Völkergeschichte auf das Deutschtum ist hier ebenfalls nicht die Rede.
Die Ausführungen im Kontext: »Lagarde ist einer, der in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts aus tiefer Gelehrsamkeit, aber auch aus tiefem, seelenvollem Empfinden heraus über Deutschtum Mannigfaltiges gesprochen hat, über Quellen des Deutschtums, über Aussichten des Deutschtums. Er ist einer derjenigen, die nicht müde werden, immer wieder und wieder darauf hinzuweisen, daß das Wesen der Deutschheit in dem Geistigen ruht, in dem, was als der allem gemeinsame Geist durch die ganze deutsche Entwickelung geht. Mit dem, was eine materialistische Ansicht beim Volkswesen als ›Blut‹, als ›Rasse‹ bezeichnet, ist der nicht zufrieden, der das Wesen der Deutschheit an seiner Wurzel anfassen will. Lagarde war nicht damit zufrieden; denn er fühlte, dass das Wesen der Deutschheit nur durch geistige Ideen, durch geistige Empfindungen ausgedrückt werden kann. So sagt Lagarde: ›Das Deutschtum liegt nicht im Geblüte, sondern im Gemüte. Von unsern großen Männern sind Leibniz und Lessing sicher Slawen, Händel als ein Sohn eines Halloren ist ein Kelte, Kants Vater war ein Schotte: und doch, wer wird diese undeutsch schelten?‹«
Im übrigen setzt Steiner in diesen während des Ersten Weltkriegs gehaltenen öffentlichen Vorträgen das »Wesen des Deutschtums« zum Beispiel in folgendes: »die reifste, die herrlichste, die unvergänglichste Frucht dieser Kultur ist Goethes Geistesart.« (Berlin, 29. Oktober 1914)
Im Anschluss an Fichte heißt es: »Deutscher« werde man, indem »man im umfassendsten und universellsten Sinne des Wortes den höheren Menschen im Menschen sucht, der den Weg sucht zu dem, was dem äußeren Menschen fremd, der dadurch Mensch und groß ist, dass er alles Große und zu Liebende auch bei andern Menschen anderer Nationalitäten zu lieben vermag«.
Im Kontext: »Und Fichte – prägt er einen einseitigen Begriff, eine einseitige Idee des Deutschtums? Nein! können wir sagen; er prägt einen universellen Begriff des Deutschtums, einen Begriff, von dem wahrhaftig gesagt werden kann: Der Deutsche will immer werden; und er glaubt, dass man nur dann im vollsten Sinne des Wortes ein Deutscher sein kann, wenn man im vollsten Sinne des Wortes Mensch ist. Daher das schöne Wort in Fichtes ›Reden an die deutsche Nation‹, dieses wunderbare, beherzigenswerte Wort: ›... was an Geistigkeit und Freiheit dieser Geistigkeit glaubt und die ewige Fortbildung dieser Geistigkeit durch Freiheit will, das, wo es auch geboren sei und in welcher Sprache es rede, ist unseres Geschlechts, es gehört uns an, und es wird sich zu uns tun.‹
Wer so denkt, gehört uns an und wird sich zu uns tun. Das ist Schillers, das ist Fichtes Art: Deutscher zu werden dadurch, dass man im umfassendsten und universellsten Sinne des Wortes den höheren Menschen im Menschen sucht, der den Weg sucht zu dem, was dem äußeren Menschen fremd, der dadurch Mensch und groß ist, dass er alles Große und zu Liebende auch bei andern Menschen anderer Nationalitäten zu lieben vermag.« (GA 64, 5. November 1914)
2.
Die Behauptung, »der Begriff des Volkes« sei für Steiner »die nächstkleinere Kategorie unterhalb der Rasse«, ist falsch. So aufgefasst müsste der Inhalt des Volksbegriffs aus dem Rassenbegriff ableitbar sein. Das Gegenteil ist aber der Fall. Der Begriff des Volkes ist dem der Rasse nicht untergeordnet, sondern übergeordnet. »Ein Volk ist keine Rasse. Der Volksbegriff hat nichts zu tun mit dem Rassenbegriff. ... Rassen sind andere Gemeinschaften als Volksgemeinschaften.« (GA 121, Kristiania, 9. Juni 1910)
Wie definiert Steiner den Begriff »Volk«? »Ein Volk ist eine zusammengehörige Gruppe von Menschen, welche von einem der Archangeloi, einem der Erzengel geleitet wird.« (GA 121, Kristiania, 7. Juni 1910)
Nach Steiners Auffassung ist das geistige Wesen des Volkes eine emergente Form, die zu einer anderen Form hinzutritt und diese überwältigt, umformt, verdrängt, »auslöscht« (die Parallele zum Grundsatz des Aquinaten »anima forma corporis« ist nicht zu übersehen):
»Aus dem, was ich jetzt gesagt habe, werden Sie erkennen, in welchem Zeitraume der Evolution es erst einen Sinn hat, von dem Rassenbegriff zu sprechen. Es hat keinen Sinn – im eigentlichen Sinne des Wortes – , vor der lemurischen Zeit von einem Rassenbegriff zu sprechen, denn in dieser Zeit steigt der Mensch erst auf die Erde herab. Vorher war er im Umkreis der Erde; dann kam er auf die Erde, und es vererbten sich die Rassenmerkmale in der atlantischen Zeit und bis herein in unsere nach-atlantische Epoche. Wir werden sehen, wie in unserer Zeit die Volksmerkmale das sind, was die Rassencharaktere wieder auseinander bringt, was sie wieder auszulöschen beginnt.« (GA 121, Kristiania, 10. Juni 1910)
3.
Laut Zander versteht Steiner »unter ›Volksseele‹ oft die kollektive Identität eines ›Volksseelenwesens‹72, unter ›Volksgeist‹ oft ein individuelles, engelartiges Wesen.«
Anmerkung 72 verweist auf GA 65 »Aus dem mitteleuropäischen Geistesleben«. Versteht Steiner unter dem »Volksseelenwesen« eine »kollektive Identität« – im Unterschied zum »individuellen Volksgeist«? Nein. Der Inhalt des Begriffs »Volksseelenwesen« ist deckungsgleich mit dem Begriff des Volksgeistes: der »Volksgeist« ist das Wesen der Volksseele. Ist das Volksseelenwesen mit der »kollektiven Identität« gleichzusetzen? Nein, denn die Eigentümlichkeiten der Volksseele kann man nur erkennen, wenn man die menschliche Einzelseele studiert.
In GA 65 führt er aus: »So kann man die Eigentümlichkeiten der Volksseele nur dadurch studieren, dass man gewissermaßen ihre Wahlverwandtschaft untersucht zu demjenigen, was man als die tiefere Charakteristik der menschlichen Einzelseele findet. Da hinein zu schauen und zu sehen, was für Kräfte drinnen walten, das ist die Aufgabe. Selbstverständlich wächst ja der Mensch als menschliche Individualität heute über das Nationale hinaus.«
Über das Verhältnis von menschlicher Einzelseele – geistiger Individualität des Menschen – und Volksgeist führt Steiner 1910 in Kristiania aus:
»Denken Sie nun, wie das Ich beim Menschen, das höchste Glied desselben, in sich einschließt die Empfindungs-, Verstandes- und Bewusstseinsseele. Beim Erzengel ist es nun so, dass sein Seelenleben anfängt bei seinem Erleben in der Verstandes- oder Gemütsseele, dann hinaufgeht in das Ich, das sich aber ausbreitet in eine Welt höherer Reiche, in ein Reich geistiger Tatsachen, in dem es lebt, wie der Mensch im Reiche der Tiere, Pflanzen und Mineralien lebt.
So dass wir sagen können: Wir müssen zwar einsehen, dass dieses Erzengelwesen in seinem Seelenleben dasjenige, was wir menschliches Ich nennen, haben kann, jedoch können wir nicht sagen, dass das Ich des Erzengels mit diesem Ich gleicher Art ist. Mit dem Ich des Menschen ist also das Erzengel-Ich nicht einerlei. Das Erzengel-Ich liegt eben um zwei Stufen höher, so dass der Erzengel mit seinem Ich in einer höheren Welt wurzelt.
So wie nun der Mensch durch seine Sinnesempfindung auf Farben schaut, Töne hört, so schaut der Erzengel herunter auf die Welt, die das Ich als objektive Wahrheit umschließt, nur dass sich um dieses Ich noch etwas herumgruppiert von jenem Teile des Astralischen, das wir Menschen in uns als Verstandes- oder Gemütsseele kennen.
Denken Sie sich diese Wesenheiten in eine Welt schauend, die nicht das Mineralische, Pflanzliche und Tierische erreicht. Denken Sie, dass dafür der Blick, der ein geistiger ist, auf ihr Weltbild hingerichtet ist und dass sie da Mittelpunkte wahrnehmen. Diese Mittelpunkte sind die menschlichen Iche, um die sich wieder etwas gruppiert, das wie eine Art Aura aussieht. Da haben Sie das Bild, wie das Erzengelwesen auf die Völkerpersönlichkeiten [die einzelnen menschlichen Individualitäten], die zu dem Erzengel gehören, die das Volk ausmachen, heruntersieht. Seine Welt besteht aus einem astralischen Wahrnehmungsfelde, in dem gewisse Zentren darin sind. Diese Zentren, diese Mittelpunkte sind die einzelnen menschlichen Persönlichkeiten, sind die einzelnen menschlichen Iche. Also gerade so, wie für uns Farben und Töne, Wärme und Kälte im Wahrnehmungsfelde liegen und für uns die bedeutsame Welt sind, so sind für die Erzengelwesen, für die Volksgeister wir selbst mit einem Teil unseres Innenlebens das Wahrnehmungsfeld, und wie wir in die Außenwelt hineingehen und diese bearbeiten und umgestalten zu Instrumenten, so sind wir diejenigen Objekte – insofern wir zu diesem oder jenem Volksgeist gehören –, welche zu dem Arbeitsfelde der Erzengel oder Volksgeister gehören.
Da sehen wir hinein, so sonderbar das auch klingen mag, in eine höhere Erkenntnistheorie der Erzengel. Die ist nämlich eine ganz andere als die Erkenntnistheorie der Menschen, denn es ist schon dasjenige, was für die Erzengel das Gegebene ist, ganz anders. Für den Menschen ist das Gegebene das im Raume Ausgebreitete, das uns durch die Sinne als Farbe, Ton, Wärme, Kälte, Harte und Weichheit entgegentritt. Für die Erzengel ist das Gegebene, was innen im menschlichen Bewusstseinsfelde auftritt. Das ist für sie eine Summe von Zentren, von Mittelpunkten, um welche die inneren Erlebnisse der Menschen gesponnen sind, insofern als sich diese Erlebnisse in der Verstandes- oder Gemütsseele abspielen; ihre Tätigkeit ist in dem entsprechenden Falle aber eine höhere.
Wie spezialisiert sich nun das Weltbild der Erzengel oder Volksgeister? Für den Menschen spezialisiert sich das Weltbild dadurch, dass, wenn er irgendeinen Gegenstand mit der Hand ergreift, er ihn warm oder kalt empfindet. Der Erzengel erlebt etwas Ähnliches, indem er die menschlichen Individualitäten trifft. Da trifft er Menschen, welche mehr von der inneren Aktivität beseelt sind, reicheren Seeleninhalt haben, die machen auf ihn einen intensiveren Eindruck. Andere findet er lässig, lethargisch, mit armem Seeleninhalt, das sind die Wesen, die für ihn so dastehen, wie Wärme und Kälte für das Weltbild der menschlichen Seele. So spezialisiert sich das Weltbild des Erzengels, und je nachdem kann er die einzelnen Menschen gebrauchen, für sie arbeiten, indem er dasjenige webt, was aus seiner Wesenheit heraus das gesamte Volk zu leiten hat.« (GA 121, Kristiania, 9. Juni 1910)
4.
Volksgeister werden laut Zander von Steiner »anthropomorph als ›Völkerindividualitäten‹ bezeichnet« (GA 121, 30). Volksgeister sind nicht anthropomorph. Sie sind geistige Individualitäten, die einer anderen Ordnung angehören: »Wir müssen zwar einsehen, dass dieses Erzengelwesen in seinem Seelenleben dasjenige, was wir menschliches Ich nennen, haben kann, jedoch können wir nicht sagen, dass das Ich des Erzengels mit diesem Ich gleicher Art ist. Mit dem Ich des Menschen ist also das Erzengel-Ich nicht einerlei. Das Erzengel-Ich liegt eben um zwei Stufen höher, so dass der Erzengel mit seinem Ich in einer höheren Welt wurzelt.« (GA 121, Kristiania, 9. Juni 1910)
Angeblich sind »Kriege zwischen Völkern« nach Steiner »nur Epiphänomene von Kämpfen in der übersinnlichen Welt«.
Auf S. 245 schreibt Zander:
»Eine systematische Pointe der Anthroposophie, die enge Korrelierung von geistiger und irdischer Welt, arbeitet er auch in ›völkischen‹ Fragen heraus. In Rezeption der Mikro-Makrokosmos-Analogie haben die Ereignisse zwischen Völkern in der materiellen Welt ihr Pendant in der geistigen Sphäre: Kriege sind ihrer ›wahren‹ Natur nach nur Epiphänomene von Kämpfen in der übersinnlichen Welt: ›Dieser Kampf im Himmel gleichsam, er spielt sich ab zwischen Rußland und Frankreich in der geistigen Weit, ein lebendiger Kampf zwischen Osten und Westen. Und dieser Kampf ist die Wahrheit, und dasjenige, was sich in der physischen Weit abspielt, das ist die äußere Maja, das ist die Entstellung der Wahrheit‹ (GA 174b, 63).
In Wahrheit spricht Steiner in seinem Stuttgarter Vortrag vom 14. Februar 1915 von etwas ganz anderem, nämlich vom Gegenteil. Bekanntlich befanden sich zu diesem Zeitpunkt Frankreich und Rußland nicht im Krieg miteinander, sondern gehörten zur »Triple Entente«, die einen Zweifrontenkrieg gegen die »Mittelmächte« führten. Das »Epiphänomen« des Kampfes in der übersinnlichen Welt ist auf der Erde gerade nicht der Krieg, sondern das »Herzensbündnis«, die Entente.
Personifikationen Russlands (Mitte), Frankreichs (links) und Großbritanniens (rechts) auf einem russischen Poster, 1914.
Spirituell betrachtet stellt sich dieses Bündnis zwischen Frankreich und Rußland jedoch als Kampf dar, den der Zeitgeist Michael in der ätherischen Welt führt, um die »hochkultivierten Ätherleiber« von Verstorbenen, die aus der französischen Kultur hervorgegangen waren, in die kosmische Ätherwelt überzuführen. Und bei diesem Kampf kommen ihm die Seelen osteuropäischer Verstorbener zu Hilfe.
Warum führt Michael diesen Kampf? Er bereitet die Seelen aller Menschen auf das Erscheinen des Christus in der ätherischen Welt vor. »Nun würden scharf geprägte Ätherleiber, die in der elementarischen Welt um uns herum sind, immer störend sein in der Zeit, die herankommen muss, wo rein gesehen werden soll diese Äthergestalt, die der Christus annehmen muss.« Daher arbeitete Michael 1915 an der Auflösung dieser Ätherleiber.
Dieser Sachverhalt darf aber nicht verallgemeinert werden, es darf nicht »die Schlussfolgerung gezogen werden, dass in der geistigen Welt alles entgegengesetzt ist der physischen Welt. Jeder einzelne Fall muss untersucht werden.« Die Steiner unterstellte »systematische Pointe der Anthroposophie«, die sich aus der »Rezeption der Mikro-Makrokosmos-Analogie« ergeben soll, dass nämlich »Ereignisse zwischen Völkern in der materiellen Welt ihr Pendant in der geistigen Sphäre« haben, konkret gesprochen, dass »Kriege nur Epiphänomene von Kämpfen in der übersinnlichen Welt«, ist also gerade keine »systematische Pointe«, – das von Zander postulierte Gesetz ist falsch.
Wie lauten Steiners Ausführungen im Kontext?
»Wir wissen ja, dass der Mensch, wenn er durch die Pforte des Todes schreitet, hindurchträgt durch diese Pforte des Todes zunächst, nachdem er seinen physischen Leib den Erdenelementen übergeben hat, seinen Ätherleib, den Astralleib und das Ich. Wir wissen auch, dass dieser Ätherleib sich bald, sehr bald trennt von Ich und Astralleib, mit Ausnahme eines Extraktes, der davon zurückbleibt, und dass der Ätherleib sich mit dem allgemeinen Wirken des Kosmos ätherisch verbindet. Das alles haben wir ja öfters ins Auge gefasst.
Nun aber ist es so, dass der Mensch nach dem Tode durch seine Erkenntnisse, seine nach dem Tod ihm bleibenden Erkenntnisse dennoch zurückschaut auf die Schicksale des Ätherleibes, und dass diese Schicksale für ihn etwas bedeuten. Es bedeutet für den Menschen nach dem Tode etwas, wenn er anschaut die Schicksale seines Ätherleibes, die so verlaufen, dass dieser Verlauf eine Art Resultat des Erdenlebens ist.
Und dieses Resultat, dieses Ergebnis des Erdenlebens stellt sich verschieden heraus für die verschiedensten Verhältnisse der Erde, unter anderem auch für das verschiedene Erleben im Nationalen darinnen. Ganz anders stellen sich die Erdenreste, die für den Menschen eine Bedeutung haben nach dem Tode, sagen wir, bei einer Seele, die aus einem französischen Körper herausgeht und übergeht in die geistige Welt, und ganz anders bei einer solchen Seele, die heute aus einem russischen Leibe in die geistige Welt übergeht.
Seelen, die aus einem französischen Leibe heute herausgehen, gehören einer Kultur an, die gewissermaßen reif und überreif geworden ist, die vieles diesen Ätherleib erleben lässt auf der Erde. Das Eigentümliche der französischen Volkskultur – nicht die Kultur des einzelnen – besteht darin, dass der Ätherleib selber durcharbeitet wird, durchtränkt wird mit Kräften und Kraftwirkungen, und in einer sehr scharf geprägten Weise daher durch die Pforte des Todes tritt, und dann drinnen ist in der geistigen Welt. Solche Ätherleiber lösen sich lange nicht auf, sie bleiben lange als Spektren vorhanden. In seiner Vorstellung hat der Angehörige des französischen Volkstums, insofern er ihm angehört, eine ganz bestimmte Meinung von sich, von dem, was er gilt in der Welt. Das ist aber nichts anderes als die Spiegelung von den fest arbeitenden Kräften im Ätherleibe. Der Ätherleib ist plastisch fest gebildet und tritt so über in die geistige Welt.
Ganz anders ist das bei einem Ätherleib eines russischen Menschen. Der hat nicht eine so feste Prägung, der ist gewissermaßen elastischer, er löst sich in der geistigen Welt leichter auf; daher sind die Seelen durch ihn weniger gefesselt. Während durch das Hinschauen auf den aus einer Hochkultur hervorgehenden Ätherleib des Franzosen die französische Seele länger sozusagen verbunden ist mit dem Ätherleibe, ist die Seele des russischen Menschen nur kurz verbunden mit dem Ätherleibe. Es bedeutet das, was der Ätherleib durchmacht nach dem Tode, weniger für diese Seele des Ostens. Das aber hat eine sehr bestimmte, tiefgehende, bedeutsame Wirkung für das, was gewissermaßen hinter den Kulissen unseres Daseins in der Gegenwart geschieht. Die Schicksale der russischen Seele sind ja ganz andere als die Schicksale der französischen Seele in der Zeit zwischen dem Tode und einer neuen Geburt.
Nun wissen wir ja aus den verschiedensten Betrachtungen, dass wir entgegengehen im 20. Jahrhundert dem ätherischen Wirken des Christus-Geistes. Hingewiesen ist darauf schon im exoterischen Sinne an der entsprechenden Stelle des Mysteriendramas ›Die Pforte der Einweihung‹ von der Wiedererscheinung des Christus als ätherische Körperlichkeit. Und hingewiesen ist darauf auch schon in verschiedenen Betrachtungen, dass dieses Erscheinen des Christus für diejenigen Menschen, die fähig sein werden, ihn zu schauen, vorbereitet wird seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, indem der wirkende Zeitgeist seit dieser Zeit ein anderer ist als früher. Durch Jahrhunderte vorher war Gabriel der wirkende Zeitgeist; seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ist Michael der wirkende Zeitgeist. Michael ist es, der gewissermaßen die Erscheinung des Christus als ätherische Wesenheit vorzubereiten hat.
Das alles muss aber vorbereitet werden, das alles muss gewissermaßen in der Entwickelung gefördert werden, und es wird gefördert. In der Art wird es gefördert, dass Michael für die Erscheinung des Christus gewissermaßen den Kampf führt, dass er die Seelen in dem Erleben zwischen Tod und neuer Geburt vorbereitet auf dasjenige, was in der Erdenaura zu geschehen hat. Nun würden scharf geprägte Ätherleiber, die in der elementarischen Welt um uns herum sind, immer störend sein in der Zeit, die herankommen muss, wo rein gesehen werden soll diese Äthergestalt, die der Christus annehmen muss. Näher stehen einer reinen Auffassung dieser Äthergestalt diejenigen Seelen, die nach dem Tode durch ihre ätherischen Leiber weniger berührt sind. Daher stellt sich folgendes heraus.
Wir sehen, wie ein Teil der Arbeit des Michael dahingeht, beizutragen zur Auflösung der westeuropäischen hochkultivierten Ätherleiber, die eine feste Gestalt haben, und wir sehen, wie sich Michael bedient in diesem Kampfe der osteuropäischen Seelen. Und so sehen wir Michael, gefolgt von den Scharen der osteuropäischen Seelen, kämpfend gegen die westeuropäischen Ätherleiber und die Eindrücke, welche die Seelen nach dem Tode haben. So gibt es einen lebendigen Kampf hinter den Kulissen des heutigen Daseins. Dieser Kampf ist vorhanden, dieser Kampf in der geistigen Welt. Dieser Kampf im Himmel gleichsam, er spielt sich ab zwischen Rußland und Frankreich in der geistigen Welt, ein lebendiger Kampf zwischen Osten und Westen. Und dieser Kampf ist die Wahrheit, und dasjenige, was sich in der physischen Welt abspielt, das ist die äußere Maja, das ist die Entstellung der Wahrheit. Und man bekommt auch da, wie so oft, wenn man die geistigen Tatsachen betrachtet, auf diesem Gebiet den erschütternden Eindruck, dass oftmals dasjenige, was hier im Felde der Täuschung sich vollzieht, das gerade Gegenteil von dem ist, was in der geistigen Welt als Wahrheit sich vollzieht.
Denken Sie sich das ungeheuer Erschütternde für denjenigen, der Initiationserkenntnis erwirbt, dass ein Bündnis besteht zwischen Völkern, die sich in der geistigen Welt aufs heißeste bekämpfen! Solche Dinge dürfen natürlich nicht verallgemeinert werden, nicht etwa darf die Schlussfolgerung gezogen werden, dass in der geistigen Welt alles entgegengesetzt ist der physischen Welt. Jeder einzelne Fall muss untersucht werden. Aber für diesen Fall bekommen wir auch diesen erschütternden Eindruck, diesen unsere Erkenntnis, man möchte sagen, zunächst zermalmenden Eindruck.« (GA 174b, Stuttgart, 14. Februar 1915)
Die ganze Bedeutung dessen, was Steiner in diesem Vortrag ausführte, erfasst man aber erst, wenn man die Sätze hinzufügt, die den eben zitierten unmittelbar vorausgingen. Wer nämlich »aus nationalen persönlichen Leidenschaften heraus ein anderes Volk besonders hasst, ist dazu verurteilt, mit dessen Volksgeist zu schlafen.«
»Die Tatsachen der geistigen Welt«, so Steiner, »die sorgen schon dafür, dass das ganze Menschengeschlecht eine Einheit ist, und dass ein Sich-Her-aussondern nicht möglich ist ... Zu wissen, dass die ganze Menschheit im konkreten Sinne eine Einheit ist, ist unbequem, denn es gestattet nicht, dass man in einseitiger Weise Gefühle und Enthusiasmen so betrachtet, wie sie heute vielfach betrachtet werden ...«. Wer ein anderes Volk im Wachbewusstsein hasst, verurteilt sich dazu, im Schlafbewusstsein mit diesem Volk (Volksgeist) eins zu werden, er entkommt also der Liebe zu diesem Volk nicht, gegen das er sich durch seinen Hass zu wehren versucht. Die Menschheit ist eine geistige Einheit, man kann sich durch Hass und Krieg nicht aus ihr aussondern. Nähme man diese konkrete geistige Einheit in sein Tagesbewusstsein auf, würde die Absurdität von Hass und Krieg unmittelbar einsichtig.
»Wenn wir vom Einschlafen bis zum Aufwachen in der geistigen Welt weilen mit unserem Ich und Astralleib, da sind wir mit unserem Volksgeist, mit dem Volksgeist, der unserer Nationalität gewissermaßen vorsteht, nicht in Berührung, sondern wir sind nur in Berührung mit diesem Volksgeist während unseres wachen Tageslebens, vom Aufwachen bis zum Einschlafen. Unter den Kräften, in die wir untertauchen, wenn wir in den physischen Leib und den Ätherleib untertauchen, sind auch die Kräfte, in die hineinarbeitet der Volksgeist des Volkes, dem wir angehören. Wir betreten sozusagen das Feld dieses Volksgeistes, indem wir aufwachen; wir verlassen es wieder, wenn wir einschlafen.
Derjenige aber, welcher Initiationserkenntnisse sich erwirbt, der muss ja gerade während dieser Erwerbung in der Welt weilen, in der sein Volksgeist gerade nicht ist, denn er muss eintreten in die Welt, in der wir leben zwischen Einschlafen und Aufwachen. Und da stellt sich denn etwas Besonderes heraus.
Nehmen wir an, ein Mensch gehört also einem ganz bestimmten Volke an. Jeder gehört ja einem solchen an, indem er sich zu einer bestimmten Nationalität rechnen muss. Wenn der Mensch nun mit dem Einschlafen die Sphäre seines Volksgeistes verlässt, dann steht er eben mit diesem Volksgeist nicht mehr in Berührung, bis er wieder aufwacht. Da hinein begibt sich auch derjenige, der sich Initiationserkenntnisse erwirbt, und er kommt zusammen während der Zeit vom Einschlafen bis zum Aufwachen mit den anderen Geistern der Völker, die sonst auf der Erde leben, nur nicht mit seinem eigenen Volksgeist. Also man durchlebt ein Zusammensein mit den anderen Volksgeistern in der Zeit zwischen Einschlafen und Aufwachen, und mit seinem Volksgeiste in der Zeit zwischen Aufwachen und Einschlafen.
Nur ist das Zusammenleben mit den anderen Volksgeistern nicht so, dass man mit jedem einzelnen lebt, sondern man lebt mit ihrer Verbindung, gleichsam mit ihrer Genossenschaft, mit dem, was sie im Verhältnis zueinander vollbringen, mit der Gesamtheit der übrigen Volksgeister.
Also denken Sie sich, das menschliche Leben wechselt ab – so sagt uns die Initiationserkenntnis – zwischen einem Erleben mit dem Volksgeiste im Wachzustand und einem Erleben mit der Gesamtheit der anderen Volksgeister im Schlafzustand.
Nur gibt es ein Mittel gleichsam, wodurch wir ein abnormes Zusammenleben haben mit den anderen Volksgeistern, wodurch wir nicht mit ihrer Gesamtheit zusammenkommen im Schlafe, sondern mit einem besonderen Volksgeiste zusammenkommen. Das ist, wenn wir ein Volk besonders leidenschaftlich hassen. Das ist das Abnorme: Wir können dem nicht entgehen, wenn wir ein Volk besonders hassen, dass wir während des Schlafes in die Sphäre seines Volksgeistes kommen.
Und derjenige, der sich Initiationserkenntnisse erwirbt, der würde, wenn er ein Volk aus rein persönlichen nationalen Gründen besonders hasst, in die Sphäre seines Volksgeistes sich begeben, gerade wenn er in das Feld der Initiation eintritt, und es würde sich für ihn sehr bald die Unmöglichkeit ergeben, da drinnen ordentlich zu weilen. Trivial ausgedrückt, könnte ich sagen: Wer aus nationalen persönlichen Leidenschaften heraus ein anderes Volk besonders hasst, ist dazu verurteilt, mit dessen Volksgeist zu schlafen. Das ist trivial ausgesprochen, aber ganz wörtlich zu nehmen.
Die Tatsachen der geistigen Welt, die sorgen schon dafür, dass das ganze Menschengeschlecht eine Einheit ist, und dass ein Sich-Her-aussondern nicht möglich ist. Aber wenn wir solche Tatsachen ins Auge fassen, dann können wir daraus so manches lernen. Wir sprechen ja davon, dass die Welt, in der wir äußerlich mit unseren Sinnen und mit unserem Verstände, der an das Gehirn gebunden ist, leben, eine große Täuschung, eine Maja ist; aber auch diese Wahrheit, dass die Welt eine Maja ist, wir nehmen sie allzu abstrakt, wir nehmen sie bloß theoretisch. Ich möchte sagen, wir lassen uns noch herbei, diese Wahrheit verstandesmäßig zu fassen. Sie lebensvoll zu erfassen, dem widerstrebt nicht nur unser Verstand, sondern oftmals sogar unser Wille. Denn dasjenige, was hinter der Welt der Täuschung ist, es sieht so aus, dass wir nicht wollen, dass es so ausschaue. Wir scheuen uns davor, wir fürchten uns davor, weil uns die Wahrheit unbequem ist. Zu wissen, dass die ganze Menschheit im konkreten Sinne eine Einheit ist, das ist ja nicht bequem, denn es gestattet nicht, dass man in einseitiger Weise Gefühle und Enthusiasmen so betrachtet, wie sie heute vielfach betrachtet werden, sondern es belehrt uns darüber, was das in der Welt der Wirklichkeit bedeutet. Das aber ist unbequem.« (ebd.)
Angeblich sprach Steiner aus »deutschem Überheblichkeitssyndrom« dem deutschen Volk eine »Erlöserfunktion« zu.
Auf S. 246 schreibt Zander:
»Die Apotheose des deutschen Volkes gipfelt in der Akzeptanz von Formulierungen, die es in eine Erlöserfunktion einrücken und letztlich eine weniger prosaische Formulierung des deutschen Überheblichkeitssyndroms »Am deutschen Wesen / Soll die Welt genesen« darstellen. So zitiert er zustimmend den katholischen Priester Xavier Schmidt ›Wie Israel auserwählt war, den Christus leiblich hervorzubringen, so ist das deutsche Volk auserwählt, denselben geistig zu gebären.‹ Und Steiner kommentiert ›Wie ist da das Erfassen des Christentums im Geiste von diesem einfach gebildeten Priester Xavier Schmidt gekennzeichnet! Es lebt das, was ich charakterisiert habe, schon durchaus bis in das tiefste Volksgemüt hinein.‹74«
Es zeugt schon von einer gewissen Bösartigkeit, wenn der Hinweis Steiners darauf, dass Christus – das »Menschheits-Ich«, das »über alle Blutsbande«, »über alle Absonderung in Nationalitäten und Völker« hinausführt, der »Lehrmeister aller Volksseelen«, der diese Volksseelen dazu führen möchte, »in Harmonie zusammenzuwirken«, der kein »Volksgott«, sondern ein »Menschheitsgott« ist, der nur »in der Einzelseele«, aber »nicht in einem Volk« wiedergeboren werden kann – dass dieser Christus im Geiste erfasst werden muss, mit der völkisch-nationalsozialistischen Propagandaformel in eins gesetzt wird.
Das »Erfassen des Christentums im Geiste« rückt gerade das deutsche Volk nicht in eine Erlöserposition, denn das deutsche Volk« ist nicht der Geist, in dem das Christentum erfasst werden kann.
»Kaum könnte man durch etwas anderes einen klareren Beweis erlangen, dass das Christentum heute nicht in der Welt realisiert ist, als durch das eben Angeführte. Das Christentum ist nicht realisiert, denn den Christus voll verstehen, heißt: den Menschen als Menschen in sich finden. Der Christus ist kein Volksgott, ist kein Rassengott, der Christus ist überhaupt nicht der Gott irgendeiner Menschengruppe, sondern der Christus ist der Gott des einzelnen Menschen, insofern dieser einzelne Mensch nur ein Angehöriger der gesamten Menschheit ist. Und erst, wenn man die Christus-Wesenheit aus allen Voraussetzungen heraus, denen der Mensch zugänglich ist, wird so verstehen können, dass man sie als den Menschheitsgott versteht, erst dann wird der Christus, aber dann auch gewiss die größte soziale Bedeutung über das ganze Erdenrund haben.« (GA 210, Dornach, 7. Januar 1922)
Steiners Ausführungen im Kontext:
»So könnte man vielfach noch im einzelnen verfolgen, wie das deutsche Volksseelenwesen nun wiederum dadurch, dass fremdes Volksseelenwesen hereinwirkt, in Entwicklung begriffen ist.
Aber gerade so, wie wir beim einzelnen Menschen das Ineinanderwirken der Zustände auch in der Zeitenfolge aufsuchen müssen, wie ich das im ersten Teil meines Vortrags angedeutet habe, so muss, wenn im vollen Sinne verstanden werden will die Entwicklung der deutschen Volksseele, das Wirken dieser deutschen Volksseele verstanden werden.
Und das kann ich Ihnen in der Kürze in der folgenden Weise charakterisieren. Wir finden die deutsche Volksseele, wie gesagt, schon in sehr alten Zeiten. Sie wissen, ich liebe nicht vage, mystische, insbesondere nicht materialistisch-mystische Begriffe, aber in diesem Fall werden Sie mir das Wort verzeihen: Diese deutsche Volksseele wirkt wie ein mächtiger Alchimist, bewirkend dasjenige, was unter Deutschen sich abspielt in der Mitte Europas von alten Zeiten, in vorchristliche Jahrhunderte weit zurückgehend.
Sie wirkt da schon so, dass das frühere Wirken mit dem späteren einen fortgehenden Zusammenhang hat, als noch nicht die Rede davon sein konnte, dass die Konfiguration des französischen, spanischen, italienischen Wesens, ebenso des britischen Wesens, in seiner jetzigen Form vorhanden gewesen wäre. Sie wirkte durch die Jahrhunderte fort und wirkt heute.
Wie wir oftmals in diesen Vorträgen gesagt haben: Sie trägt die Keime zu noch langem Wirken in sich. Gerade wenn man sie erkennt, kann man ihr dieses ansehen. Und sie kann so durch so lange Zeiten, in so vielen Wandlungen eben deshalb wirken, weil sie so ausgebreitete Kräfte in sich enthält, wie es die in der Menschenseele vom Anfang der zwanziger bis in die vierziger Jahre vorhandenen Kräfte sind. Sie wirkt aber, wie wir gesehen haben, schon in alten Zeiten.
Aber wie wirkt sie da? Nun, wir sehen, wie dieser mächtige Alchimist, die deutsche Volksseele, auftritt, jene Zustände bewirkt, die da Tacitus schildert, wie später dann die Zeiten kommen, wo dasjenige, was aus dieser Volksseele herauskraftet, den Ansturm unternimmt gegen das südliche, westliche Wesen, das römische Wesen.
Nun sehen wir etwas höchst Eigentümliches.
Gewisse Teile, die ursprünglich zusammenhingen mit dem deutschen Volksseelenwesen, schieben sich hinein in die Balkanhalbinsel, schieben sich hinein nach Spanien, nach dem heutigen Frankreich, schieben sich als Angelsachsen hinüber nach den heutigen britischen Inseln. Es wird dasjenige, was verbunden war mit der deutschen Volksseele durch das Blut, abgegeben an den Umkreis, an die Peripherie.
Und die umliegenden Peripherie-Kulturen entstehen dadurch, dass andere Volksseelen wiederum wie die übersinnlichen Alchimisten wirken, dass zum Beispiel romanisches Wesen bis in die Sprache hinein in alchimistischer Weise zusammengemischt wird mit demjenigen, was alt-gallisches Wesen ist, in das aber hineingeströmt ist, was von deutschem Volksseelencharakter verbunden war mit germanischem Blut, das in den Franken hineingezogen ist in das Frankenreich.
Das ist dasjenige, was in Frankreich von der deutschen Volksseele selber vorhanden ist, was darinnen lebt, was durch den Alchimisten der französischen Volksseele mit dem anderen Element vermischt ist. Ebenso ist es mit dem italienischen Element, ebenso ist es mit dem britischen Element gegangen.
Das angelsächsische Element, in einem Zustande, der noch eine verhältnismäßig frühe Entwickelung, ein früheres Entwickelungsstadium der deutschen Volksseele bezeugt, schob sich hinein in keltisches Wesen. Ihm kam romanisches Wesen entgegen. Daraus wurde gleichsam dasjenige, was der Alchimist der britischen Volksseele zu tun hatte, um das zustande zu bringen, was ich ja charakterisiert habe als die Wechselbeziehungen dieser einzelnen westlichen Volksseelen zu den einzelnen menschlichen Individuen, die ihren Seelenstimmungs-Charakter von den einzelnen Volksseelen haben.
So dass, wenn wir in den Umkreis hineinsehen, wir überall wirklich uraltes germanisches Seelenelement darinnen haben. Das ist da.
Und das, was entstanden ist in der Weise, wie ich es geschildert habe, ist eben dadurch entstanden – so wie man Stoffe in der Chemie durch gewisses Zusammenwirken von anderen Stoffen bekommt –, dass hier in dieser Weise Volksseelenelemente zusammengemischt worden sind.
Aber in der Mitte Europas ist dasjenige geblieben, was eine fortdauernde Entwickelung durchgemacht hat, was immer in der Linie und Strömung mit diesem weiten Charakter geblieben ist, den ich dargestellt habe.
Das ist der Unterschied zwischen dem Volke Mitteleuropas und denjenigen Völkerschaften, die rings herum sind. Das ist der Unterschied, der ins Auge gefasst werden muss, wenn man verstehen will, wie diese deutsche Volksseele sich dann weiter entwickelt hat.
Wie innig fühlte sie sich noch immer verbunden mit dem, was ringsherum war! Wie hat sie dasjenige wieder zurückgeholt in einer gewissen Weise, was erst ausgeströmt ist von Mitteleuropa! Wie strömt zurück – und man braucht kein Rassenfanatiker zu sein, wenn man dies darstellt – aus dem Italienertum die italienische Kunst, wie strömt zurück der Geist Dantes in dasjenige, was deutsches Volksseelenwesen ist! Wie strömt zurück französisches Wesen, wie strömt zurück britisches Wesen! Bis in unsere Tage herein hat es geströmt, in einer Weise, wie ich das oftmals hier angedeutet habe.
So sehen wir, dass dieses Eigentümliche in der Entwicklung der deutschen Seele liegt. Sie bleibt in Mitteleuropa, sie erzeugt sich eine Umgebung und tritt mit dieser Umgebung in Wechselwirkung. Dadurch, ich möchte sagen, befruchtet sie dasjenige, was wegen ihres ausgebreiteten Charakters nur in einzelnen Schattierungen sichtbar ist.
Dadurch ist es allein zustande gekommen, dass innerhalb dieser deutschen Volksseele wieder erneuert werden konnten und vervollkommnet werden konnten diejenigen Motive, die in dem Volksseelencharakter der Umgebung liegen.
...
Ja, diese deutsche Volksseele durchläuft in langer Zeit dasjenige, was sie nur in langer Zeit durchlaufen kann wegen ihrer Weite. Darin ist das Bedeutsame ihrer Entwickelung ausgedrückt. Darin liegt dasjenige, was wir auch heute noch als unendlich breite Möglichkeiten in der Entwickelung der deutschen Volksseele erkennen können, wenn wir diese deutsche Volksseele in der richtigen Weise anschauen. Dasjenige aber, was sie ergreift, ergreift sie deshalb mit einer gewissen Stärke, weil sie es umfassend ergreift, weil sie es mit der Harmonie aller Seelenkräfte ergreift.
Man könnte mir leicht den Vorwurf machen, ich brächte hier Dinge vor, die doch nur an der Oberfläche des Lebens liegen. Das ist nicht der Fall, und ich will es nicht tun.
Was ich als den Charakter der deutschen Volksseele ausgesprochen habe, tritt einem, wenn auch nicht in dieser abstrakten Art, wie ich es heute aussprechen musste, ich möchte sagen, wirklich als empfindungsgemäßes Erkennen entgegen. Überall lebt das in irgend einer Form da, wo deutsche Seele lebt, und überall verhält sich deutsche Seele so zu den anderen Seelen, wie das heute charakterisiert werden musste.
So aber verhält sich die deutsche Seele auch zu dem, was als Christentum in sie einströmt, mit der Seele ganz erfassend dieses Christentum und es von innen heraus neu gebärend. Man bleibt nicht bloß an der Oberfläche, an der gebildeten Oberfläche des deutschen Volksseelentums, wenn man so etwas charakterisiert, sondern man drückt schon dasjenige aus, was Grund-Charakter des gesamten deutschen Seelenwesens ist.
Ich könnte viele Beispiele anführen. Ich will nur eines anführen, das zeigt, wie in einer Persönlichkeit, die als katholischer Priester im deutschen Volksseelenwesen drinnen steht, empfindungsgemäß ein Bewusstsein von dem lebt, was ich heute erkenntnisgemäß angedeutet habe. 1850 schreibt Xavier Schmid in einem anspruchslosen Büchelchen, in dem er für eine gemeinsame vertiefte Auffassung eines deutsch gefühlten Christentums eintreten will:
›Wie Israel auserwählt war, den Christus leiblich hervorzubringen, so ist das deutsche Volk auserwählt, denselben geistig zu gebären. Wie bei jenem merkwürdigen Volke die politische Freiwerdung von der inneren bedingt war, so wird auch die Größe des deutschen Volkes wesentlich davon abhängen, ob es seine geistige Sendung erfüllt.‹
Wie ist da das Erfassen des Christentums im Geiste von diesem einfach gebildeten Priester Xavier Schmid gekennzeichnet! Es lebt das, was ich charakterisiert habe, schon durchaus bis in das tiefste Volksgemüt hinein, wenn man auch selbstverständlich andere Worte prägen müsste, als ich sie heute hier zu prägen hatte, um nun zu zeigen, wie im einfachsten Volksgemüt dasjenige lebt, was heute charakterisiert worden ist ...
In der Richtung, die ich angegeben habe, liegt eine Wissenschaft, die einmal, wenn sie da sein wird, das verständlich machen wird, was zwischen den Völkern besteht. Dann wird erst die große Möglichkeit gegeben sein, dass sich bewusst die Völker voll verstehen werden. Wir sehen da zugleich, wie groß der Abstand ist zwischen dem, was einem als ein Ideal desVölkerverstehens vorschweben kann, und dem, was einem gerade in unserer schweren Zeit entgegentritt.« (GA 65, Berlin 13. April 1916)