Anthroposophie in der Öffentlichkeit: Zander-Werk gibt eine harte Nuss zu knacken

Cornelie Unger-Leistner und Wolfgang G. Voegele

Das Jahr 2007 wird vermutlich als das Jahr in die Geschichte der Anthroposophie eingehen, in dem die Geisteswissenschaft Rudolf Steiners in Deutschland den Durchbruch in die Öffentlichkeit geschafft hat – allerdings nicht so, wie die kleine und unermüdliche Schar der anthroposophischen Öffentlichkeitsarbeiter es sich gewünscht hätte.

Denn es geschah durch die Neuerscheinung des Buchs »Anthroposophie in Deutschland – Theosophische Weltanschauung und Praxis 1884- 1945« des Historikers, Theologen und Kulturwissenschaftlers Helmut Zander, durch das die Anthroposophie im Sommer diesen Jahres in Deutschland in den meisten überregionalen Medien und den Kultursendungen der großen Rundfunkanstalten präsent war. Und dieses Buch – ein 1800 Seiten starkes, dem Selbstverständnis der akademischen Geschichtswissenschaft verpflichtetes Werk - wurde in der anthroposophischen Bewegung mit sehr kontroversen Einschätzungen aufgenommen.

Robin Schmidt von der Forschungsstelle Kulturimpuls am Goetheanum sieht in seiner Rezension in H-Soz-u-Kult beispielsweise in Zanders Schrift eine »der bislang fundamentalsten und umfassendsten Kritiken zur Anthroposophie aus historischer Perspektive«, in der allerdings auch die Gegner reichlich Material fänden.

Peter Selg weist in seinem Aufsatz zur Medizin in der Zeitschrift »Der Europäer« zahlreiche Fehler Zanders in seinem Fachgebiet nach. Er warnt davor, aus dem Blick zu verlieren, »welch eigentümlich aggressive und destruktive, hämische und höhnische Linie Zanders Ausarbeitung über weite Strecken eigen« sei.

Sergej Prokofieff, Mitglied des Vorstandes der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft, sieht im Erscheinen des Werks nur Negatives, Zanders Intellektualismus hat seiner Auffassung nach den »Charakter einer alles zersetzenden, erbarmungs- und lieblosen Logik, mit der er versucht, Rudolf Steiner und sein Werk ein für allemal inhaltlich und moralisch zu vernichten und zugleich in akademischen Kreisen lächerlich zu machen«, schreibt Prokofieff in der Wochenschrift »Das Goetheanum«. Er betont, dass er seine Ansicht als Privatperson veröffentlicht und nicht in seiner Funktion in der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft.

Ramon Brüll schließlich, Herausgeber der auflagenstärksten anthroposophischen Zeitschrift »INFO 3« vertrat die Auffassung, nicht jeder, der Anthroposophie und anthroposophische Arbeit kritisch oder von außen bespreche, sei gleich ein »Gegner« und forderte, die Szene solle diese »Prüfung« aushalten. Es gebiete schon der Anstand, sich mit Zander – der immerhin 15 Jahre seines Lebens dieser Forschung gewidmet habe – über dessen Ergebnisse außutauschen, statt so Brüll in der Internet-Version von INFO3, »ihm nur Unzulänglichkeiten nachzusagen«.

Welche Vor- und welche Nachteile hat nun Zanders Buch? Wem nutzt es und wem schadet es?

Ein Gutes hat Zanders Buch auf jeden Fall: Es bringt zunächst eine Fülle von Material zur Geschichte der Theosophischen Gesellschaft und es fordert vor allem die Anthroposophen zur Beschäftigung mit ihrer Geschichte heraus.

Hätten Anthroposophen früher und intensiver ihre »Hausaufgaben« gemacht, wäre Zanders Buch sicher weniger kritisch ausgefallen. Es wäre auch längst ihre Aufgabe gewesen, zeitbedingte Aussagen Steiners in der Gesamtausgabe kritisch zu kommentieren, etwa seine Verwendung des Begriffs »Rasse«.

Andererseits sind die Schwachstellen von Zanders Riesenwerk für Kenner der Anthroposophie sofort ersichtlich: Ganz abgesehen von seiner historisch-kritischen Forschungsmethode, die nur die Außenseite der Anthroposophie beschreiben kann, ist für Zander Rudolf Steiners Weltbild nur eine Variante der Adyar-Theosophie. Dass Steiner in einer langen Tradition westlicher Esoterik mit jüdisch-christlichen Wurzeln steht, blendet Zander völlig aus. Auch Steiners Anknüpfung an Goethes Forschungsmethodik interessiert ihn nicht.

Und dass Zander der erste ist, der eine zeitgeschichtlich kontextuelle Einordnung des Werks von Rudolf Steiner vorlegt, stimmt so auch nicht. Dies ist auch schon vor dem Erscheinen von Zanders Buch von einigen anthroposophischen Autoren bereits anfänglich geleistet worden, etwa in der Reihe »Rudolf Steiner Studien« oder in zahlreichen wichtigen Dissertationen, die Zander ignoriert wie z.B. Michæl Muschalle (1988/ 2001).

Generell tendiert Zander dazu, anthroposophische Autoren zu marginalisieren, da er sie ja aufgrund seiner methodischen Vorgaben als »Binnenliteratur« oder apologetische Selbstbestätigungsliteratur einordnet. Obwohl er sie gelegentlich zitieren muss, nimmt er sie im Grunde nicht ernst. Dagegen lässt er Verfasser von Anti-Steiner-Pamphleten der letzten 80 Jahre (z.B. den Antisemiten Max Kully) immer wieder zu Wort kommen. So ist seine Darstellung einseitig und alles andere als objektiv.

Auffallende Parallelen zu Kritikern aus Steiners Zeit

Besonders originell ist Zanders Anthroposophiekritik auch nicht. Es sind auffallende Parallelen zwischen ihm und den Steinerkritikern der ersten Kritiker-Generation um 1920 nachweisbar, bis hin zu wörtlichen Übereinstimmungen. Es gibt kaum einen wesentlichen Befund Zanders, der nicht schon vor vielen Jahrzehnten von den genannten Kritikern publiziert worden wäre.

Die von einem Teil der Presse behauptete und vom Verlag verständlicherweise propagierte »Pionierleistung« Zanders wäre zumindest in diesem Punkt ebenfalls stark zu relativieren. Er gießt vielfach alten Wein in neue Schläuche, gibt Altbekanntes und längst Widerlegtes als neueste Erkenntnisse aus.

Mit dem Erscheinen von Zanders Werk wiederholt sich überdies ein bekanntes Phänomen der Steiner-Kritik: Ein Akademiker verfasst ein kritisches Buch über Anthroposophie, worauf sensationslüsterne Journalisten und anonyme Pamphletisten sich auf dieses Buch berufen, um Rudolf Steiner oder die noch immer boomenden Waldorfschulen pauschal zu verteufeln.

Auf ahnungslose Leser – auch auf andere Wissenschaftler, die sich mit Rudolf Steiner nie ernsthaft befasst haben – mag das Werk wie eine Jahrhundertentdeckung wirken. Endlich hat ein Wissenschaftler »Licht ins Dunkel« gebracht und exakt nachgewiesen, was an dieser obskuren Lehre wirklich dran ist - nämlich unter dem Strich gar nichts. Weil das unbefangene Leserpublikum aus Zanders Buch denselben ernüchternden Schluss ziehen wird wie seine historischen Vorläufer, Steiners Zeitgenossen Seiling, Hauer, Kully oder Frohnmeyer: die ganze Anthroposophie, der tausende Menschen gutgläubig folgen, beruhe auf dem Wahnsystem eines skrupellosen Guru.

Denn ein solches Zerrbild wird von Rudolf Steiner gezeichnet. Es kommt einer Demontage gleich. Zander macht aus ihm einen gescheiterten, aber gleichwohl karrierebesessenen, machtlüsternen Gelehrten.

Dabei zeigen sich nicht nur argumentative, sondern auch taktische Parallelen, etwa in den Beschwichtigungsformeln. So beteuert 1918 einer der infamsten Steinergegner, Max Seiling, er wolle Steiner »nicht richten und verurteilen, sondern eben nur feststellen, dass er das nötige Vertrauen zu seinen Offenbarungen nicht beanspruchen kann.«

Zander beschwichtigt im gleichen Ton: »Ich wünsche mir, dass Anthroposophen […] diese Arbeit nicht als Schwert eines Scharfrichters, sondern als wissenschaftliche Analyse lesen.« (S. 1719). Gleichwohl sitzen beide über Steiner zu Gericht und beider Urteil über den moralischen Charakter Steiners fällt geradezu vernichtend aus.

Marie Steiner beschrieb bereits 1931 die Taktik »wissenschaftlicher« Steiner-Kritiker : »Aber solche Bücher erheben Anspruch auf Ernst und werden von Professoren empfohlen […] Ihre scheinbare und doch oberflächliche Wissenschaftlichkeit gibt ihnen den Mut zur nacktesten Tendenzführung. Der Stil kann dabei ruhig und gelassen bleiben, denn für das Schimpfen und die persönliche Verunglimpfung sind andere subalterne Schriftsteller da. Es muss für die verschiedenen Schichten und Kulturkreise gesorgt werden. Das Mäntelchen einer scheinbaren Objektivität und vornehmen Zurückhaltung wird dort wirken, wo das ganz grobe Zetern und Schmutzauftragen versagt. So macht man in unserer Gegenwart die Ketzer unschädlich. […] Dies ist das bittere Los der Gottesdiener, der Menschheitsfreunde und Lehrer der Esoterik. Die Welt ruht nicht, bis sie aus ihnen Märtyrer gemacht hat. Dann baut sie sich neu auf aus ihren Taten.« [Marie Steiner, Schriften I, Dornach 1967, S.111]

Dieses Urteil hat auch heute nichts von seiner Gültigkeit verloren: Die Rolle der »subalternen Schriftsteller« spielen derzeit Autoren wie Peter Bierl, die Brüder Grandt oder Colin Goldner, aber auch anonyme Blogbetreiber im Internet (etwa in »Nachrichten aus der Welt der Anthroposophie«). Sie verleumden Steiner und Waldorfschulen mit allen Mitteln und berufen sich dabei jetzt auch auf die wissenschaftliche Autorität Helmut Zanders.

Ein Novum allerdings, dass Zander gleichsam in Personalunion zwei Mächte vereinigt, die bisher getrennt gegen Steiner vorgingen: katholische Theologie und akademische Wissenschaft.

Das Ergebnis ist ein Zerrbild der Anthroposophie

Zanders Buch bestätigt einmal mehr: mit historisch-kritischen Methoden allein lassen sich spirituelle Weltanschauungen wie Theosophie und Anthroposophie nicht verstehen, weil gerade das, was das Neue daran ausmacht, mit System ausgeklammert wird. Rudolf Steiners Grundlagenwerk »Die Philosophie der Freiheit« kommt in Zanders Kompendium überhaupt nicht vor. Und so ist, was am Ende seiner Untersuchung steht, nichts anderes als ein Zerrbild all dessen, was Anthroposophie für viele Menschen der Gegenwart so attraktiv macht.

Ihre Weltoffenheit, ihre Menschlichkeit, ihre Betonung der geistigen Freiheit des Einzelnen, ihre positive Haltung zum Wissenschaftsbegriff, ihre Neutralität gegenüber allen Religionen, ihre gelebte Toleranz gegenüber den verschiedenen Ethnien, und ihre Innovationsfreudigkeit auf den Gebieten der Kunst und Wissenschaft, ihr Engagement in sozialen und gesellschaftlichen Fragen – all das ist kein Thema für den »objektiven« Wissenschaftler Zander.

Und so besteht der Schaden, den Zander mit seinem Buch anrichtet, genau darin, der Diskussion über die Notwendigkeit des neuen Denkens in der Öffentlichkeit Steine in den Weg zu legen – ob Zander sich dessen nun bewusst ist oder nicht.

Denn der interessierte Laie wird nicht allein vom Umfang seines neuesten Riesenwerkes überwältigt sein. Er wird ehrfürchtig vor der »ausgewiesenen« wissenschaftlichen Qualifikation Zanders stehen und allzu rasch geneigt sein, ihm von vornherein zu glauben, vor allem, wenn er wahrnimmt, dass fast jede These, jedes Urteil bis ins kleinste mit Quellenangaben belegt ist.

Hochschullehrer und Studenten werden der Auffassung sein, nun auf Generationen hinaus »das« Standardwerk über Anthroposophie in Händen zu haben und glauben, sich bequem auf Zander berufen können, ohne selbst erst mühsam Quellenstudien treiben zu müssen.

Auch in den Medien wird eher kurz und knapp als Faktum resümiert werden: Zander habe die Anthroposophie auf nahezu 2000 Seiten endgültig wissenschaftlich widerlegt. Es könnte auch sein, dass das Buch den zögerlich in Gang gekommenen Dialog zwischen Kirche und Anthroposophie belastet.

Dennoch könnte Zanders Untersuchung dazu beitragen, dass die akademischen Wissenschaften möglicherweise durch die Beschäftigung mit Zander ihre Schwellenangst gegenüber esoterischen Themen generell abbauen.

Und es besteht die Hoffnung, dass zahlreiche Anthroposophen sich entschließen, selbstkritischer zu werden, angeblich Unhinterfragbares in der Anthroposophie mutiger zu hinterfragen, aber auch ihre bisherige Abschottung vor der Außenwelt aufzugeben und auch andere Erkenntnismethoden außer ihren eigenen ernst nehmen.

Bereits kurz nach dem Erscheinen von Zanders Buch fanden verschiedene anthroposophische Diskussionsforen statt, auf denen das Verhältnis von Esoterik und Wissenschaft Thema war. Damit gerät auch die akademische Esoterikforschung durch das Erscheinen des Zander-Buchs ins Blickfeld der anthroposophischen Bewegung und möglicherweise auch darüber hinaus.

Im Gegensatz zu Deutschland – wo das Thema Esoterik auch durch seine Vereinnahmung in der NS-Zeit belastet ist - sind in den letzten zehn Jahren in anderen europäischen Ländern Lehrstühle zur Erforschung der westlichen esoterischen Tradition entstanden, beispielsweise in Paris, Exeter und Amsterdam.

So vertritt etwa der niederländische Esoterikforscher Wouter Hanegraaff die These, dass die Spaltung von Wissenschaft und Esoterik erst durch eine bestimmte Form von polemischem Diskurs erzeugt wurde. Im 16./17. Jahrhundert sei Esoterik überhaupt nicht getrennt gewesen von naturwissenschaftlichen Fragestellungen zum Beispiel bei Bruno, Kepler, Bacon, Comenius und Newton. In Hanegraaffs »Dictionary of Gnosis and Western Esotericism« (2006) werden auch Rudolf Steiner und die Anthroposophie in sachlichen Artikeln abgehandelt.

Heute herrscht zwischen Esoterik und akademischer Wissenschaft – und hier ist Helmut Zander mit seinem Buch nur ein Beispiel – in Deutschland durchweg noch ein polemischer und von gegenseitigem Unverständnis geprägter Diskurs, in welchem eine Seite die jeweils andere zu diskreditieren sucht. Dies wird sich erst dann ändern, wenn jede Seite in Wahrhaftigkeit nach echter Erkenntnis strebt und die Integrität der anderen in diesem Bemühen anerkennt, so unterschiedlich die methodischen Ansätze auch sein mögen.

Für die Entwicklung einer zeitgemäßen Außendarstellung des komplexen Themas Anthroposophie ist es nach dem Erscheinen des Zander-Buches nun fünf nach zwölf. Hier muss gehandelt werden, müssen Konzepte her wie sonst in der Welt überall üblich, um das Bild Rudolf Steiners und der Geisteswissenschaft, das Zander in den Medien hinterlassen hat, wieder zurechtzurücken.