Leben und Werk eng verwoben

Rudolf Steiner als Persönlichkeit, sein Werk und die Anthroposophie stehen wieder vermehrt im Kreuzfeuer der öffentlichen Kritik. Dabei, so Andreas Laudert in der Wochenschrift »Das Goetheanum«, würde außer Acht gelassen, dass es sich hier um ein Lebenswerk im wahrsten Sinne des Wortes handelt, sprich Leben und Werk eng verwoben sind. Lauderts Plädoyer ist: Anthroposophie als Lebenskunst zu verstehen.
Der Artikel erscheint hier mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Wochenschrift »Das Goetheanum«.

Leben und Werk eng verwoben
von Andreas Laudert

Das Problembewusstsein Rudolf Steiners hinsichtlich der öffentlichen Kommunizierbarkeit seiner Aussagen war ausgeprägt. Über die Rezeption der Werke, auch innerhalb seiner ‹Anhänger›, machte er sich keine Illusionen. Er war sich meist im Klaren darüber, aus welcher Äußerung man ihm in Zukunft wahrscheinlich einen Strick drehen, bei welcher Ansicht er Beifall von der falschen Seite erhalten oder wo man ihn geistig zu vergewaltigen, Sätze zu verdrehen versuchen würde. Nicht weniger unmissverständlich machte er deutlich, dass er für jegliche Art von Personenkult nicht zur Verfügung stand.

Was in der durch jüngere Publikationen mit neuer Nahrung versorgten Debatte über die aktuelle Situation der Anthroposophie leicht in Vergessenheit gerät, ist die Tatsache, dass wir die ganze Zeit über ein Leben und ein Werk sprechen, deren komplexes Ineinanderverwobensein ohne Vergleich ist. Im ursprünglichsten Sinne des Wortes handelt es sich um ein Lebenswerk, um ein Werk, das Leben hat, ein Leben, das Werk wurde.

Steiner machte einen Anfang

Man muss Steiner weder für genial halten noch für verrückt, um ihn einfach nur unendlich interessant zu finden. Er war stets mehr als das Milieu, dem er entwuchs, stets mehr als die heute als Kürzel ‹GA› berühmt-berüchtigten Vorträge, die er oft gar nicht mehr selber durchsah. Er war stets mehr als die Heimat, die er für andere bedeutet haben mag. Steiner versuchte, in allem Anfänger zu bleiben, einen Anfang zu machen. Auch deshalb wirkt die Anthroposophie noch so ungeboren, ihr Wesen so unverstanden. Sie muss immer wieder zur Welt, sie wird immer wieder zu Wort kommen. Nicht aus dem vorliegenden Material, nicht aus dem Fleisch kann sie wiedergeboren werden, und gäben wir unser Herzblut für ihre Verteidigung hin, sondern nur ‹von oben›, aus dem Geist: nicht als Werk, sondern als Wirkendes. Wie aber wirkt sie?

Weil man ja zunächst tatsächlich nur das Sinnliche, das ‹Fleisch› wahrnimmt, das gedruckte Buch, die Schrift, kann man der Welt den Satz «Im Neger wird fortwährend gekocht» (in der ‹Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung› vom 8. Juli 2007) zum Fraß vorwerfen. Wer beschwichtigend für ein Relativieren Steinerscher Aussagen plädiert, rennt Türen ein, die Steiner längst selbst geöffnet hat. Der herrschende Wissenschaftsdiskurs drängt der Anthroposophie Voraussetzungen auf, die nicht die Ihren sein können. Würde sie die Prämissen dieses Diskurses infrage stellen, hätte sie den Vorwurf am Hals, sie wolle sich nicht kritisch hinterfragen. Gibt sie sich offen, wird sie ausgenutzt werden.

Auf der Lebensebene mit der Anthroposophie verbinden

Es scheint also, als könne die Anthroposophie auf diesem Wege der Denunziation nicht entkommen. Denn die Beweislast, ob etwas an der inneren Ausrichtung der anthroposophischen Sache skandalös, weil ‹rassistisch› sei oder ob Steiner nicht noch immer ‹blind verehrt› werde, wird irgendwie immer auf Seiten ihrer offiziellen Repräsentanten liegen. Vielleicht war nicht ‹Christus› der eine verhängnisvolle Name, an dem anzuknüpfen Steiner zum Verdruss mancher Anthroposophen nicht verzichtet – dabei war ‹der Gesalbte›, wenn, dann ein vorläufiger Name beziehungsweise Arbeitsbegriff der geistigen Welt –, sondern ‹Geisteswissenschaft›. Steiner benutzte ihn, um offensiv zu dokumentieren, dass es nicht um ein Ignorieren der Naturwissenschaften, sondern um deren Erweiterung ging. Die demonstrative Bezeichnung ‹Wissenschaft› sollte das Neue kommunizierbar machen. Unterschätzte Steiner die intellektuell provozierende Wirkung des Umstands, dass die Behauptung, es könne geistig geforscht werden, zunächst allein durch ihn selbst gedeckt war? Vielleicht sah er die Gefahr und nahm sie in Kauf.

Der einzige Lebensbereich, der aus sich heraus einen Widerstand darstellt für Gegner der Anthroposophie (vermutlich auch für solche in den eigenen Reihen), weil er keine Angriffsfläche bietet, weil er sich nicht als Schlachtfeld eignet, ist das Leben selbst, die Individualität, ist die biografische Entscheidung, sich auf der Lebensebene mit dem Wesen der Anthroposophie zu verbinden – jenseits von Dogmen oder Gruppenbildungen. Im Grunde muss man selber ein Skandal werden. So ist auch nicht Helmut Zanders Buch interessant, sondern der Mensch Helmut Zander. Was ist seine, des Historikers, Geschichte? Es mag kein Zufall sein, dass es mit Christian Morgenstern und Joseph Beuys Künstler waren – und von so unterschiedlicher Charakter-, Werk- und Schicksalsart –, deren absolute geistige Unabhängigkeit die öffentliche Person gegen Denunziationen immunisiert zu haben scheint, obwohl beide ausdrücklich auf Steiner Bezug nahmen, übrigens gerade auf dessen Christus-Deutungen. Unter dem Strich sind diese nämlich das eigentlich historisch vollkommen Neue, das Steiner gebracht hat.

Die Würde des sich zur Biografie entfaltenden Ich, die Autonomie der eigenen Schicksalsgestaltung ist der Zivilgesellschaft heilig. Vielleicht nicht unbedingt Kirchen, aber dass jemand Priester wird, nachdem er vorher etwas ganz anderes gemacht, beispielsweise als Rockmusiker, Pilot oder Manager gearbeitet hat, finden Jugendliche ‹cool› (oder auch umgekehrt: dass jemand Priester war und Rockmusiker wird). Im Gegensatz zu Standpunkten kann man Lebensläufe nicht gegeneinander ausspielen. Sie wirken.

Welten durchdringen sich

Die Anthroposophie wurde Szene, weil aus den Ideen Steiners (notwendigerweise) Institutionen geworden sind. Aus demselben Grund wird sie phasenweise für den Zeitgeist oder für verwandte Milieus attraktiv. Für manche mit Anthroposophie lebenslaufmäßig konfrontierte Menschen war sie nur eine Phase in der eigenen Biografie, eine zwar prägende Strecke auf dem Weg der spirituellen Sinnsuche. Doch erst wo Anthroposophie das Leben als Ganzes durchdringt – wobei sie ja als Name, Milieu, spezieller Terminus vollkommen verschwände, im Leben aufginge –, wird sie souverän. Der echte Anthroposoph ist nicht mehr als Anthroposoph identifizierbar. Die ‹kritische Öffentlichkeit› kann allenfalls konstatieren, dass einer seltsam ist, wenn er auf die Frage, wer für ihn ein Vorbild sei, der Dalai Lama, Einstein oder der Papst, zur Abwechslung antwortet: ‹Steiner› – aber sie kann deshalb keine Kampagne starten. Dazu müsste sie gleichsam die Maske fallen lassen. Der Nachbar kann das beim Plausch im Treppenhaus vereinbarte Treffen zum Kennenlernen ohne Erklärung platzen lassen, nachdem er aus unserem Briefkasten Presseerzeugnisse aus Dornach herausgucken sah. Nur kann er uns keinen Strick daraus drehen.

Es könnte fruchtbar sein, die wissenschaftstheoretische Perspektive um die lebensgeschichtliche zu erweitern und den Diskurs auf das Feld des Ästhetischen zu heben – hier nicht gemeint als die Lehre von den schönen Hüllen, sondern in dem Sinne, dass Anthroposophie im Kern Lebenskunst ist und dass es immer Einzelne geben wird, denen sie irgendwie edler als anderes anmutet, auch da, wo Steiners Sprache sperrig, sein Habitus fremd wirkt. Mehr findet eigentlich nicht statt auf der Welt, als dass die einen die zwanzig Euro, die sie noch im Portemonnaie hatten, als sie die Buchhandlung betraten, im Zweifelsfall für Bücher von Andrew Cohen ausgeben, andere in die Sauna oder zum Fußball gehen und Dritte sich für den Kauf der ‹Geisteswissenschaftlichen Menschenkunde› entscheiden. Der Antrag des Deutschen Bundesfamilienministeriums, dieses Buch auf die Liste diskriminierender Schriften zu setzen, wurde zeitgleich zum Aufruhr um den siebten Band von ‹Harry Potter› gestellt. Bei Joanne K. Rowling sind die Welten getrennt, die sich bei Rudolf Steiner durchdringen.