Zanders Gegenblick

Anthroposophie ist angekommen. Nicht nur im Umfeld der Sympathisanten, sondern in der ganz normalen Öffentlichkeit. In Deutschland hat ein historisch-kritisches Werk über Rudolf Steiner ein beachtliches mediales Echo ausgelöst. Vordergründig geht es um Geschichte. Geht es auch um die Zukunft?

Mit seinem Mitte Juni 2007 erschienenen Werk geht für Helmut Zander vielleicht der heimliche Traum eines jeden Historikers in Erfüllung: mit einem Mal ein gänzlich unbearbeitetes Gebiet mit bisher unterschätzter Gegenwartsrelevanz für die Forschung zugleich zu erschließen, vollständig zu umfassen, kritisch zu beleuchten und dadurch auch noch einem marginalisierten Forschungsbereich auf die Sprünge zu verhelfen. Das ist hoch gegriffen und, um es vorweg zu sagen, ob sich der Traum verwirklicht, hängt vielleicht nicht einmal von dem Buch selbst, sondern von dessen künftiger Rezeption ab. Jedenfalls wird diese Publikation ein zentraler Bezugspunkt sein, wenn künftig über die Geschichte der organisierten Theosophie und Anthroposophie in Deutschland geforscht wird. Der Autor hat viel investiert und biographisch riskiert. Einerseits sind in sein Forschungsthema nicht nur seine Promotionen und seine Habilitation, sondern auch die forschungsbiographisch wichtigen darauffolgenden Jahre eingeflossen, so dass mehr als 15 Jahre Auseinandersetzung mit dem Thema das persönliche Kapital dieses Buches bilden. Andererseits betritt der Autor ein Gebiet, das in Deutschland noch immer unterkühlt oder überhitzt behandelt wird: die Erforschung der Geschichte der Esoterik in Europa. Ein Thema, mit dem man sich in academia nicht gerne schmückt und kaum Lorbeeren zu erwarten hat, denn noch immer besteht sofort Ideologieverdacht, noch immer werden akademische Arbeiten in diesem Gebiet oft in polemischer Absicht publiziert, um den Gegenstand zu delegitimieren, zu „entlarven“ oder als Kontrastmittel für die eigenen Intentionen zu verwenden. Das hat sich in internationaler Perspektive in den letzten zehn Jahren deutlich geändert; neben Frankreich, Holland, England, USA ist aber in Deutschland immer noch kein eigener Lehrstuhl vorhanden, der sich der seriösen historischen Erforschung von „Esoterik“ widmet, obwohl längst deutlich ist, dass deren Geschichte in immer unterschätztem Maß die europäische Kultur gerade dort geprägt hat, wo man es wenig vermutet: etwa in der Genese der Aufklärung, der Demokratie oder der ökologischen Bewegung; aber auch im Ursprung von völkischen Ideologien oder von Führerkulten.

Stoffmasse und Methodenvielfalt

In vieler Hinsicht ist Zanders Buch eine Provokation. Nicht nur der Umfang (1884 Seiten in zwei Bänden) und der Preis (246 Euro) sind gewaltig, auch das behandelte Spektrum von Themen ist es. Eine kritisch-detaillierte Rezension kann erst in Monaten erwartet werden, da die Pluralität der Ansätze, die lange Dauer der Entstehung des Buches, die hybride Verwendung von Begriffen und Methoden und vor allem die Masse des Stoffes das Buch konventionellen Kritikformen schlicht entziehen.

In 19 Kapiteln mit je durchschnittlich knapp 100 Seiten wird der ganze Kosmos anthroposophischer Tätigkeit abgeschritten: Zuerst der historische Rahmen der Theosophischen Gesellschaften in Deutschland und deren internationale Einbettung und Geschichte. Dann folgt eine Analyse der Sozialstruktur und des Vereinslebens der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft (der Vorgänger der Anthroposophischen Gesellschaft) samt deren kultur- und sozialgeschichtlichen Einbettung und übersichtlichen, kommentierten Bibliographien. In zwei weiteren Kapiteln wird Steiners Biographie vor der Jahrhundertwende, und das heißt vor seinem theosophischen Engagement, gezeichnet: als Goethe-Herausgeber, als Nietzsche-Rezipient, sowie als Autor der Philosophie der Freiheit, auch hier durchweg im Versuch, Steiner in seinem kulturellen Kontext zu sehen. Diese Analyse setzt sich fort in Kapiteln – immer etwa 100 Seiten stark – über Steiners Theosophie, seine Christologie und sein Wissenschaftsverständnis im Kontext der Zeit und des binnentheosophischen Diskurses.

Der zweite Band widmet sich zunächst der „ästhetischen“ Praxis der Anthroposophie: freimaurerische Arbeit, die Aufführung der Mysteriendramen, die anthroposophische Architektur und die Eurythmie erhalten je ein Kapitel; dann folgen schließlich in fünf weiteren Kapiteln die gesellschaftlichen Impulse, die heute das öffentliche Bild der Anthroposophie weithin prägen: Pädagogik (Waldorf-/Rudolf Steiner-Schulen), Landwirtschaft (Demeter), Medizin und Pharmazie (Weleda, Wala), die Christengemeinschaft und vorneweg das politisch-gesellschaftliche Engagement Rudolf Steiners im Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg („Dreigliederung des sozialen Organismus“). Jedes Kapitel ist reich an Anregungen und bietet vielleicht gerade durch den gelegentlich apodiktischen Ton Anlass für Dutzende von Forschungsvorhaben, die die überaus ideenreich, teils historisch profund, teils assoziativ angerissenen Kontexte ausarbeiten oder in Abgrenzung konträre Blicke entwerfen könnten. Abgeschlossen wird das Buch mit dem 19. Kapitel über „Pluralisierung und Minderheitenkultur“, in dem die zentralen Thesen kompakt zusammengefasst, in den historischen Zusammenhang der Pluralisierung von Gesellschaften und der Rolle von Minderheitenkulturen für diese Pluralisierung gestellt werden.

Lücken zeigt das opus magnum ganz naturgemäß durch seine Fokussierung auf die Entstehungsgeschichte bis 1925 (Steiners Tod). Teilweise wird die Darstellung auch bis in die Mitte des Jahrhunderts fortgeführt, mit gelegentlichen Ausblicken in Kontroversen der Gegenwart. Angesichts der kaum vorhandenen historischen Literatur für die Zeit nach 1945 ist dies nahezu unvermeidlich, obwohl es gerade die Entwicklungen in der zweiten Jahrhunderthälfte waren, die zu der relativ breiten Integration und Akzeptanz anthroposophischer Ansätze in der Gegenwartskultur führten. Andererseits fehlen auch ganze Bereiche, wie etwa die anthroposophische Heilpädagogik, die nur einmal kurz erwähnt wird.

Bisherige Hagiographien gegen den Strich gebürstet

Zander bewältigt die Masse des Stoffs – stark verkürzt gesprochen – durch zwei Mittel: eine wissenschaftsmethodische Vielfalt, um das komplexe Phänomen von verschiedenen Seiten einzukreisen (von soziographischen Untersuchungen über kulturgeschichtliche Kontextualisierungen bis hin zu editionsgeschichtlichen Exegesen von Steiners Werken) und durch kontrafaktische Abstraktionen gegenüber der gesellschaftlichen Erfolgsgeschichte der Anthroposophie. Die methodische Vielfalt arbeitet wohltuend dem ersten Eindruck eines monolithischen, enzyklopädischen Kompendiums entgegen und stellt das Werk dadurch als Fragment in die postmoderne Gegenwart. Kontinuität liegt dagegen im methodischen Griff, die wohlwollende, oft hagiographische bisherige Behandlung des Themas gegen den Strich zu bürsten und das dabei zutage Tretende zum Gegenstand zu machen.

Ein Beispiel ist die durchgehend angelegte These, dass Anthroposophie eigentlich Theosophie unter anderem Namen sei. Organisationsgeschichtlich ist es offenkundig, dass die Anthroposophische Gesellschaft aus der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft hervorgegangen ist; im Selbstverständnis von Anthroposophen ist die Theosophische Gesellschaft jedoch gerade das zu Überwindende – sie ist das, woran sich die spezifisch anthroposophische Identität durch Abgrenzung gebildet hat und gelegentlich immer noch bildet. Fast ganz ausgeblendet bleibt dadurch bei Zander der zentrale historische Bezugspunkt von Anthroposophen: die Neugründung ihrer Gesellschaft Ende 1923, die gleichzeitige Gründung der „Freien Hochschule für Geisteswissenschaft“ und der für die Anthroposophie damit verbundene intendierte Paradigmenwechsel hin zu Dialog, Forschung, Öffentlichkeit und kollegialer Leitung. Zanders Methode bringt dadurch zwar eine wenig wahrgenommene Seite ans Licht: wie groß das Erbe der Anthroposophie an der Theosophie tatsächlich ist. Ob die Schlussfolgerung historisch legitim ist, dass die Anthroposophie fortgesetzte Theosophie unter anderem Namen ist, ist jedoch sehr streitbar.

Zanders kontrafaktischer Blick kehrt auch gelegentlich im Nebensatz bisher gesichert gemeintes Wissen um, und man wird daher gut daran tun, den Inhalt des Buches nicht unbesehen als wissenschaftliche Erkenntnis aufzufassen. Das ist auch nicht die Intention des Autors, er will Akademiker und Anthroposophen dadurch zum Diskurs wecken, nicht „Scharfrichter“ gegenüber der Anthroposophie sein. Stilistisch hat er sich jedoch manchmal festgefahren und manche Thesen und Formulierungen schmecken eher nach Inquisition, bei der man sich lieber erst gar nicht auf die gemachten gedanklichen Voraussetzungen einließe. (Was gelegentlich auch zu Stilblüten führt, die nicht jedermanns Geschmack sind: Steiners Übernahme der Funktion des Generalsekretärs der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft wird – Assoziationen weckend – zu einer Machtübernahme stilisiert, Steiners Tätigkeit wird als „Machtkampf“ um das „Machtzentrum“ der Theosophischen Gesellschaft inszeniert. Angesichts der in diesem Teil der Darstellung ausgeblendeten damaligen sozialen Wirklichkeit ein wenig grotesk: eine im ganzen deutschsprachigen Raum versprengte Mitgliedschaft von 118 Mitgliedern einer kleinen Gesellschaft mit fragwürdigem Ruf und einer „Zentrale“ in einer Berliner Hinterhauswohnung.)

Für Anthroposophen ist durch Zanders Gegen-Blick, der sich möglichst nicht auf die anthroposophischen Selbstinterpretationen stützt, (und daher auch eher Kritikern oder Gegnern das Zitat gibt) mit diesem Buch in vielen Einzelheiten ein Schatten ihrer Intentionen und Selbstbilder gezeichnet. Inwieweit man die Sicht von Anthroposophen für die Historie vernachlässigen kann oder auch in einer solchen Arbeit berücksichtigen muss, ist Teil einer – laufenden – methodischen Debatte. Jedenfalls ist in der künftigen Rezeption die Zunft der Historiker meines Erachtens besonders gefragt, um nicht in klassische ethische Fallen historischer Untersuchungen von Minderheiten, insbesondere in Deutschland, zu treten. Um sich das zu veranschaulichen, lese man hier oder in anderen Auseinandersetzungen einmal probehalber den Namen einer beliebigen anderen Minderheit anstelle von „Anthroposophen“ – und man hat die wissenschaftlichen und ethischen Probleme vor sich, mit denen eine solche Untersuchung zu kämpfen hat, wenn sie kritisch sein will, ohne zu verletzen; wenn sie eine Gruppe untersuchen will, ohne sich mit ihr zu identifizieren; wenn sie ihren gesellschaftlichen Einfluss aufzeigen will, ohne zu marginalisieren oder ihn als übermächtig zu zeichnen – und vor allem, wenn akademische Deutungskraft hier derzeit immer noch nur durch klare innere und äußere Distanzierung zu haben ist.

Einsamer Monolith oder Anlass zum Diskurs?

Ein Leser, der das Gesamtphänomen noch nicht überschaut, wird viel intellektuelle Überblickskraft und Ausdauer brauchen, um aus den über viele hundert Seiten entwickelten Teilaspekten selbst urteilsfähig zu werden. Und selbst dann muss immer in Betracht gezogen werden, dass sich die Darstellung an bisherigen, die positiven Seiten hervorhebenden Darstellungen (wie etwa Lindenbergs zweibändige Steiner-Biographie) abarbeitet. Für die Erzeugung eines Bildes – und das ist die Dialektik von Zanders Vorgehen – bleiben diese somit unverzichtbar, auch wenn sie vielleicht heutigen akademischen Ansprüchen nicht ganz genügen sollten. Darüber hinaus setzen andere Passagen, wie etwa die über Waldorfpädagogik, auch noch die Kenntnis des öffentlichen Diskurses der letzten zehn Jahre über den Gegenstand voraus, so dass viel erwartet wird, um in diesem Geflecht von geschichtlicher Darstellung, gegenläufiger Theoriebildung und Zanders Diskurspositionierung das Phänomen zu fassen.

So ist das Werk wohl am besten als das zu begreifen, als was es gemeint ist: als Beitrag zur Forschung. Neben dem beträchtlichen Gewinn, den selbst Detailkenner aus dem Buch ziehen können, bleibt natürlich nicht unbemerkt, dass Zander sich nicht auf Sichtweisen von Anthroposophen und auch nicht auf die mündlich tradierten Wissensbestände eingelassen hat, was zu mancher Korrektur und vor allem hoffentlich zu viel Kritik an dem Werk führen wird.

Denn darin sehe ich die große Chance des Buches: dass es eine Auseinandersetzung auf intellektuellem Niveau provoziert. Die Voraussetzungen dafür erfüllt das Buch voll und ganz. Gelingt dies aber nicht, nimmt man dessen Aussagen naiv für Wahrheitsproklamationen einer Sachautorität, so eignet sich manches darin als Selbstbedienungsarsenal für gegenwartsbezogene Polemik (wenn nicht sogar für selbsternannte mediale Inquisitoren oder Scharfrichter). Und bei Anthroposophen würde das Buch reziprok zu Abwehrreaktionen führen, die darin enden, sich einer kritischen Auseinandersetzung mit ihrer äußeren Geschichte zu verschließen, da akademisches Arbeiten wieder einmal nur ein Mittel gewesen sein sollte, um vom kulturellen Mainstream delegitimiert zu werden. Dann würde Zanders Werk zum einsamen Monolithen, den man lieber umgeht, als zu übersteigen. Und damit bliebe mal wieder alles beim Alten, die bisherige Geschichte würde einfach weitergeführt: denn soziologisch gesehen, so eines von Zanders Ergebnissen, konstituierte sich die Identität der theosophischen/anthroposophischen Gesellschaften auch durch die Devianz gegenüber etablierten Deutungshegemonien.

Äußerlich tritt das Buch als eine solche Deutungsmacht auf, fast 2000 Seiten in zwei Bänden, das ganze Spektrum erschließend, von einem Historiker an der Berliner Humboldt-Uni geschrieben, der sich seit über 15 Jahren mit dem Thema beschäftigt, in einem anerkannten Wissenschaftsverlag erschienen. Man fühlt sich vielleicht gereizt, sich dazu sogar allzu gerne abweichend zu verhalten. Ich glaube jedoch, dass sich Macht durch Gespräch bricht. Gespräch auf akademischem Feld heißt Diskurs. So meine ich, dass das Buch seinen größten Gewinn vielleicht erst noch erzeugen muss – nicht nur durch ein bisschen Diskussion im Feuilleton, sondern indem es den Diskurs darüber weckt. Dann darf sich der Autor wirklich glücklich schätzen, denn dann ist der Historiker-Traum einmal wirklich geworden.

Von Robin Schmidt

Helmut Zander: Anthroposophie in Deutschland. Theosophische Weltanschauung und gesellschaftliche Praxis 1884-1945, Göttingen, Vandenhoeck&Ruprecht, 2007, 1884 Seiten, 246 Euro.

Der Autor ist Leiter der Forschungsstelle Kulturimpuls, Dornach/Schweiz. www.kulturimpuls.org