Helmut Zanders Grundlagenwerk zur Anthroposophie in Deutschland im Kontext der Historikerzunft und Zeitgeschichte

Seit Helmut Zanders Monumentalstudie über die Anthroposophie in Deutschland im Frühjahr 2007 erschien, ist eine Debatte in Fahrt gekommen, in der Zander zwar in den Medien befragt und zitiert wird, die Anthroposophen aber selbst nicht auf gleicher Augenhöhe in die Deutung miteinbezogen sind. Das hat seinen Grund.

Die allgemein anerkannte akademische Geschichtswissenschaft beugt sich über die in der Praxis zwar geschätzte, in der Theorie jedoch meist belächelte anthroposophische Geisteswissenschaft.

Wäre die Anthroposophie nur eine Sekte im pluralen Spektrum der Subkultur, dann würden sie die Religionshistoriker als ein ungefährliches Forschungsobjekt unter vielen behandeln. Da sie aber selbst einen Wissenschaftsanspruch anmeldet, der gar noch auf »höhere« denn die akademische Erkenntnis abzielt, wird sie der akademischen Wissenschaft zum Konkurrenten auf ihrem eigenen Feld. So kommt es zu einem asymmetrischen Kampf zweier Wissenschaftskulturen. In Zanders Worten: »Man betrachtet die Anthroposophie im Kern als eine Art Philosophia perennis, der gegenüber die historisch-kritische Kontextualisierung zu einem sekundären oder gar ‚falschen’ Verständnis führe. Wissenschaftliche Analytik und theosophischer Wahrheitsanspruch treffen bis heute als unvereinbar scheinende Kategorien aufeinander.«(S. 4)

Die vornehmste Aufgabe des Historikers ist es, die Menschen und Institutionen aus ihrem und ihrer Epoche Selbstverständnis heraus zu verstehen. Das Verdienst Helmut Zanders ist es, Rudolf Steiner und die Anthroposophische Gesellschaft vor allem in den wissenschafts- und kulturgeschichtlichen, aber auch sozial- und politikgeschichtlichen Kontext des Wilhelminischen Kaiserreichs und der Weimarer Republik auf 1880 Seiten eingebettet zu haben. Wo immer die Anthroposophen ihren Einweihungslehrer hermeneutisch in hagiographische Höhen erhoben und damit ent-historisierten, da holt Zander ihn als Zeitgenossen des »langen 19. Jahrhunderts« auf den Boden der nackten »Fakten« zurück. Er will aufzeigen, dass Steiner zur Entwicklung seiner Anthroposophie keiner anderen schriftlichen und informationellen Quellen bedurfte, als derjenigen, die den Zeitgenossen auch zur Verfügung standen. Zander leugnet nicht die Originäriät von Steiners Wirken und Werk, sondern die Originalität von Steiners hellsichtiger Forschung. Diese hält er für problematisch, weil unter Uneingeweihten indiskutabel und folglich autoritär. Aber selbst diese Leugnung leugnet er noch mit dem legitimatorischen Hinweis auf die Regeln der Historikerzunft: »Die Geschichtswissenschaft befasst sich nicht mit religiösen Erfahrungen, sondern mit Äußerungen von Menschen über diese Erfahrungen.«

Im Kontext der deutschen Zeitgeschichte

Helmut Zander rekonstruiert in seinem voluminösen Werk die Vereinsgeschichte der Theosophischen und später Anthroposophischen Gesellschaft mit stark biographischem Zuschnitt auf die Gründungs- und Leitungsfiguren. Dabei bewertet er die beiden Damen, Helena Blavatsky und Annie Besant, eher positiv, den Herren in der Führungsriege, Rudolf Steiner, hingegen eher negativ. »Blavatsky und Besant«, so begründet Zander seine normative »Einfärbung«, »waren die Parias der europäischen Geschichte«, die es zu rehabilitieren galt. Er wollte den Leserinnen und Lesern sagen: »Schaut doch mal hin, diese Frauen sind nicht esoterische Dummbeutel, die haben auch etwas geleistet.« Steiner hingegen hatten die Anthroposophen bereits in Bio- bis Hagiographien ausgedeutet, sodass eine philologisch-kritische Geschichtswissenschaft nicht zuletzt zur eigenen Innovationslegitimation erst einmal die umgekehrte Strategie der Anti-Hagiographie verfolgen müsse: »Schaut doch mal auf das«, so Zander zu den Anthroposophen, »was ihr gerade nicht seht, auf die Verbindungen, Kontextualisierungen um 1900« und nicht zuletzt den negativen Gründungsmythos der Anthroposophischen Gesellschaft in Abgrenzung zu ihrer Theosophischen Muttergesellschaft. Zander gesteht freimütig, ein Faible für ambivalente, obskure und wagemutige Frauen zu haben. Und seitdem die Frauenbewegung in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, gehört es mittlerweile auch unter Männern in der Wissenschaft zum guten Ton, für die Emanzipation des weiblichen Geschlechts einzutreten. Und wenn man(n) unter dem Deckmantel moderner Ritterlichkeit dann auch noch seine eigene Deutung auf dem historiographischen Turnierplatz der pluralen Paradigmen, Methoden und Forschungsergebnisse profilieren kann, so kann das dem wissenschaftlichen Ruhme auch nicht schaden.

Zander widmet einen Großteil des zweiten Bandes seiner Studie Anthroposophie in Deutschland den Praxisfeldern derselben: der Politik, Waldorfpädagogik, Medizin und Landwirtschaft. Hier zollt er Steiner für dessen Versuch Anerkennung, aus der esoterischen Vereinsarbeit heraus- und in der politischen Öffentlichkeit für die Dreigliederung des sozialen Organismus als neuer Verfassungsoption eingetreten zu sein. Das bürgerschaftliche Engagement könne er auch dann als demokratisch wertvoll schätzen, wenn er Steiners Kritik am imperialen Demokratie-Sendungsbewusstsein der USA und das Plädoyer für die soziale Dreigliederung als Drittem Weg für Mitteleuropa nicht teile. Er speist seine Ablehnung aus zweierlei Richtungen: Zum einen stellt er Steiners Begriff des sozialen Organismus´ in die Traditionslinie organologischer Politiktheorie, die von der Romantik bis zum Rechtsextremismus, von Fichtes Geschlossenem Handelsstaat bis zu Hitlers autarkem Führerstaat reicht. Und zum anderen unterstellt er Steiner, dass die eingeweihten Philosophenkönige das Geistesleben regieren sollten, und weil diese als Kopf den Gliedern die entscheidenden Impulse geben, so regieren die Eingeweihten konsequenterweise durch ihr Geheimwissen anstatt durch unseren öffentlich demokratischen Diskurs auch den ganzen Staat. Beides zusammengenommen ergäbe dann eine Art Diktatur der eingeweihten Philosophenkönige. Zander grenzt sich damit als deutscher Zeitgenosse und Historiker nach der Fischerkontroverse (1960er) und dem Historikerstreit (1980er Jahre) im Grunde genommen weniger gegenüber Steiners Dreigliederung, als vielmehr gegenüber der Negativfolie des Nationalsozialismus ab. Mit dieser Missinterpretation nimmt er zumindest auch in Kauf, die Idee der sozialen Dreigliederung selbst in Misskredit zu bringen.

Im Kontext der Geschichtswissenschaft

Helmut Zander ist von Profession aus promovierter Politologe sowie habilitierter Historiker und von Konfession aus Katholik. Er ist Anthroposophie-Historiker, aber kein Anthroposoph. Vor fünfzehn Jahren stieß er über den protestantischen Theologen Walter Sparn von der Universität Bayreuth auf das damals noch unentdeckte Forschungsfeld Anthroposophie, »wo sich die Gläubigen, die Scharlatane und die Unwissenden bewegten.« Die Anthroposophie steht im Geistesleben hinsichtlich ihrer spirituellen Gesellschaft mit christologischem Deutungszentrum zur Katholischen Kirche einerseits und hinsichtlich ihres esoterischen Wissenschaftsanspruchs zur akademischen Wissenschaft andererseits in einem Spannungsverhältnis. Zander geriet im Laufe seiner Anthroposophie-Forschung zwar nicht von katholischer Seite her unter Konversionsverdacht gegenüber der Anthroposophie, wohl aber von anthroposophischer Seite her unter heftigen, jedoch wenig begründeten Jesuitismusverdacht sowie von historiographischer Seite her gelegentlich unter Esoterikverdacht. Im Gespräch erklärt er, »dass im akademischen Betrieb der Ausweis des Katholischen einem eher die Türen öffnet als verschließt, weil die katholische Theologie ihr Fach eng an die Standards der Wissenschaft gebunden hat.« Wenn überhaupt, dann müssten die Anthroposophen ihn also weniger als »dogmatisch gefesselten Katholiken«, als vielmehr dogmatisch gebundenen Historiker kritisieren. Als Zander nämlich die Anthroposophie als Habilitationsthema anmelden wollte, erteilten ihm, wie er ihm Nachwort erst im Nachhinein erzählt, die ersten drei Universitäten wegen des »weichen« Kulturthemas, das »harten« Wissenschaftsfakten nicht genüge, eine Absage. Gemeinsam mit einigen Kollegen konnte er der »Esoterikforschung in Deutschland nur deshalb zur Akzeptanz verhelfen, weil sie sich hardcore an die wissenschaftlichen Standards« hielten. Man sieht daran, dass Zander den Mut hatte, ein neues und obendrein auch noch seine Karriere gefährdendes Forschungsfeld zu erschließen. Wenn er noch mehr Mut mitgebracht hätte, sich etwa Steiners und der Anthroposophen Selbstdeutung anzuschließen, hätte das an Übermut gegrenzt, der ihn wahrscheinlich aus der scientific community selbst ausgegrenzt hätte. Wer sich mit seiner Kritik nur auf Helmut Zander als Person einschießt und das skizzierte Spannungsfeld zwischen Wissenschaft, Katholischer Kirche und Anthroposophie ausblendet, der beweist im Grunde genommen nur, dass er noch nie Tuchfühlung mit den herrschenden Denkkollektiven aufgenommen, geschweige denn ihrer Macht um den möglichen Preis der eigenen Profession getrotzt oder sich angedient hat.

Das »Entrebillet in die scientific community« bestand daher, wie Zander sagt, in dem »programmatischen Versuch, Fakten und Deutung zu trennen.« Das Problem besteht im Hinblick auf die Anthroposophie allerdings darin, dass sie nicht nur im eminenten, sondern auch im immanentesten Sinne aus Deutungen besteht. Wer nur ihre gedanklichen Ausflüsse in Steiners Gesamtausgabe studiert, aber nicht nach der Quelle dieser Gedanken: Rudolf Steiners hellsichtiger Forschung in der »geistigen Welt« fragt oder fragen darf, der bleibt strukturblind im Vorhof des zentralen Deutungshofes stehen, da Deutung sich nie von außen, sondern nur von innen her in Tiefengraden erschließen lässt. Die wissenschaftstheoretische Frage, welchen Wahrheitsstatus Steiners Erkenntnisse aus der »geistigen Welt« haben, wiegelt Zander mit den Worten ab: »Die Wissenschaft bestimmt weder über Wahrheit oder Unwahrheit noch über Sinn oder Wahn einer Erkenntnis.« »In der akademischen Wissenschaft«, so stellt Zander klar, »gibt es den Sinn im Sinne von Kohärenz und akademischer Rationalität, aber nicht im emphatischen Sinne von Lebensorientierung und biographischer Qualifikation von Werten.« Daher sei »die Erforschung von Grundlagen« wie der Anthroposophie im Spektrum religiöser Strömungen »in diesem existenziellen Sinnverständnis ein sinnloses Unternehmen.« Auf den Einwurf, Anthroposophen müssten sich also eine weltanschauliche Borniertheit angewöhnen, sofern sie in der Wissenschaft reüssieren wollten, entgegen Zander mit der rhetorischen Frage barsch: »Borniertheit? Ist das nicht methodischer Atheismus?« Und dann zeigt er im Gespräch die Konsequenzen auf: »Wer diesen Preis nicht bezahlt, der hat zu 99 Prozent keine Chance ins akademische Milieu unter Gleichberechtigte zu kommen, Gehör zu finden und sich an den Deutungsauseinandersetzungen über Steiners Werk zu beteiligen.«

Wer diesen Preis aber bezahlt, der hat zu 99 Prozent keine Chance, Rudolf Steiners Werk, die Anthroposophie, aus ihren eigenen Deutungsbedingungen heraus zu verstehen. Umgekehrt ausgedrückt: wer sich für das »höhere Ich« im Menschen und die »höheren Erkenntnisse« aus der »geistigen Welt« methodenbewusst borniert, der kann an ihrer statt im Allgemeinen nur »niedere Triebe« im Menschen und in der Geschichte am Werke sehen und im Besonderen Steiner politisch als »kühlen Machiavellisten« mit pseudowissenschaftlich »esoterischem Überbau« verstehen. Helmut Zander hat die Anthroposophie fünfzehn Jahre erforscht und bleibt dabei konsequent im Vorhof des anthroposophischen Deutungshofes stehen. In seinem Werk überschreitet Zander auf 1880 Seiten kein einziges Mal die seit Immanuel Kant der Wissenschaft gezogene Erkenntnisgrenze von äußeren Fakten zu inneren Deutungen. Diesen Ausweis darf man dem unter Esoterikverdacht geratenen Esoterikforscher gegenüber seinen Historikerkollegen wohl gut und gerne ausstellen. Soviel Arbeitskraft und Akribie für sowenig Sinnstiftung und Selbstverwirklichung ist eine einzige Hommage an die Historikerzunft, im weiteren Sinne an das im »existentiellen Sinne sinnlose Unternehmen« Wissenschaft und im weitesten Sinne an die protestantische Arbeitsethik unserer (Post-)Moderne. Die Anthroposophen dürfen Helmut Zander für seinen Fleiß und seine selbst so geschätzte »hochinnovative Handarbeit« von Quellensammlung, -sichtung, -lektüre, -kritik und -analyse der Fakten von Herzen danken. Doch sie müssen ihm, seiner heuristischen Gebundenheit eingedenk, geistig in seiner Deutung gewiss nicht folgen. Sie können sein Werk Anthroposophie in Deutschland als Symptom der gegenwärtigen Wissenschaftskultur in Deutschland mit Erkenntnisgewinn lesen. Und wenn sie darüber hinaus die von Zander gezeichneten eigenen Schattenseiten unter Berücksichtigung seiner Tendenz daraufhin überprüfen, ob und inwieweit ein Außenstehender ihnen die Umrisse des anthroposophischen »Doppelgängers« angedeutet habe, so können sie auch aus dieser Auseinandersetzung nur lernen. Summa summarum lässt sich sagen, dass die Anthroposophen ein von der akademischen Wissenschaft anerkanntes Werk ihrer Geschichte heute nicht ohne deren Kritik, Abgrenzung bis Leugnung ihres eigenen Selbstverständnisses bekommen können. Aus dem Dilemma zwischen anthroposophischer und akademischer Identität ist so schnell kein (zumindest kein kompromissloser) Ausweg in Sicht.

Im Licht der Selbstbeschreibung

So wie es Zanders Forschungs-»Absicht war, Steiner über die Schulter zu schauen«, so soll nun der Versuch gewagt werden, Zander selbst bei der Forschung über die Schulter zu schauen. Dies wirft die prinzipielle Frage auf, wie Zander erklärt, dass neue Erkenntnisse überhaupt zustande und in die Welt kommen, mithin welche Innovationstheorie er favorisiert, weil selbst praktiziert. »Solche Innovationen finden natürlich nicht im Kopf des Wissenschaftlers allein statt«, meint Zander, »sondern immer in sozialen Netzen.« »Steiner sitzt da, wie eine Spinne in einem Netz von sozialen Kontakten, die er nutzt und deren Informationen er verarbeitet«, meint er. Zander sucht durch akribische Kontextualisierung nachzuweisen, »dass Steiner zeitgenössisches Wissen benutzt hat und keine anderen Quellen brauchte, als die, die seinen Zeitgenossen auch zur Verfügung standen.« Gemäß seinem Innovationsbegriff, wonach »eine neue Deutung oder eine neue Verknüpfung eine Innovation« sei, leugnet er mitnichten, dass Steiner zu neuen Erkenntnissen vorstieß, sondern ist der Ansicht, dass er dies auch ohne die Hilfe höherer Erkenntnisse tun konnte und tat. Mit der Faszination eines Naturwissenschaftlers verfolgt er den »Prozess der Amalgamierung und Transformation in Steines Denken«, ja dieses geradezu »mikroskopische Fortschreiten bei Steiner hin zu Innovationen.« »Ich glaube«, so Zander, »die Anthroposophen haben ein Problem, dieses mikroskopische Fortschreiten zu sehen, weil es ihnen nicht groß und nicht übersinnlich genug erscheint ... und Steiner selbst am Schluss suggeriert, das sei höhere Erkenntnis.« »Doch das ist«, so sagt er emphatisch, »hochinnovative Handarbeit.«

Zander verspürt nicht das intellektuelle Bedürfnis, Steiners Idee der sozialen Dreigliederung als Gedankenbau Fläche um Fläche abzuschreiten und in diesem Abschreiten die noch offenen Fenster und möglichen Lücken aufzudecken. Denn würde er diesen Rohbau auch nur möglichst genau skizzieren, so empfände er dies als einen geradezu »problematischen Deutungsüberschuss«. Er wolle keine neue Theorie der Theorie konstruieren, sondern »versuchen klarzumachen, wie Steiner Baustein auf Baustein setzt.« In »hochinnovativer Handarbeit« setzt Zander dabei selbst die in emsiger Forschung zusammengesammelten Fakten Baustein für Baustein in das Baukastensystem seiner Kapitelgliederung ein. Dass er mit seiner Darstellungsstrategie durch die Hintertür doch wieder eine bestimmte, nun eben sehr fragmentierte Theorie einführe, sei nicht seine Absicht. Es ist aber die unliebsame Konsequenz des unmöglichen Versuchs, Deutungen abzuschütteln. Denn wer ihnen nicht ins Angesicht schaut, den überfallen sie von hinten. Wer Rudolf Steiners Gesamtausgabe mit mechanistischem Verstand wie Legosteine auseinandernimmt und zwischen vier Buchdeckel wieder in Eigenregie und »hochinnovativer Handarbeit« zusammensetzt, der muss sich nicht wundern, wenn er einen Denker nicht immanent versteht, der auf dem organischen Niveau Goetheanistischer Naturwissenschaft die Startbahn und auf dem metaphysischen Niveau Hegel’scher Hermeneutik die Landebahn zu seinen geistigen Höhenflügen hat. Da helfen der Spinne im Netz auch noch so viele soziale Kontakte nicht zu ihrem Deutungsfang. Denn auf ihn trifft zu, was Goethe dem Geist, der sich im Laufe des Faust als Mephistopheles erweist, in den Mund legte: »Du gleichst dem Geist, den du begreifst. Nicht mir.«

Akademische Geschichtswissenschaft versus anthroposophische Geisteswissenschaft?

Zanders Wertschätzung der Frauenemanzipation, der Demokratie und des zivilgesellschaftlichen Engagements und die Abwertung von Steiners sozialer Dreigliederung durch seine arkan-faschistische Lesart stellen ihn in die Wertegemeinschaft der deutschen Zeitgeschichte hinein. Der heuristische Wert, Fakten und Deutungen trennen und die »geistige Welt« programmatisch nicht er- und folglich auch nicht anerkennen zu können, stellt ihn in die Wertegemeinschaft der Wissenschaftsgemeinschaft hinein. Und die Wertschätzung von Steiners »hochinnovativer Handarbeit« und die Geringschätzung von Kopf- genauer: ganzheitlicher Erkenntnisarbeit entspricht Zanders ganz persönlicher Sicht- und Wertungsweise. Aber darf ein Wissenschaftler überhaupt Werturteile fällen? Darf er überhaupt Werte in seine Analyse hineintragen? Max Weber (1864-1920), ein Zeitgenosse Rudolf Steiners, in dem sich die Verstandesseele kaum überbietbar luzide in bildungsbürgerlicher Diktion auf den Begriff der »Rationalisierung« brachte, forderte 1917 in seinem Vortrag Wissenschaft als Beruf, die Professoren mögen ihre politischen Werte, ob liberal, konservativ oder sozialistisch, den Studenten gegenüber nicht dergestalt ex cathedra verkünden, wie der Pfarrer von der Kanzel den Gemeindemitgliedern gegenüber seine religiösen Werte, ob katholisch, evangelisch oder calvinistisch, predigt. Alle Werte, die sich in die Wissenschaft einmischten, verdürben die Analyse, und seien deshalb aus dem wissenschaftlichen in den politischen Raum zu verbannen. So predigte der »Wissenschaftspapst« Max Weber ex cathedra den Wert der Wertneutralität widersprüchlicherweise nun selbst in der Wissenschaft für die Wissenschaft. Dieser Wertestandard der Wertneutralität gilt als Diskursregel noch heute und also auch für Helmut Zander.

Es entbehrt kaum einer gewissen Ironie, dass Zander, der mit philologisch-kritischer Akribie die Vorworte verschiedener Auflagen von Steiners Schriften miteinander verglich, genau da einen blinden Fleck aufweist, wo Steiner die Wissenschaft a priori hinwies hinzuschauen: auf die eigenen Voraussetzungen und Wertannahmen. In dem kurzen Unterkapitel »Elemente des theosophischen Wissenschaftsverständnisses« hätte die Darstellung von Steiners Dissertation Wahrheit und Wissenschaft und ihre Fortsetzung in der Philosophie der Freiheit eigentlich ihren Platz. Doch die beiden wissenschaftstheoretischen Schriften fehlen hier, weil Zander sie im Zuge »harter Textkontextualisierung« in die philosophische Frühphase und nicht in die späte Praxisphase einordnet, in welcher sich Steiner gehäuft in Vorträgen über die Wissenschaft geäußert hat. Jenen Spiegel, den Steiner als junger Wissenschaftler der neukantianischen Wissenschaft seinerzeit vorhielt, ist in dem Spiegel, den die reife Wissenschaft den Anthroposophen heute vorhält, ausgeblendet. Aber genau in diesen beiden ungleich großen Spiegeln würden sich die Blicke der akademischen Geschichts- und der anthroposophischen Geisteswissenschaft brechen und auf ihr innerstes Selbstverständnis herunterbrechen.

In Wahrheit und Wissenschaft zeigt Steiner die seit Kants Kritik der reinen Vernunft in der Wissenschaft künstlich gezogene Erkenntnisgrenze zwischen äußerer Objektivität und innerer Subjektivität auf. Während die Wissenschaft an der Materie im weitesten Sinne als einzig empiriefähigem Medium festhält und die Deutungen und Werte herauskehrt, erweiterte Steiner den Empiriebegriff von den Dingen über die Vorgänge zu den Wesen. Ihn interessiere, wie er in seiner Autobiographie später sagen wird, was sich die Dinge, Vorgänge und Wesen in der Welt zu sagen haben. Um das zu beobachten, suchte er jenen geistigen Standpunkt zu finden, von dem aus er voraussetzungslos Forschung betreiben kann, weil er seine Erkenntnisvoraussetzungen innerlich restlos durchschaut.

Die Historiographie als Forschungssubjekt kann sich über die Anthroposophie als Forschungsobjekt beugen, sie kann die Ausflüsse dokumentieren und die Zuflüsse rekonstruieren, allein die Quellen, Steiners Forschung in der »geistigen Welt«, aus der die Anthroposophie erflossen ist, darf sie nicht in den Blick nehmen. Ihre methodische Selbstbeschränktheit verbietet ihr, der zentralsten Selbstdeutung der Anthroposophie ins Auge zu blicken. Denn sie würde in der Konsequenz die Selbstleugnung ihrer eigenen geistigen Quellen nicht mehr verleugnen können. Im medizinischen Bild gesprochen: sie würde sich durch die Anthroposophie den grauen Star zu ihrer Selbsterkenntnis stechen lassen. Hierin, im methodischen Verkennen des Gegenübers, liegt die eigentümliche Tragik der Begegnung zwischen Historiographie und Anthroposophie.

Auf dem Markt der Methoden

Die deutsche Geschichtswissenschaft setzte im 19. Jahrhundert mit der Herausbildung der philologisch-kritischen Methode Wissenschaftsstandards und besaß durch den Historismus Weltruhm. Die französische Historikerschule der Annales d´histoire économique et sociale bereitet die methodische Pluralisierung durch die interdisziplinäre Anverwandlung von Ökonomie, Soziologie, Ethnologie und Psychologie vor, die heute weltweit vorherrscht. Jeder Historiker darf sich mittlerweile auf dem Markt der Methoden diejenigen aussuchen, die der Struktur und dem Wesen seines Forschungsgegenstandes und nicht zuletzt seinem subjektiven Denkstil am besten entsprechen. Helmut Zander bedient sich unter anderem der angelsächsischen intellectual history und Max Webers Charisma-Konzepts zur biographischen Einkreisung Steiners. Stellten die Anthroposophen ihren Gründer schon ins Zentrum ihrer korporativen Selbst- und Geschichtsbeschreibung, so hält sich Zander zugute, diese Perspektive systematisch gegen den Strich zu bürsten. Mit der Sensibilität einer Kratzbürste stellt er dabei Steiner als autoritären Übervater selbst ins Zentrum seiner Analyse und entgeht dadurch kaum der Personalisierungsfalle. Dem hätten die Methoden der von der Annales-Tradition entwickelten Mentalitätsgeschichte ebenso subtil wie klärend entgegenwirken können. Das von Bodo von Plato herausgegebene Biographielexikon Anthroposophie im 20. Jahrhundert bietet zwar in anthroposophischer Tendenz, aber gleichwohl bereits einen bilderbuchartigen Materialfundus, um die Anthroposophen aus ihrem Selbstverständnis und ihrem Verhältnis zu Steiner im Kontext des Wilhelminischen Kaiserreichs und der Weimarer Republik differenziert zu betrachten. Dann würde sich vielleicht auch klären, ob Steiner wirklich nur als charismatische Führungsgestalt agierte oder ob nicht die Anthroposophen in einer Zeit, da man Marie Steiner wie die Frau des Pfarrers oder Professors mit »Frau Dr.« ansprach, selbst noch durch und durch hörig respektive autoritär dachten, fühlten und handelten. Dann würde sich, wie oben anhand der Werteanalyse gezeigt, auch klären, dass Helmut Zander Rudolf Steiner zwar faktisch im 19. Jahrhundert kontextualisiert, aber hermeneutisch aus seiner Sozialisation des späten 20. Jahrhunderts heraus deutet.

Die Anthroposophen können Zander gleichwohl auch hier dafür danken, dass er den Mangel an offener Diskurskultur, an demokratischen Regeln und an Konfliktmanagement unmissverständlich kritisiert. Sie könnten daraus das Fazit ziehen, exoterisch eine faire Streitkultur zu üben, die sie um den esoterischen Standard ergänzen: Nur wer Willens und in der Lage ist, sich in die Weltanschauung seines Gegenüber so hineinzuvertiefen, als wäre es die eigene, kann an dem Diskurs partizipieren. Das gilt auch und zuförderst für die wissenschaftliche Weltanschauung Helmut Zanders. Zum Schluss des Gesprächs und längst off the records gibt Zander mir für die Anthroposophen vielleicht den wichtigsten Hinweis mit auf den Weg: Wenn sich die Anthroposophen für die Wissenschaft öffnen, dann laufen sie Gefahr, ihre eigene Identität zu verlieren. Das jedenfalls könnten sie aus der Geschichte der katholischen Theologie lernen, die ihr vornehmstes Forschungsgebiet auf dem Altar des »methodischen Atheismus´« opferte: die geistige Welt.

Eine praktische Bilanz

Das Werk Zanders setzt in der Wissenschaft und öffentlichen Debatte zu sehr Standards, als dass die Anthroposophen sich darüber in einer planlosen, emotional geführten Debatte verzetteln sollten. Was nun nottut, das ist nicht auf eine Stellungnahme des Vorstands der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft oder der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland zu warten, wenngleich diese gewiss willkommen wäre, aber doch wenig wissenschaftlich sein könnte, sondern von dem Dornacher Vorstand ein Forschungsprojekt mit fünf bis zehn wissenschaftlichen Mitarbeitern für einen begrenzten Zeitraum mit folgendem Ziel einzusetzen: 1. Helmut Zanders Werk in der akademischen Wissenschaftslandschaft, d.h. ihren methodischen Vorgaben, hermeneutischen Grenzen und marginalen Einrichtungen zur Esoterikforschung zu kontextualisieren. 2. Helmut Zanders persönliche wie wissenschaftliche Tendenz explizit zu machen und ebenfalls im Deutungsrahmen der deutschen Zeitgeschichte zu verorten. Fernerhin die Selbstdeutungen Rudolf Steiners und der Anthroposophen, wo wissentlich oder unwissentlich die historische Anthropologie missachtet wird, zu rehabilitieren. 3. Die sachlichen Fehler primär anhand von Steiners Gesamtausgabe, sekundär anhand von Erinnerungsberichten und tertiär anhand von Sekundärliteratur Kapitel für Kapitel richtigzustellen.

An der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft bestehen Fachsektionen, die nicht nur esoterische Geisteswissenschaft, sondern auch exoterisch wissenschaftliche Forschung betreiben können und sollen! Fernerhin gibt es die Forschungsstelle Kulturimpuls, die informell als historische Sektion fungiert und in der Lage wäre, die Leitung der Kommission zu übernehmen. Und schließlich es gibt die Kenner der Gesamtausgabe! Es ist an der Zeit, dass die Anthroposophen all diesen Sachverstand aufbieten! Nicht, um dem verdienstvollen Anthroposophie-Historiker Helmut Zander nun endlich einmal eins auszuwischen. Nein, um diskursfähig zu werden – nach innen hin über das anthroposophische Selbstverständnis und nach außen in die Wissenschaft und Öffentlichkeit hinaus!

Von Rahel Uhlenhoff 

Rahel Uhlenhoff, geb. 1979 in West-Berlin, Grundstudium der Anthroposophie an der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft am Goetheanum in Dornach, Studium der Philosophie und Geschichtswissenschaft an der Freien Universität Berlin, Initiatorin der Bürgerinitiative »Bedingungsloses Grundeinkommen«.